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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

ein Briefchen aus der leinenen Tasche, die sie unter der Schürze trug, und reichte es der Liese, die es rasch öffnete und las.

„Denk Dir, Muhme,“ rief sie überrascht, „auf dem Schlosse bekommen sie Besuch! Nelly freut sich schrecklich: eine Cousine ist es, Blanka von Derenberg, und Army kommt auch auf Urlaub, und ich soll sie dann recht oft besuchen.“

„So?“ fragte die alte Frau.

„Ja, die Nelly schreibt, sie hätte es mir selbst erzählt, sie habe aber keine Zeit heut zu kommen, denn sie müsse helfen die Zimmer in Stand setzen.“

„Sie haben’s gewiß eben erst erfahren?“ meinte die alte Frau.

„Ach nein,“ sagte Liesel, „der Army ist ja deswegen hier gewesen, schreibt die Nelly.“

„Der Army ist hier gewesen?“ fragte die Muhme und sah erstaunt zu dem jungen Mädchen hinüber, das plötzlich dunkelroth geworden war; „wann denn?“

„An Nelly’s Geburtstage,“ klang es leise zurück.

„Ei sieh einmal! Und davon hast Du kein Wort erzählt, Liesel? Du sagst mir doch sonst Alles!“ Es klang etwas wie Angst aus der Stimme der Alten. „Sag einmal, Liesel, warum hast’s verschwiegen?“ fragte sie dann rasch noch einmal.

„Weil ich es nicht wieder hören mochte, wenn Du sagst, er sei stolz und hoffährtig geworden –“

„Und warum willst Du das nicht hören, Liesel?“

„Weil es nicht wahr ist, weil er nur nicht Zeit gehabt hat – sonst wäre er gekommen.“

Sie brach plötzlich in Weinen aus; die ganze getäuschte Erwartung von gestern floß mit diesen bittern Thränen aus dem Herzen des jungen Mädchens.

„Aber Liesel, meine Güte, was soll denn das heißen? Bist gar nicht gescheidt, daß Du um so etwas weinst! Was um Alles in der Welt geht Dich der Army an?“ Die alte Frau sprach ärgerlich, aber man merkte es ihr an, es war auf einmal eine Centnerlast auf ihr Herz gefallen. „Ich meinte, es könnte Dir ganz gleichgültig sein,“ fuhr sie fort, „was ich vom Army rede. Deine Wege und seine Wege laufen nicht mehr neben einander wie in Eurer Kindheit; er ist jetzt ein großer Herr und Du bist ein erwachsenes Mädchen – was soll man davon denken, daß Du so anfängst zu weinen?“

Lieschen aber warf sich der alten Frau um den Hals. „Ach, Muhme, sei nicht böse!“ schluchzte sie, „es ist recht kindisch von mir, aber ich kann’s nun einmal nicht hören, wenn Du über die im Schlosse redest; sieh, wir haben immer so hübsch zusammen gespielt, und es kommt mir immer vor, als wischtest Du unbarmherzig die schönen Erinnerungen aus, wenn Du auf Nelly und Army böse bist.“

Die Muhme schüttelte den Kopf. „Kind,“ sagte sie dann, „wenn Du wüßtest, was für bitteres Leid von da droben über unser Haus gekommen ist!“

„Können denn aber Army und Nelly etwas dafür?“

„Nein – aber –“

„Du sagst doch selbst immer, man soll seinen Feinden vergeben.“

„Es ist richtig, aber es vergißt sich ein Unrecht zu schwer, wenn’s einem so nahe ging, wie –“

„Ach, laß doch gut sein, Muhme!“ bat Lieschen schmeichelnd und sah unter Thränen lächelnd in ihr Gesicht; „ich will nicht wieder so dumm weinen, aber gelt, Du schiltst auch nicht mehr? Ich komme jetzt auch mit hinunter und helf Dir die Tauben schön braun und knusprig braten, wie sie der Vater gern ißt. Ja? Und hast Du schon Radieschen aus dem Garten geholt oder soll ich es thun?“ Sie bat und schmeichelte so lange, bis die Alte ihr einen Kuß auf den Mund drückte, und als sie dann über den dämmrigen Vorsaal des obern Stockes schritten, auf welchem mächtige alte Wäsch- und Kleiderschränke standen, schaute die Muhme unwillkürlich zu einer der Thüren hinüber, und ein banger Seufzer begleitete den Blick.

„Das ist der Lisett ihr Stübel gewesen,“ sagte sie mit einen gewissen Nachdruck im Tone.

Das junge Mädchen nickte und sprang eilig die Treppe hinunter. Sie hatte zwar schon öfter etwas von Lisett gehört; sie wußte, daß es ihre Großtante gewesen, und die Muhme sprach den Namen immer mit einer gewissen Feierlichkeit aus, aber da man ihr nie Näheres mittheilte, so interessirte es sie auch nicht, daß sie dort oben gewohnt. Sie schämte sich aber jetzt, daß sie so kindlich geweint vor der Muhme; was sollte diese nur eigentlich glauben? Am Ende gar, daß sie den Army – –? Sie wurde dunkelroth und dachte es nicht aus, sondern fing an zu singen, während sie in die Wohnstube lief, um Onkel und Tante Pastor zu begrüßen.

Die Muhme aber folgte ihr mit bangen Blicken. „Herr des Himmels,“ murmelte sie, „verschone uns in Gnaden mit solch einem zweiten Unglück! Denn ein Unglück wird’s; es ist noch nichts Gutes von da droben gekommen, seit die Alte auf dem Schlosse Athem holt. Herr Gott, behüte die Gedanken des Mädchens! Sie weiß es selbst noch nicht, aber es ist wahr, was ich da gehört – sie hat ihn gern, den Army. O du lieber Gott, wie soll man da schon helfen?“

Und die Muhme grübelte und grübelte, während sie das Abendbrod in der blitzblanken Küche rüstete, und wenn Lieschens helle Stimme einmal aus der Wohnstube her in ihr Ohr drang, dann schüttelte sie mit dem Kopfe, und beim Abendessen betrachtete sie verstohlen das lachende Gesichtchen, von dem die letzten Thränenspuren verschwunden waren.

Das war aber auch eine vergnügte Tafelrunde, die in dem kühlen Eßzimmer um den mit schneeweißem Damast gedeckten großen runden Tisch saß. Der Hausherr oben an mit seinem wohlwollenden, von einem großen Vollbarte umrahmten hübschen Gesichte, der Herr Pastor, dem man das Behagen ansah, mit welchem er bei dem Jugendfreunde zu Gaste saß, und Rosine, seine kleine runde Frau, die immer vergnügt war, obgleich sie zu Hause eine ganze Reihe Kinderchen hatte, die wie die Orgelpfeifen auf einander folgten, und für die sie oft nicht wußte, wo sie die neuen Röckchen und Jäckchen hernehmen sollte. Selbst an den Donnerstagabenden auf der Mühle, wo sie sich von den Strapazen der Woche erholen wollte, vermochte sie kaum auf dem Sopha neben der Hausfrau zu sitzen, ohne ein Kinderstrümpfchen in der Hand, an dem sie eifrig strickte, und nicht selten legte dann Frau Erving ihr lächelnd ein ganzes Paket fertiger Strümpfe in den Schooß: „So, liebe Pastorin, da habe ich ein Bischen geholfen; nun lassen Sie es heute Abend aber auch einmal gut sein mit dem Stricken und singen uns ein Lied!“ Und dann sang die Frau Pastorin mit ihrer leisen hohen Stimme irgend ein einfaches Liedchen. Nachher aber griff sie doch mechanisch wieder zum Strickzeuge und sagte, selbst darüber lächelnd: „Laßt es gut sein, Minnachen! Ich kann einmal nicht anders.“ Die Hausfrau befand sich heute Abend ganz besonders wohl und erzählte sich mit Rosine lange Haushalts- und Wirthschaftsgeschichten, und Lieschen neckte sich mit dem Vater und dem Herrn Pastor herum; nur die Muhme war still und hatte heute nicht einmal ein Lächeln für die Lobsprüche, die ihrer Kochkunst galten; sie nahm kein Schlückchen von dem duftenden Moselwein, der in dem grünen Römer so verlockend vor ihr stand.

„Weißt Du auch, Pastor,“ fragte der Hausherr, „daß ich jetzt einen Sohn von unserem alten Schulfreunde Selldorf hier habe?“

„Von Selldorf einen Jungen? Ei, was Du sagst! Wie ist es dem denn eigentlich ergangen?“

„Der hat eine große chemische Fabrik in Thüringen.“

„Ei, was Tausend, und der Junge soll –?“

„Der Junge soll einmal seine Nase in mein Geschäft stecken, weil der Alte beabsichtigt, eine Papierfabrik, vulgo Lumpenmühle anzulegen – hat übrigens Glück gehabt; er kam als Buchhalter in das Geschäft, das er jetzt selbst besitzt, heirathete das einzige Töchterchen seines Principals und war ein gemachter Mann; ist ein gescheidter Kopf und ein durch und durch reeller Charakter. Mußt Dir übrigens den Jungen einmal ansehen, frappant wie der Alte damals aussah, dieselbe blonde Lockenperrücke, dieselben Augen. Ich dachte, ich wäre wieder jung geworden, als er so vor mir stand.“

„Wo hast Du ihn denn?“

„Drüben im Geschäftshause. Ich halte ihn nicht um ein Haar anders wie die übrigen jungen Leute; heut Mittag hat er hier gespeist, aber damit ist’s gut – Du weißt, ich lasse mich nicht gern stören im Kreise meiner Familie.“

Der Pastor nickte: „Muß ihn mir wirklich einmal ansehen. Was sagt denn aber Lieschen dazu?“ fragte er scherzend das junge Mädchen.

„Gar nichts, Onkel,“ erwiderte sie.

„Das ist wenig,“ lachte dieser. „Aber apropos, da fällt

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