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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Da hörte er einen leisen Schritt und die kleine rosige Hand seiner Schwester legte sich ihm auf die Schulter.

„Hier steckst Du, Army? Wir wollen zu Tische gehen. Komm hinunter, Army! Du mußt ja nachher bald fort, und ich habe Dich den ganzen Morgen noch nicht gesehen.“

Er zog das junge Mädchen an sich. „Schau mich einmal an, Nelly!“ bat er, und hob mit der Hand das Köpfchen ein wenig in die Höhe, „bist Du fröhlich oder bist Du mir noch böse?“

Ihre Augen feuchteten sich, als sie dem Bruder in’s Gesicht sah, aber sie schüttelte lächelnd den Kopf.

„Böse? Nein, o nein! Aber komm doch – es ist so kalt hier.“

Er nahm ihre Hand, und sie schritten der Thür zu; ehe er sie schloß, wandte er sich nochmals zu dem Bilde um.

„‚Darumb nimb war, wasz für Haar! Ist solches roth, hatz groß Gefahr‘,“ flüsterte er vor sich hin. – –

Kaum eine Stunde später stand die alte Sanna droben an einem der Fenster des Corridors; sie blickte dem scheidenden Army nach. Er hatte Abschied genommen von der weinenden Mutter; nun ging er eben über den Schloßhof, und Nelly folgte ihm im schlichten Mäntelchen; sie hatte es sich nicht nehmen lassen, dem Bruder nahe zu sein bis zur letzten Minute des Abschiedes.

„Ganz die Großmutter!“ murmelte die alte Sanna vor sich hin, „das Herz lacht Einem, wenn man ihn nur anschaut.“ Sie hielt sich die Hand über die Augen, um besser sehen zu können. „Es wird ihm nicht fehlen,“ dachte sie weiter, „er kann anklopfen wo er will: die Reichste, die Schönste wird sein, und solch Malheur, wie sein Vater hatte, wird ihn doch nicht verfolgen. O, wenn meine Baronin noch erleben könnte, daß hier im Schloß wieder ein fröhliches glänzendes Leben aufblüht! Sie thäte noch einmal jung werden und schön. O Du blutiger Heiland, wie wollte ich Dir auf den Knieen danken dafür!“

Indessen schritten die Geschwister die alte Lindenallee hinunter; es war ein wunderbar schönes Winterbild, das vor ihnen lag. Unten, wo die Allee endete, schimmerten die weißen schneebedeckten Berge herüber, von den Bäumen wie in einen Rahmen gefaßt; seitwärts blickten die Häuser des Dorfes mit ihren beschneiten Dächern hervor; fast aus jedem Schornstein stieg eine Rauchsäule kerzengerade in die kalte Winterluft, und zur andern Seite zog sich der Wald hin im herrlichen Schmuck des Anhanges; über Weg und Steg lag eine blendend weiße Decke gebreitet – todtenstill war es in der Natur; nur ein Schwarm Krähen zog mit heiserem „Krah! Krah!“ von den Bäumen empor und stiebte den weißen Schmuck der Aeste ab, der nun langsam in glitzerndem Gefunkel zur Erde schwebte. Und über dem Ganzen lag der rosige Duft der untergehenden Sonne, der in der Ferne in einem wundervollen Violett verschwamm.

Die Blicke des jungen Mannes schweiften über die anmuthige Landschaft.

„Sieh, Nelly,“ sagte er, „das Alles, soweit Dein Auge reicht, war einmal unser.“

„Auch die Papiermühle?“ fragte die Kleine und deutete hinüber zu dem schiefergedeckten Giebel derselben.

„Die Mühle selbst nicht, aber ein ansehnlicher Theil des Grundbesitzes. Großvater hat es dem Vater des Müllers verkauft, als er sich einmal in Verlegenheit befand – so erzählte mir Großmama. Der Mann geht jetzt stolz zur Jagd, während wir –“ er fuhr sich mit der Hand über die Augen; dann lachte er und begann zu pfeifen er wollte nun einmal nicht grübeln.

Am Gitterthor des Parkes wandte er sich noch einmal und sah die lange Allee zurück; dort schimmerte das mächtige Portal; die Stufen der breiten Freitreppe waren verschneit, und der Schnee war hoch hinaufgeweht gegen die massiven Flügelthüren. Märchenhaft schön trat das Schloß hervor, übergossen von der jetzt intensiv rothen Gluth der sinkenden Sonne; die Fenster leuchteten wie flüssiges Gold zu dem jungen Manne hinunter, genau so golden und rosig wie die Zukunftsträume, die sich in seinem Herzen entfaltet hatten.

„Es muß hier wieder anders werden,“ sagte er, „es muß; ich will es.“ Er wandte sich und folgte seiner Schwester.

Schweigend gingen sie neben einander her; endlich stand der junge Officier still und sah nach der Uhr.

„Weißt Du, Schwesterchen,“ sagte er, „ich muß rasch zuschreiten, will ich die Post nicht versäumen; kehr’ Du um! Du machst Dir nur kalte Füßchen in dem tiefen Schnee; leb’ wohl, Kleine, und grüße mir Alle noch einmal herzlich!“ Er beugte sich nieder und küßte ihr den frischen Mund. „Laß Dir auch die Zeit nicht gar zu lang werden in dem alten einsamen Schloß!“ fügte er hinzu und sah sie fast mitleidig dabei an.

Sie schüttelte den Kopf. „O nein, ich habe ja Lieschen.“

Sie standen gerade dort, wo der Weg, auf dem sie gekommen, in die Landstraße einbiegt. Drüben führte zwischen Tannen ein Weg nach der Papiermühle und mündete ebenfalls an dieser Stelle; die Straße senkte sich ziemlich steil zum Dörfchen hinunter, und eine Linde streckte ihre Zweige über eine verschneite Steinbank aus. Vom Dorfe her tönte jetzt deutlich ein Posthorn. „Weil ich nun scheiden muß, gieb mir den Abschiedskuß! Mädel ade, Scheiden thut weh,“ sang, die Melodie nachahmend, eine helle Kinderstimme jubelnd und neckend in die Welt hinaus, und gleich darauf trat ein junges Mädchen hinter den Tannen hervor. Sie stutzte, als sie die beiden Gestalten dort erblickte; über das kindliche Gesichtchen zog einen Augenblick eine dunkle Röthe, und ein paar tiefblaue Augen senkten sich wie erschreckt zur Erde, aber dann schritt sie gleich näher, und der liebliche rothe Mund lächelte, daß sich zwei herzige Grübchen in den Wangen bildeten.

„Ach, Nelly,“ rief sie, „wie schön, daß ich Dich treffe! Und Du, Army,“ fragte sie kindlich und ohne eine Spur von Scheu, „willst Du schon wieder fort und bist nicht einmal bei uns in der Mühle gewesen?“

Der junge Officier war dunkelroth geworden, als er die blauen Augen auf sich gerichtet sah und die Hand ergriff, die sie ihm nach Kindesart hinhielt. Er war noch nicht weltgewandt genug, um eine Entschuldigung zu erfinden; sein Lächeln verschwand vor dem köstlich rosig angehauchten Gesichtchen, das fragend und vorwurfsvoll zu ihm emporblickte.

„Army muß ganz plötzlich abreisen,“ sagte Nelly, „sonst –“ sie stockte, es war ihr unmöglich, dem arglosen Kinde etwas vorzulügen; sie hätte weinen mögen vor Scham und sah wie hülfesuchend auf ihren Bruder. Aber schon die wenigen Worte genügten dem jungen Mädchen. „Guter Army,“ sagte sie ganz beruhigt, „ich hatte Dich schon im Verdacht, Du würdest gar nicht mehr zur Mühle kommen; ich wollte eben einmal zu Nelly gehen,“ – sie lachte, daß wieder die Grübchen in den Wangen erschienen – „um nachzusehen ob es wahr ist, was die Muhme behauptet, nämlich daß Du stolz geworden bist. Nun aber kann ich sie auslachen, gelt? Du wärst heute oder morgen doch gekommen,“ sagte sie treuherzig.

Er sah zu ihr herüber, wie in Gedanken verloren. „Wie Du groß geworden bist!“ sagte er dann und ließ seine Augen über die schlanke Gestalt gleiten. Lieschen war wirklich fast so hoch emporgewachsen, wie er selbst; sie sah so anmuthig aus in dem blauen mit Pelz besetzten Sammetjäckchen; plötzlich wurde sie dunkelroth unter seinem Blick und fragte rasch:

„Willst Du mit der Fünf-Uhr-Post fort? Dann mußt Du eilen, Army; ich freue mich, daß ich Dich doch noch als Officier gesehen habe.“ Sie hielt ihm wieder die Hand hin, und wieder legte er die seine hinein; er lachte jetzt auch; es kam etwas wie Erinnerungen aus der Kinderzeit über ihn.

„Den Letzten, Army!“ rief sie dann, schlug ihn leicht auf die Schulter und lief eilig davon. Einen Moment stand der junge Mann, als wolle er, wie früher, ihr nacheilen, um ihr „den Letzten“ wieder zu geben, wie sie es jedesmal gemacht hatten, wenn sie vom Schlosse oder er von der Mühle fortgegangen war – sie hatten sich so gern damit geneckt. Aber dann zog er rasch seinen Paletot über den Armen zusammen, nickte noch einmal zurück und ging. Er sah sich nicht wieder um nach den beiden Gestalten dort, die ihm Arm in Arm nachschauten; er mußte ja eilen.

Unter der alten beschneiten Linde wurden ein Paar süße blaue Augen feucht, und eine Stimme, aus welcher der Uebermuth plötzlich so ganz geschwunden war, flüsterte ein leises „Lebe wohl!“

Auch Nelly weinte, und als seine Gestalt hinter den Häusern des Dorfes verschwand, da fragte sie ängstlich: „Nicht wahr, Lieschen, Du bist dem Army nicht böse?“

Aber Lieschen antwortete nicht; sie schüttelte nur das Köpfchen und ging ganz stumm, ganz schweigsam neben der Freundin her. Die rosige Gluth des Himmels war verblichen, und nur ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 670. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_670.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2016)