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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

oder sonst, bei Gott! soll der Herr nicht nach Deutschland, sondern in die Hölle reisen.“

Ich hatte Lust, ihm für die Beschimpfung an die Kehle zu springen; es wäre Thorheit gewesen; es hatte sich ein Kreis von Menschen um uns gebildet. Pauline sah hülflos umher.

„Antoine,“ sagte sie, „ich habe Alles gethan was Ihr wünschtet, warum seid Ihr nicht zufrieden?“

Parbleu! dann hätten Sie Ihr Versprechen halten und kein Stelldichein geben sollen, aber kurz und gut: sind Sie entschlossen oder nicht?“

„Es war lediglich meine Schuld,“ erwiderte ich, „das Fräulein wußte von Nichts. – Pauline,“ sagte ich zu dieser „thun Sie nichts, was Sie nicht vor Gott verantworten können!“

Sie gebot mir Schweigen durch einen raschen, flehenden Blick.

„Ich will es nicht, weil ich eine freie Bürgerin bin und nicht gezwungen werden will.“

„Gut, mein Täubchen! und ich bin ein Bürger und Patriot; ich diene dem Vaterlande. Bürger!“ wandte er sich an die Umstehenden, „hier ist ein Preuße, ein Spion. Er hätte dem Decrete zufolge schon längst über die Grenze sein sollen, aber er zieht es vor, hier zu bleiben und Mädchen zu bethören.“

„Preuße! Spion!“ heulte die Menge. „In die Seine mit ihm!“

„Ja, in die Seine!“ wiederholten hundert Stimmen.

Pauline richtete sich hoch auf, und mit vibrirender Stimme rief sie aus:

„Er lügt! Dieser Mann ist weder ein Spion noch ein Verführer, er ist ein Ehrenmann und will nach seinem Lande abreisen, ich bürge für ihn.“

„In die Seine! in die Seine!“ schrie die Menge, die sich immer mehr vergrößerte, „werft das Mädchen hinterdrein.“

Der kritische Moment war gekommen. Ich bereitete mich vor, den Ersten, der sich nähern würde, mit einem Faustschlage zu empfangen; auch Paulinen näherten sich einige rohe Gesellen. Ihr Bruder trat vor diese hin:

„Es ist meine Schwester und eine Patriotin.“

„Sie soll es beweisen,“ lautete die Antwort. „Sie soll rufen: ‚Es lebe Frankreich! Nieder mit den Preußen!‘“

Mit lauter, fester Stimme wiederholte sie die Worte, und die Wuth der aufgeregten Menge wandte sich wieder gegen meine Person. Die Rufe: „An die Laterne! In die Seine mit dem Spion!“ tobten wüst durcheinander.

„Hört mich, Bürger!“ rief nun Pauline. „Dieser Mann war mit Zustimmung meiner Eltern mein Verlobter, und ich habe ihn geliebt. Ich bin eine Tochter Frankreichs und habe dem Vaterlande das Opfer meiner Liebe gebracht. Ich habe ihm sein Wort zurückgegeben und thue es hiermit noch einmal öffentlich. Aber auch Ihr seid Franzosen und keine Barbaren. Ihr werdet den Mann in sein Land zurückgehen lassen, damit er seinen Landsleuten erzählen kann von dem Patriotismus der Frauen Frankreichs. Dann verspreche ich, daß ich mit meinen schwachen Armen beitragen werde zur Vertheidigung der Wälle unserer geliebten Vaterstadt, und mein Beispiel soll tausend Andere anfeuern und ermuthigen.“

„Gut gesprochen, bravo! Die Bürgerin soll leben! Laßt den Deutschen ziehen, begleitet ihn zum Bahnhofe!“ rief die Menge.

„Nehmen Sie einen Fiaker!“ sagte ein sehr fein gekleideter Herr höflich zu mir.

Ich dankte ihm mit einem Blicke, während das Auge unverwandt auf Paulinens schöner Gestalt ruhte. Ich konnte keinen Blick von ihr erhaschen.

In diesem Augenblicke wünschte ich, daß die Drohungen zur That geworden sein möchten. Ich wünschte, daß Pauline laut vor aller Welt, vor meinem Nebenbuhler, ihrer Liebe sich gerühmt und dann mit mir vereint das Unvermeidliche erduldet haben möchte. Sie kam mir vor wie eine Komödiantin. Sie ging und sah sich nicht einmal nach mir um; das füllte mein Herz mit Bitterkeit. Die Menge hatte sich zerstreut. Ich hielt einen leeren Fiaker an und nannte die Adresse meiner Wohnung, wo mein Koffer gepackt stand. Die beiden Gegner sahen mich abfahren. Es wurde kein Wort weiter gewechselt. –

Acht Jahre verflossen. Die Verhältnisse führten mich nach England, von wo aus ich häufig Besuche in der Heimath mache. Paris hatte ich jedoch bis jetzt immer vermieden.

Nun kam die Weltausstellung; das galt mir als Vorwand. Ihr allein sollte mein Besuch gelten; die Erinnerung aber an die holde Gestalt drängte sich zwischen alle meine Ausflüchte und Einwendungen. Wie, wenn sie doch vielleicht noch meiner harrte? Nach Paris also! – Und ich war nun wieder in Paris und fand die herrliche Stadt schöner, belebter, heiterer denn je, aber zugleich den Haß gegen uns Deutsche unvermindert; und jetzt eilte ich, trotz der häßlichen Erinnerung, mich nach Etienne Lefèvre zu erkundigen, und erfuhr, daß er auf einer Geschäftsreise begriffen sei und erst in fünf Tagen zurück erwartet würde. Ich mußte also warten und füllte die langsam schleichende Zeit mit Ausstellungsbesuchen.

Endlich war die Woche vergangen und mit Ungeduld erwartete ich den nächsten Morgen. Gegen neun Uhr befand ich mich an Ort und Stelle. Ich wurde zu einem finster aussehenden, bärtigen Manne geführt, der mich mit inquisitorischem Blicke maß.

„Kennen Sie mich noch?“ fragte ich.

„Jawohl, ich kenne Sie, obschon ich wünsche, daß ich Sie nie gekannt hätte; was wollen Sie von mir?“

„Es ist mein innigster Wunsch, Nachricht über das Ergehen Ihrer Schwester Pauline zu erhalten.“

„Ah, Sie wünschen dieselbe zu besuchen?“

„Wenn es möglich ist, ja.“

„Kommen Sie!“

Wir gingen. An der Porte Rapp angelangt, winkte er einem Kutscher, flüsterte ihm einige Worte zu und lud mich ein, den Fiaker zu besteigen. Er selbst folgte; dann fuhren wir zwanzig Minuten lang, ohne ein Wort zu wechseln. Vor einem großen Thorwege hielten wir an. Ich las: „Cimetière Montmartre“. Es überlief mich kalt – wir betraten einen Todtenhof. Ich hatte verstanden. Nach einer langen Wanderung zwischen Grabsteinen, Kreuzen, Gebüschen blieben wir stehen. Da war ein schönes Grab mit weißer Marmorsäule, deren goldene Inschrift lautete:

Pauline Lefèvre,
geboren den 17. Mai 1853
gestorben den 25. December 1870.

und auf der andern Seite:

Sie starb als Patriotin auf den Wällen von Paris, von einer Granate getroffen.

Mein Begleiter lehnte schweigend seine Schulter gegen den kalten Marmor, und ich sank auf die Kniee nieder; ich konnte meiner Bewegung lange nicht Herr werden.

„Reichen Sie mir die Hand,“ sagte ich alsdann, „hier über dem Grabe Derjenigen, die uns Beiden theuer war!“

„Es ist nicht nöthig,“ erwiderte er kurz, aber ohne Bitterkeit im Ton. „Ich gäbe zehn Jahre meines Lebens dafür, daß meine Schwester Sie nie gekannt hätte. Dann würde sie auch nicht da liegen,“ fügte er düster hinzu.

„Wie soll ich das verstehen? Erklären Sie sich!“

„Ich muß es wohl; es war Paulinens letzter Wunsch. – Nachdem Sie fort waren, wurde sie so still und in sich gekehrt, daß wir das Schlimmste befürchteten. Als die Deutschen Paris belagerten und wir auf den Wällen Dienst hatten, bezog sie ein Zimmer in der Nähe und besorgte unsere Mahlzeiten; kaum konnten wir sie verhindern, die Waffen zu tragen. Ich schalt sie oft wegen Mangel an Vorsicht, wenn sie sich den feindlichen Geschossen zu sehr aussetzte. Eines Tages – das Schießen war stärker als zuvor – kam sie nicht zur gewohnten Stunde. Ich litt Höllenpein bis zur Ablösung; dann suchte ich sie. Ich fand sie mit einem Granatensplitter in der Brust am Boden liegen. Ich trug sie in ein benachbartes Haus und wollte einen Arzt holen. ‚Es ist unnöthig,‘ flüsterte sie, ‚Etienne, verzeihe mir! Ich habe Euch betrogen; ich bin keine Patriotin; mein Herz gehört ihm; ich habe nie aufgehört, ihn zu lieben, über Alles bis zum Tode; Du sollst es ihm sagen, wenn er kommt, denn er wird kommen. Gott sei mit Euch Allen, mit der theuern Mutter und mit Frankreich.‘ Das waren ihre letzten Worte. Ich habe nicht mehr geglaubt, daß Sie kommen würden, nun Sie da sind, entledige ich mich meines Auftrages. Gott weiß, wie schwer es mir wird, denn sehen Sie, wir hassen die Deutschen.“

Er grüßte kalt, aber höflich, und ging. Ich rief ihn noch einmal an: „Und Antoine?“

„Er ist bei St. Quentin gefallen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 735. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_735.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)