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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

ausbildete, ohne ein Fach gründlich kennen zu lernen. Als nun in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts in Europa der Nationalismus alle geistigen Gebiete beherrschte, als das Studium der exacten Wissenschaften, der Mathematik, Physik, der Naturwissenschaften im Allgemeinen auf den Hochschulen zu blühen anfing, da warf sich die Menge russischer Studenten, welche in Ermangelung guter russischer Lehranstalten die deutschen Hochschulen aufsuchte, mit Eifer auf die Anschauungsweise dieser rationalistisch-naturhistorischen Richtung. Büchner und Moleschott wurden die Lehrer vieler junger Russen, die in den materialistischen Gedankenkreisen dieser neuen Propheten die unbegrenzte Freiheit des Denkens fanden, von der sie daheim nicht die Möglichkeit geahnt hatten. Das Freiheitsjahr 1848 that das Seine dazu, um überall in den revolutionären Verbindungen Deutschlands, Oesterreichs, Frankreichs russische Namen auftauchen zu lassen. Hier hörte man auch zuerst von den Bakunin und Tschernischewski. Als dann später die Wasser der Revolution sich verliefen, zogen sich gleich vielen revolutionären Westeuropäern auch diese Russen nach England und vornehmlich nach der Schweiz zurück. Hier wurde dann später der Herd der russischen Demokratie und des russischen Communismus in Genf und Zürich gegründet.

In den Köpfen jener russischen Emigranten und Emigrantinnen gestaltete sich das abenteuerlichste Gebilde von Staatswesen aus, das man ersinnen kann. Oder genauer gesprochen: es entwickelte sich in jenem „Nihilismus“, wie er, von dort ausgehend und dort genährt, bald auch in Rußland um sich griff, ein Staatsidealismus, der an Inhaltsleere seines Gleichen sucht. Der Nihilismus jener Zeit hatte zum eigentlichen Inhalt die Negation alles Bestehenden, zur Aufgabe die Zerstörung aller gegenwärtigen staatlichen und gesellschaftlichen Formen. Seit der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 ging durch die Mittelclassen des russischen Volkes ein Gefühl von unbegrenzter Vorwärtsbewegung. Die jungen Leute, welche etwas mit Physik, etwas mit Mill, etwas mit Büchner, etwas mit A. Comte sich beschäftigt hatten, ergriff eine undeutliche Erwartung, daß nun Alles und Jedes im Lande „ganz anders“ werden müsse. Und da es trotz aufmerksamer Beobachtung ihnen schien, daß nichts anders werde, so meinten sie, es sei an ihnen, die Umgestaltung herbeizuführen. Sie versuchten hier anzufassen und da zu ändern, aber überall mußten sie bemerken, daß sie nicht vorwärts kamen. Da bildete sich denn jene Art von Nihilismus heraus, welche sich gänzlich von dieser jammervollen Welt lossagte und nur noch in ihren Idealen lebte. Diese Leute gingen durch’s Leben wie Nachtwandler: sie entsagten allen äußeren Bedürfnissen, verachteten alle Bequemlichkeit des Lebens, gute Kleidung und reine Wäsche, gute Luft und gutes Betragen. Noch in den siebenziger Jahren begegnete ich einmal einem sonst liebenswürdigen, geistvollen und vielbelesenen Nihilisten aus einem der vornehmsten russischen Fürstengeschlechter. Als wir eines Abends, aus dem Theater kommend, uns in höchst angenehmer Weise über das Stück unterhielten, wobei er ebenso scharf wie kenntnißreich urtheilte, wünschten wir das Gespräch bei einem Abendessen fortzusetzen. Er forderte mich auf, in einen zufällig gerade an dem Wege liegender Wirthskeller zu gehen. Wir steigen die Stufen hinab, und wie ich die Thür öffne, dringt mir ein dicker Qualm von Tabak, Branntweinduft und den ekelsten Gerüchen aller Art aus der Schenke entgegen, in welcher das niederste Volk zechte. Ich wandte mich ab mit der Bemerkung, da könnten wir nicht eintreten. Und der Fürst lachte halb ärgerlich, halb höhnisch: „Da sehe man wieder den Aristokraten hier, in solchen Localen, sei ihm am wohlsten.“ Und doch war er ein feiner Kopf, ein feiner Gesellschafter und eine feinfühlende Seele.

Doch ich habe mit diesem Beispiel bereits meiner Schilderung vorgegriffen. So, wie mein Bekannter, waren die Nihilisten vor 1870 noch nicht. Es waren eben Träumer, wandelnde Leichen, die mit der Welt und den Menschen nichts zu thun haben wollten, weil sie beide für dessen unwerth hielten. Natürlich gab es da mancherlei Schattirungen bis zu den Vätern dieser Richtung hin, welche den radicalsten Communismus predigten und für die Revolution in aller Welt Propaganda machten. Eine Aenderung in der Haltung des Nihilismus in Rußland begann 1873, nachdem inzwischen die Zahl seiner Anhänger sich bedeutend vermehrt hatte. Hierzu hatte die Durchführung des Classicismus in den höheren Lehranstalten erheblich beigetragen. Nach langen Kämpfen war die nicht classische Bildung der mittleren Lehranstalten von den Hochschulen ausgeschlossen und damit die Anforderung an die Kenntnisse des zu Aemtern aufstrebenden jungen Mannes bedeutend gesteigert worden. Die Folge war, daß die Jugend schaarenweise die verlangten Prüfungen nicht machen, die Lehrcurse nicht durchlaufen konnte und daher mit halber Bildung und ohne Aussicht auf gutes Fortkommen aus den Lehranstalten trat.

Die russischen Lehranstalten, besonders auch die Universitäten, werden nun zumeist von unbemittelten Söhnen aus den Kreisen der Beamten, der Kaufleute und Priester besucht und etwa vier Fünftel aller Studirenden der russischen Universitäten sind als unbemittelt von der Zahlung der Collegiengelder befreit. Eine große Menge der nun ohne Beendigung ihres Lernplanes und ohne Aussicht auf ein Amt abgehenden Jugend warf sich dem Nihilismus in die Arme. Da wurde denn 1873 von der Oberleitung in Genf der Beschluß gefaßt, nunmehr praktisch an’s Werk zu gehen. Der Umsturz des Bestehenden sollte beginnen und von Genf her wurde der Kampf mit zahlreichen Schriften eröffnet, die heimlich über die Grenze geschafft und dort von Gesinnungsgenossen weiter befördert und verbreitet wurden. Zugleich zogen die Jünger des Nihilismus umher und suchten ihre Lehre dem niederen Volke verständlich zu machen. Die Lehre war einfach genug: die Steuern seien erdrückend; die Lage des Volkes sei unerträglich, woran die Regierung und die oberen Classen schuld seien; daher müsse das Volk aufstehen, Regierung, Adel, Geistliche, Beamte, Kaufleute niedermachen und allgemeine Gleichheit herstellen. Alle staatlichen Einrichtungen sollten aufhören: kein Czar, keine centrale Regierung, kein Heer, kein Erbrecht, kein Sondereigenthum, keine Ehe, keine Kirche sollte mehr sein, gemeinsam Alles, gleich Alles und Jedes. Bald rührte sich aber nun die Regierung. Erst einzeln, dann im Mai 1875 an einem bestimmten Tage zu Tausenden wurden diese Revolutions-Jünglinge und -Jungfrauen von der Polizei gepackt und in’s Gefängniß geworfen. Er folgten lange Voruntersuchungen und weitere Verhaftungen, bis aus der ganzen Zahl einer Schaar von hundertdreiundneunzig Personen der Proceß gemacht wurde. Das war der berühmte Monstreproceß vom October vorigen Jahres, der damals ganz Rußland in Aufregung versetzte. Man wird sich erinnern, welch einen Eindruck dieser Kampf der absoluten Staatsgewalt mit einer Schaar halber Kinder machte. Denn es war ein Kinder-Kreuzzug, der unternommen wurde. Zum weitaus größten Theile sind die verurtheilten Streiter für „Gleichheit und Freiheit“ Jünglinge und Jungfrauen im Alter zwischen sechszehn Jahren und der Mitte der Zwanzig gewesen.

Der heutige Nihilist steht dem Socialdemokraten schon sehr nahe, nur ist sein Weg zu dieser Geistesrichtung ein anderer. Da kommt der Sohn eines Landpredigers aus einem entlegenen Dorfe in die Stadt, in die mittlere Schule, auf die Universität. Mit dürftigen Mitteln sucht er vorwärts zu kommen. Aus einer Welt, in die kein Strahl des modernen Denkens gefallen ist, in der das melancholische Lied des Bauern über die endlose Ebenen ohne Echo dahintönt, wo die einzige Abwechselung des Jahres in dem Kommen und Gehen eines eisigen Winters und eines glühenden Sommers oder in den Träumen besteht, die dem Bauer der Branntwein vorzaubert, wo es ein vielumstauntes Wunder der Culturwelt ist, wenn der heimkehrende Soldat aus Moskau oder Charkow einen Bilderbogen mit bunten Thiergestalten heimbringt, wo in völliger Oede und Bewegungslosigkeit nur der Polizeiunterofficier, der Friedensrichter und der Gutsherr herrschen - aus einer solchen Welt, in welcher der Einzelne niemals zum Bewußtsein seiner selbst gelangt, wird der Jüngling in die entlegene Stadt versetzt, wo ihm Alles fremd, neu ist und doch Alles mit Recht so anders zu sein scheint. Warum sollte denn nicht auch das Buch Recht haben, welches ihm in die Hand fiel und in dem zu lesen stand, daß Jedermann gleiche Rechte habe mit dem reichen Kaufherrn, der eben drunten unter den Fenstern des Dachstübchens im stattlichen Wagen vorüberrollt, daß es die Schuld der Regierung sei, wenn im heimathlichen Dorf jene schreckliche Oede herrscht, deren Grauen der Student eben in dem Ferienaufenthalt wieder so tief, doppelt und zehnfach so tief wie ehedem, da er noch nichts Anderes kannte, empfunden, daß es Schuld der Regierung sei, wenn der Vater des Studenten, der Bauer im Dorfe, so arm und jener Kaufherr so reich ist?

Und da kommt denn ein Camerad, der draußen in Zürich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 758. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_758.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2020)