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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Zimmer; das Abendroth warf seinen glühenden Schimmer durch die Fenster und erfüllte das Gemach mit rosiger Dämmerung, und allmählich verblich der purpurne Schein, und die grauen Schleier des Abends sanken verdüsternd herab. Der junge Mann trat zum Fenster und schaute unverwandt hinaus in die abendliche Landschaft, die Lippen wie im tiefsten Unmuth auf einander gepreßt, aber dann zuckte er zusammen; von droben her trafen Klänge sein Ohr. Hastig öffnete er das Fenster, und noch deutlicher schwebten sie jetzt zu ihm herunter, dort oben wurde der Faust-Walzer gespielt, so rhythmisch und schwungvoll, wie sie es nur verstand; Perlschnüren gleich rollten die Passagen, und dazwischen hob sich, meisterhaft vorgetragen, die Grundmelodie hervor.

„Sie spielt!“ murmelte er, und seine geballte Hand fiel zornig aus das harte Fensterbrett. Sind sie aber ohne Tück’, so ist’s fürwahr ein großes Glück, lachte er bitter auf; dann verließ er das Zimmer.

Draußen umfing ihn eine weiche milde Abendluft. Er lenkte seine Schritte unwillkürlich an dem Schloßgraben entlang, auf dem der Hollunder jetzt seine abgeblühten Zweige hervorstreckte, und blieb dann unter ihrem Fenster stehen. Dicht neben ihm stieg der alte Thurm massig empor, und die weißen Kletterrosen, die sich an ihm hinausrankten, leuchteten hell aus der Dunkelheit zu ihm herüber – dort oben war das Spiel verstummt. Doch nein, da begann es von Neuem – eine düstere schwermüthige Melodie; er kannte ja den Text:

„Da steht auch ein Mensch und schaut in die Höhe,
Und ringet die Hände vor Schmerzensgewalt,“

wie meisterhaft wurde er vorgetragen! Dann verstummte plötzlich die Musik mit einem schrillen Mißklange.

Army athmete wie erleichtert auf. In seinem Herzen, das so ehrlich und heiß liebte, mühte er sich vergebens ab, das Wesen seiner Braut zu enträthseln; mit aller Gewalt drängte sich ihm heute Abend die bange Frage auf! Wenn sie Dich nicht liebte? „Lieber den Tod, als ihr entsagen!“ murmelte er weiterschreitend und dachte unwillkürlich an Agnese Mechthilde und den Junker von Streitwitz, der hier im Garten begraben liegen sollte. Verstimmt bog er in den grünen Laubgang ein, der ihm am nächsten lag. Der heutige Nachmittag mit all dem unangenehmen Erlebten stieg wieder vor ihm auf; widerwärtige Empfindungen bemächtigten sich seiner; die Erinnerung an das Gespräch zwischen Onkel und Großmama mit den vielfach malitiösen Andeutungen, die wie aufflammende Leuchtkugeln häßliche Streiflichter auf die Vergangenheit geworfen, die Erinnerung an die eigensinnige Erklärung Blanka’s, nicht hier wohnen zu wollen, und dann an die strafenden Worte, die ihm Lieschen zugerufen dort in der Allee, als er sie bitten wollte, von dem Gehörten nichts zu verrathen! Sie hatten ihn tief beschämt, diese einfachen Worte, der vorwurfsvolle schmerzliche Blick; er hatte den braven Mann dort unten in der Mühle verleumden lassen, ohne ein Wort zu seiner Vertheidigung zu sagen – aus Gedankenlosigkeit, seine gespannte Aufmerksamkeit war ja dem Wortwechsel gefolgt, der seinen Lieblingswunsch so rauh vereitelte, den Wunsch, mit Blanka hier zu wohnen in dem Schlosse seiner Väter. Aber Lieschen mußte meinen, er denke ebenso wie – „o nein, nein, gewiß nicht; ihr Vater ist ein ehrlicher, braver Mann.“ Das wäre ja auch schließlich Alles verteufelt gleichgültig – nein, das zuletzt Erlebte, das hatte den tiefsten Stachel in seine Brust gedrückt. Die heftigen Worte seiner Braut klangen ihm wieder in die Ohren: „Was hast Du für eine Auffassung von unserer gegenseitigen Stellung?“ und dann: „Eine Kette ist es, eine drückende Kette, aber kein Glück.“

„Eine „Kette“!“ wiederholte er halblaut, indem er stehen blieb, aber dann sagte er rasch: „Ah bah, Mädchenlaunen, weiter nichts! Sie ist auch zu schön, zu stolz, – ein zu eigenartiger Charakter, um sich in die engen Grenzen zu schmiegen, die einer Frau eigentlich gezogen sind.“ Er hätte das bedenken sollen, meinte er; er durfte nicht immer und immer wieder versuchen, sie für seine Ansicht zu gewinnen, es mußte erniedrigend für sie sein; sie hatte Recht, mißgestimmt zu werden, seine schöne, stolze, geliebte Braut. Und sie liebte ihn ja doch; sie hatte es ihm so oft auf seine stürmischen Fragen versichert. Im Herbst, hatte Onkel Derenberg gesagt, im Herbst, da würde sie ganz die Seine, unentreißbar die Seine. Mußte nicht vor dieser seligen Gewißheit alles gegenwärtige Leid verschwinden?

Der Nachtwind hatte sich aufgemacht; er bog über dem Haupte des jungen Mannes die Zweige zusammen, daß sie leise rauschten, und kräuselte die Fläche des dunklen Teiches zu Army’s Füßen; er scheuchte die trüben Gedanken in weite, weite Fernen und trug versöhnende Liebe und weiches süßes Sehnen durch die stille warme Sommernacht. „Im Herbste,“ sagte Army noch einmal leise, „im Herbste, dann kommt das Glück.“



9.

Der Sommer war vergangen, und der Herbst trat seine Herrschaft an und begann das Land der Wälder bunt zu färben; ein krystallklarer blauer Himmel wölbte sich über der Erde; in der Lindenallee des Schloßparkes lagen die ersten welken Blätter am Boden, und im Erving’schen Garten blühten die Astern und Georginen in buntester Farbenpracht. Ueber die Weinspaliere waren Netze gezogen, um den naschigen Sperlingen das Schmausen zu verwehren; auf dem Laube der Obstbäume aber lugten die gereiften Früchte goldgelb und rothbäckig hervor und warteten des Pflückens.

Es war in der Mühle Alles im gewohnten Geleise weitergegangen; wie rasch war der Sommer verflogen! und nun freute man sich auf die langen Winterabende am warmen Ofen. Die Leute in der Mühle freuten sich freilich noch auf etwas Anderes; wußten sie doch Alle, sowohl die Arbeiter in der Fabrik wie die Mine und Dörte in der Küche und der Peter im Stalle, daß es bald eine Braut im Hause geben werde; wer Augen hatte zu sehen, dem war es sonnenklar, daß Herr Selldorf und „unser Lieschen“ ein Brautpaar werden würden. Dem hübschen blonden Manne guckte ja die Liebe so deutlich aus den ehrlichen hellen Augen heraus, und mit keinem Menschen war der Hausherr so vertraut und herzlich umgegangen, und keiner seiner Collegen hatte so freundliche Blicke aus den Augen von Lieschens Mutter empfangen, wie er. Selbst die Muhme nickte ihm stets so wohlwollend zu und sagte mitunter in der Küche, wenn von ihm gesprochen wurde: „Ein Prachtmensch, der Selldorf!“ Nur Lieschen schien von alledem nichts zu bemerken; zwar war sie stets freundlich und artig gegen den Volontair des Vaters und stellte die großen Sträuße Vergißmeinnicht, die er ihr zuweilen mitbrachte, sogleich in frisches Wasser, aber sonst konnte kein Mensch die Liebe bemerken, die sie absolut für ihn fühlen sollte, so sehr sich auch Mine und Dörte Mühe gaben.

„Sie thut nur so,“ meinte die Letztere, „das ist so Mode bei den Vornehmen, aber inwendig, da steht’s anders, gelt, Muhme?“

„Die viel schwatzen, lugen viel!“ hatte die Muhme geantwortet; „kümmere Dich nicht um die Liesel, sondern bleib’ bei Deinem Kochtopf! Wird schon einmal Hochzeit sein hier im Hause. Wer der Bräutigam ist, mag Gott allein wissen; wir können nicht in die Zukunft sehen, und darum halt den Mund über Dinge, die Euch nichts angehn! Aber Ihr habt nichts weiter im Kopfe, als das Mannsvolk und das Heirathen. Die Liesel weiß recht gut: ‚Freien ist wie Pferdekauf, Mägdlein thu die Augen auf‘!“ Und dazu hatte sie ernsthaft mit dem Kopfe genickt. Aber so sehr auch sonst ihre Worte in Ansehen standen, diesmal ging ihre Rede zu einem Ohre hinein und zum andern hinaus; sie wußten es ja zu genau, die Mädchen, daß Herr Selldorf ein Auge auf das Fräulein habe, und die Zeit würde es ja lehren, wer Recht hatte.

Einstweilen heimste die Muhme in Keller und Speisekammer ihre Wintervorräthe mit gewohnter Emsigkeit ein, und Lieschen mußte überall helfen und dabei sein, „denn guck’, mein Herzel, es ist für den künftigen Haushalt,“ sagte die alte Frau. Heute nun schüttelte und rüttelte es schon den halben Nachmittag ganz gewaltig in den ehrwürdigen Nußbäumen hinter dem Hause, und Blätter und Früchte fielen zur Erde, auf der eine große Leinwandplane ausgebreitet lag; der Peter und der Christel schlugen mit langen Stangen unbarmherzig in das Gezweig, und drei bis vier Kinder krabbelten jubelnd am Boden und überkugelten sich ordentlich in der Hast des Aufsammelns.

Lieschen, welche heute Besuch von Nelly hatte, war vor Kurzem erst mit dieser von den Kindern hinweg und aus dem Garten gegangen, und nun standen die beiden Mädchen in der Laube vor dem Hause, an dem Sandsteintische, über den die Muhme ein weißes Tuch deckte, und warteten schweigend, bis

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