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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


Betracht gezogen. Man würde dann eben einfach eine freie Luftfahrt wider Willen machen, und dafür sind die Ballastsäcke, die Ankern etc. im doppelten Boden der Gondel, die Ventile am Ballon und die begleitenden Luftschiffer von Erfahrung vorgesehen. Unter der kaltblütigen Leitung erfahrener Führer sind freie Luftfahrten verhältnißmäßig sehr ungefährliche Reisen, denn da oben giebt es weder Prellsteine, noch Gelegenheit zu Zusammenstößen oder zum Umwerfen. Im letzten Sommer stiegen beispielsweise in Berlin an jedem Sonntage drei bis vier Ballons mit Passagieren aus den verschiedensten Vergnügungslocalen auf und mehrere in der Woche obendrein, aber nicht ein einziger Unfall hat sich bei dieser großen Zahl von Luftfahrten ereignet. Selbst im schlimmsten Falle ist also mit diesen Auffahrten, der menschlichen Berechnung nach, keine besondere Gefahr verbunden, zumal eine Möglichkeit des Platzens vom Ballon hier gar nicht in Frage kommt, und man kann nur wünschen, daß bald allerorten ein gefesselter Ballon dem uns eingeborenen Triebe, es einmal den Adlern gleichzuthun Befriedigung verschaffen möge.

C. St.




Skizzen aus Niederdeutschland.
3. Waakhausener Zustände.
Hamme und Wümme. – Bauerngehöfte. – Der Kukuk. – Im Wald. – Geborstnes Terrain. – Der Todtenweg. – Aufgetriebene Felder. – Das Dorf. – Der hohe Steg. – Das Wirthshaus. – Speisekarte. – Besuch in den Häusern. – Das schwimmende Land. – Das verschiedene Aufschwimmen. – Die Bewirthschaftung des schwimmenden Landes. – Die Wege und Brücken. – Der Nordweststurm. – „Drunter und drüber!“ – Der durchgebrannte Garten. – Die umfallenden und wiederaufstehenden Bäume. – Das überschwemmte Haus. – Das Aufblocken. – Das Bivouakiren. – Das Einsinken und Aufschrauben der Häuser. – Rückkehr. – Die Betten und das Frühstück.

Nachdem wir dem Leser in unseren früheren Skizzen eine Reihe Bilder aus dem Leben und Treiben der großen Hansastadt Hamburg (1877, Nr.25; 1878, Nr. 28) vorgeführt, möge er uns heute nach einem abgelegenen stillen Winkel des Wesergebietes begleiten.

Im Westen der Lüneburger Haide entspringt ein Flüßchen, die Wümme, welches in vielen Windungen der Weser zufließt und kurz vor seiner Mündung in dieselbe sich mit einem anderen, nördlich aus den Mooren herunterkommenden Wasserlauf, der Hamme, in der Nähe von Lesum vereinigt. In dem Zipfel Landes nun zwischen den beiden genannten Flüssen, der aus Sumpf-, Marsch- und Moorland besteht und alljährlich von ihnen förmlich eingeweicht wird, liegt nahe der Hamme das Dorf Waakhausen, das Ziel unserer Wanderung.

Das Sumpfgebiet des St. Jürgenlandes hinter uns lassend, betreten wir in nordöstlicher Richtung ein sich etwas erhebendes Terrain, auf dem sich nach allen Seiten hin ausgedehnte Weidegründe ausbreiten, hier und da unterbrochen von einzelnen aus Eichen, Erlen, Tannen etc. sich zusammensetzenden Büschen, die wie Oasen im Grünlande liegen. Der des Landes Kundige weiß, daß solch ein Busch die Existenz eines Bauerngehöftes andeutet, denn jedes derselben sitzt, gleich dem Nußkern in der Schale, behaglich im Innern eines solchen Busches oder „Kampes“.

Von allen Seiten ertönt fast ununterbrochen der Ruf des Kukuks; wenn Niederdeutschland einen Wappenvogel wählen sollte, so müßte es unbedingt dieser sein, denn sein weitschallender Ruf begleitet uns durch alle Niederungen und erst wenn wir auf die Geest hinaufgestiegen sind, bleibt er mehr hinter uns zurück.

Während wir in der schattenlosen Landschaft, von den Strahlen der Sonne arg bedrängt, an weidenden Rindern und Pferden vorüber, vorwärts schreiten, tauchen vor uns dichtere Landmassen auf – die Waldungen, in denen wir unser Ziel zur suchen haben. Auch der Boden beginnt sich zu ändern, Moor- und Haideland, mit einzelnen Birken und Nadelbäumen bestanden, tritt an Stelle der ausgedehnten Wiesen, und endlich gelangen wir in den Schatten eines dichten Gehölzes – hier aber ist guter Rath theuer, denn wenn uns auch der Weg einigermaßen beschrieben ist, so müssen wir doch sehr auf der Hut sein, daß wir nicht vom gebahnten Pfade ab in die ringsum drohenden Sümpfe gerathen.

Wir entdecken bald einen Weg, der seitab in das sumpfige Gehölz, und zwar durch eine reizende frische Vegetation mit malerischer Gruppirungen, über grüne Wiesen, dann wieder durch Haide und Wald in regellosen Windungen führt, bis wir plötzlich mit einem Aufrufe des Staunens aus dem Holze auf eine Lichtung hinaustreten, deren Anblick allerdings zu den lebhaftesten Zeichen der Verwunderung berechtigt.

Wenn ein europäischer Maler ein von einem Erdbeben heimgesuchtes Land des tropischen Amerikas darstellen wollte, so brauchte er sich nur mit Pinsel und Palette an die Stelle zu setzen, an der wir eben aus dem Walde heraustraten. Erdschollen von einem Umfange und einer Mächtigkeit, daß sie beide Eichbäume zu tragen vermöchten, sind wild über einander gestaut – hier steigt eine solche kerzengerade aus der Erde empor – dort bäumen sich zwei wie im Kampfe gegen einander – weiterhin sieht, es fast aus, als rollten schwarzbraune Wogenkämme heran – dazwischen laufen tiefe Risse und Spalten hin, welche sich zum Theil mit trübem Schlammwasser angefüllt haben. Gesteigert wird der wüste Eindruck noch dadurch, daß jede Scholle die helle Pflanzendecke des ruhig weitergrünenden Haidelandes, selbst mit kleineren Bäumen untermischt, auf ihrem Rücken trägt, während sie im grellen Contraste dazu von allen anderen Seiten den düstergefärbten Moorboden aufzeigt. Ein Bild von wirklich unheimlichem Eindrucke.

Von den hier thätigen Gewalten und Erscheinungen werden wir gleich reden; für jetzt wenden wir uns dem jenseits sich zeigenden erhöhten Wege zu, in dem wir mit Recht den sogenannten „Todtenweg“ vermuthen, einen mit Sand belegten Moordamm, der im Winter noch über das Wasser emporragt, wenn ringsum schon Alles überschwemmt ist.

Auf dem Todtenwege angelangt, gewahren wir ein neues Bild der Zerstörung: hier blicken wir weithin über Getreidefelder – ein Gemenge von über einander gedeckte Schollen, auf denen die Getreidehalme nach allen Richtungen hinauswachsen; in dem niedriger liegenden Acker hockt hier und dort mitten im Getreide, wie eine Kröte im Blumenbeete, ein großer schwarzer Brocken Moorlandes mit Haidevegetation auf dem borstigen Rücken, der offenbar zwischen den Kindern der Ceres nichts zu suchen hat.

Wir schreiten jetzt auf eines der wenigen und vereinzelt in der Nähe des Todtenweges liegenden Häuser zu, um das Wirthshaus herauszufinden, denn der Durst macht sich peinlich geltend. Da erfahren wir denn zu unserer nicht gerade angenehmen Ueberraschung, daß wir, um dahin zu gelangen, westwärts an der und jener Haidestrecke vorüber, dann über der „hohen Steg“ und endlich seitwärts am Wasser hingehen müssen, also ungefähr noch eine gute Viertelstunde Weges vor uns haben. Es ist eine Eigenthümlichkeit „Niederdeutschlands“, daß die Gehöfte bald in größeren, bald in kleineren Entfernungen, aber fast durchweg isolirt liegen, und ein solches Dorf kann daher oft den vierfachen Flächenraum eines mitteldeutschen einnehmen, ohne mehr als die Hälfte von dessen Seelenzahl zu besitzen. Wir wandern also westwärts weiter; auf den zum Theil gleichfalls geborstenen Strecken „Haidelandes“, an denen wir vorüberkommen, sitzen nun, gleichsam als Pendants der Moorstücke im Roggenfelde, Brocken dieses Roggenfeldes selbst in einzelnen Exemplaren verstreut, deren Halme sonderbar genug über dem Haidekraut emporragen, als schauten sie sehnsüchtig nach den Genossen in ihrer eigentlichen Heimath hinüber. Jetzt gelangen wir auch an den „hohen Steg“, dessen Bau seinen Namen rechtfertigt, indem man auf Stufen mit Geländer versehen an dem einen Ufer hinauf und an dem andern ebenso hinunter steigt. Man könnte versucht sein, diese sonderbare Bauart als eine Concession an die eigenthümlichen Bodenerscheinungen zu betrachten, doch ist dies nicht der Fall, sondern die Gründe dafür sind hier dieselben wie im Spreewalde für die nämliche, nur etwas halsbrechendere Construction – die Möglichkeit nämlich, hochbeladene Heukähne hindurchtransportiren zu können. Endlich liegt auch das ersehnte Wirthshaus auf hoher Warf vor uns. Es unterscheidet sich durch rein gar nichts von den Bauernhäusern, nicht einmal durch ein äußeres Abzeichen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_762.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)