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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Nordweststurm sich in ungewöhnlicher Stärke erhebt und sich auf das schwimmende Waakhausen wirft, die Fluth der Hamme rückwärts staut, die Aeste der Bäume erfaßt und damit einzelne Landparzellen gleichsam an den Haaren hin- und herzerrt, dann fängt in der That Alles an, „drunter und drüber“ zu gehen – und zwar ist das wörtlich zu nehmen.

Leichtere Partieen spazieren über schwere und zum Theil gesunkene hinweg, schieben sich bald neben, bald über einander, und jene Stücken Moorbodens im Roggenfelde oder Roggenfeldes im Haideland, wie wir sie auf unserem Wege beobachten konnten, sind dann gewissermaßen die Visitenkarten, welche das eine bei seinem Besuche dem andern zurückgelassen hat. Uebrigens muß sich der Besitzer des Grundstückes, auf dem sich eine größere Portion solchen fremden Landes niedergelassen hat, sehr dazuhalten, dieselben zu entfernen, so lange noch Hochwasser ist, sonst mag er zusehen, wie er damit fertig wird, jedenfalls kann er später nur unter mühsamer Arbeit seinen Saatboden wieder freilegen.

Während der Sturm hier in solcher Weise wirthschaftet, sprengt er an einer anderen Stelle die Canäle und Grenzgräben zu breiten Wasserspalten auseinander, an einem dritten Punkte aber reißt er einem Bauer eine ganze Parzelle aus seinen Grundstücken, treibt sie als schwimmende Insel in die zum See gewordene Umgebung der Hamme und landet sie bei einem andern Bauern.

Die Waakhausener haben dann ihre liebe Noth, wieder Ordnung in das Chaos zu bringen, und es kommt ihnen dies durchaus nicht lächerlich vor, wie es uns allerdings erscheinen muß, wenn wir uns vorstellen, daß der eine Bauer beim andern seinen Garten abholt, wie man bei uns etwa einen verlaufenen Hammel reclamirt.

Berstet das Land in unmittelbarer Nähe von Baumwurzeln oder steigt es ungleichmäßig, so kommt es vor, daß die daraufstehenden Bäume umsinken wie Schlagbäume, sogar in ganzen Reihen, einer über den anderen, daß sie sich aber, wenn der Boden in seine Normallage zurückkehrt, kerzengerade wieder aufrichten.

Allerdings muß hier ausdrücklich hervorgehoben werden, daß alle die zuletzt geschilderten Erscheinungen mehr den Charakter von acuten Fällen tragen, durch ungewöhnliche Fluthen oder Sturm hervorgerufen, daß dagegen die alljährlich wiederkehrenden Erscheinungen ein regelmäßiges Steigen und Sinken im Zeitraume vom Spätherbst bis zum Frühjahr darstellen, wobei natürlich auch Verschiebungen und dergleichen, nur nicht in so großer Ausdehnung, eintreten.

Mitten in dem Umsturz des Bestehenden fällt dem Menschen eine nicht minder wunderliche Rolle zu. So lange die Fluth eine gewisse Höhe nicht überschreitet, ragt das Haus auf seiner für eine normale Ueberschwemmung berechneten Wurf darüber empor; wächst der Fluthstand aber, so tritt das Wasser in das Haus, und nun werden mehrere Manipulationen nöthig, für welche sich die Bewohner eine gewisse traditionelle Technik ausgebildet haben. Vor allem muß zweierlei sicher gestellt werden: das Vieh und das Herdfeuer. Das Vieh wird in seinen Ständen auf Blöcke gestellt, über welche querhin Bohlen und Bretter gelegt werden – das sogenannte „Aufblocken“ der Kühe. In gleicher Weise wird das Feuer der Herdkuhle, welches sich zu ebener Erde befindet und auf Grund verschiedener Einrichtungen an diese eine Stätte gebunden ist, vor dem Wasser geschützt, indem man auf Blöcken und Brettern Steine zusammenlegt und darauf das Feuer anzündet. Ferner wird der Dünger, um ihn vor dem Wegspülen zu bewahren, mit Strohgeflechten umgeben. Die Menschen selbst aber steigen auf Leitern zum Boden hinauf, wo sie während der Dauer der Ueberschwemmung verbleiben und mit den Schinken um die Wette räuchern mögen.

Jene eben geschilderte Situation giebt unsere Illustration wieder. Kann man sich ein barockeres Bild denken? Draußen vor der Thür schwankt ein hochaufgetriebener Eichenkamp hin und her, wie ein Schiff vor Anker; unten fluthet das Wasser mit leichtem Wellenschlage in die düstere Deele hinein, während oben der Rauch des Herdfeuers in trägen Wolken hinauszieht; drüben an der Seite blicken die Kühe von ihrem erhöhten Stande verwundert in die fremdartige Situation hinab, während an der aufgeblockten Herdkuhle die Hausfrau, mitten über dem Wasser stehend, die Speisen mit demselben Gleichmuth zubereitet, wie in trockenen Tagen. Und dazu heult der Sturm um die altbemoosten Hausgiebel, setzt pfeifend durch die kahlen Aeste des Kamps und jagt an der Seite, wo das Haus offen liegt, hohe Wellen in förmlicher Brandung gegen die Außenwandung, welche auch, wenn nicht genügend fest hergestellt, dem Durchspülen ausgesetzt ist.

Doch läßt sich das Alles ansehen, so lange die gastliche Flamme des Herdfeuers noch herausfordernd in die unten emporleckenden Fluthen hinabschaut; wenn diese aber höher und höher steigen – wenn das Feuer erlischt, dann ist der Moment gekommen, da der Mensch mit Vieh und all dem Seinen auf den neben dem Hause schwimmenden Kamp übersiedelt, wobei namentlich der Transport der Kühe die größten Anstrengungen erfordert. Dort wird nur unter einem Nothdache campirt, bis die Fluth wieder einigermaßen gesunken ist, und das kann sogar mehrere Wochen dauern. Doch gehört ein solcher Fall zu den seltenen.

Unser Bild von den Waakhausener Zuständen würde kein vollständiges sein, wenn wir zuletzt nicht auch noch den Zimmermann besuchten, der in Waakhausen eine viel bedeutungsvollere Rolle spielt, als in anderen Dörfern. Das hängt so zusammen. Jedermann weiß, daß Torfmoor ein Körper von verhältnißmäßig geringer Dichtigkeit ist und folglich durch eine darauf ruhende Last zusammengepreßt werden kann; da nun diese Substanz den Grund bildet, auf welchem die Waakhausener Gehöfte ruhen, so ist die Folge davon, daß die Häuser, den Moorboden zusammendrückend, einzusinken beginnen und natürlich meist nicht gleichmäßig, sondern auf der einen Seite mehr als auf der andern. Um dem allzu tiefen Sinken zu begegnen, hilft man sich mit dem sogenannten Schrauben, das im Durchschnitt nach Ablauf eines Decenniums nöthig zu werden pflegt.

Das Schrauben nun ist Aufgabe des Zimmermanns, in dessen Eigenthum sich auch die dazu nöthigen Apparate befinden. Dieselben bestehen aus vier Theilen; zunächst aus einer Unterlage, an Form einer Eisenbahnschwelle ähnlich, ungefähr fünf Fuß lang mit flachen Aushöhlungen, in welche die unteren Schraubenenden passen. Darauf ruht eine zweite Holzbohle von derselben Form, aber mit Schraubengängen an den beiden Enden. In diese letzteren werden die ungefähr vier Fuß langen Schrauben eingeführt. Sollen sie nun in Thätigkeit kommen, so wird unter dem Grundbalken des Hauses ein Loch ausgehöhlt, groß genug, die beiden beschriebenen Bohlen hineinzuschieben, was dergestalt geschieht, daß das eine Ende mit der einen Schraube sich an der Innenwand, das andere mit der anderen Schraube außerhalb des Hauses an der Außenwand befindet; durch das Schrauben trennen sich nun die beiden Bohlen, und der so entstehende Zwischenraum wird mit Sand und anderem festem Material ausgefüllt. Je nach der Größe des Hauses werden zugleich 15 bis 20 solcher Schrauben in Thätigkeit gesetzt, und das Haus wird dadurch oft bis zu einem halben Dutzend Fuß in die Höhe gebracht. Dieses Schrauben hat freilich die zwei Nachtheile, daß es erstlich ziemlich viel Kosten verursacht, und dann, daß das Haus häufig in seinem Gefüge darunter leidet. Deshalb suchen die Bewohner in dem schiefgesunkenen möglichst lang auszuhalten und ihren Haushalt unter einem Winkel von 70 Grad weiter zu führen – in solch einem Hause ist dann Alles schief, und man ist fast versucht, die Bewohner darauf hin anzusehen, ob nicht der Eine eine hohe Schulter, der Andere eine hohe Hüfte habe.

Mit dem Besuche beim Zimmermann schließt aber unsere Entdeckungsreise, und wir wenden uns unserem Wirthshause zu. Der Abend ist inzwischen über die stille Gegend gekommen, der Ruf des Kukuks ist verhallt – wir wandern den neuen Canal entlang, dessen schwarzbraunes Wasser träge über eine düstere Vegetation ebenso schwarzbrauner am Moorboden wuchernder Pflanzen hinzieht, bis wir unser Ziel erreicht haben.

Im Wirthshause wird uns nach einem frugalen Abenbrod

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 766. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_766.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)