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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

aber auch bei übermäßigem Tabaks- oder Kaffeegenusse sich einfindet. Die bisherigen Erfahrungen haben ergeben, daß die Coca keines der schlimmsten unter den narkotischen Genußmitteln ist, aber ganz unschuldig ist sie keineswegs. Zunächst besitzt sie nicht die gute Eigenschaft des Kaffees und des Thees, ihre Verehrer gesellig und gesprächig zu machen; der Coca-Esser sucht wie der Opium-Sclave die Einsamkeit und flieht tagelang die Gesellschaft, um ein einsames Plätzchen im Walde aufzusuchen; seine Gemüthsstimmung neigt zur Melancholie. Auch theilt die Coca nicht mit dem Kaffee, Thee und Tabak die gute Eigenschaft, daß man dabei alt werden kann; die gewohnheitsmäßigen Coca-Esser erreichen selten ein höheres Alter als fünfzig Jahre. Leidenschaftliche Verehrer dieses Blattes nutzen ihre Lebenskraft noch viel schneller ab, und der sogenannte Coquero wird in Peru für ein ebenso unheilbares und verlornes Mitglied der Gesellschaft gehalten, wie bei uns ein Branntwein-Säufer und in China der Opium-Esser.

„Der eingefleischte Coquero,“ erzählt der Reisende Pöppig, „ist auf den ersten Blick kenntlich. Sein unsteter Gang, seine gelbe Haut, seine eingesunkenen schwachen Augen, die von einem dunkelrothen Ringe umgeben sind, seine zitternden Lippen und seine allgemeine Fühllosigkeit bezeugen sattsam die schlimmen Einflüsse des Cocasaftes, wenn derselbe fortgesetzt und im Uebermaße genossen wird. Seine erste üble Wirkung ist eine Schwächung der Verdauung; der Appetit geht verloren oder wendet sich auf ganz unnatürliche Speise; ein schmerzhaftes Gallenleiden stellt sich ein, und der Befallene geht nach einigen Jahren unter den Symptomen der sogenannten Wassersucht zu Grunde.“ Dr. Weddel entwirft kein ganz so düsteres Bild von den Wirkungen der Coca, aber er hatte doch auch wiederholt Gelegenheit, eine Art Säuferwahnsinn bei Coqueros zu beobachten und hebt die bleichen Lippen und den abscheulichen Athem – eine Folge der gestörtem Verdauung – der Coca-Esser hervor.

Ein Europäer, der zum ersten Male Coca genießt, bereitet sich damit eine trübe Rückerinnerung an die Folgen seiner ersten Rauchstudien. Freilich, die Krone des Ganzen, der Gipfel der Reclame wird erst mit der Empfehlung der Coca als eines das geschwächte Nervensystem stärkenden Mittels erreicht. Alle Welt weiß, daß sämmtliche erregenden Genußmittel, vom Kaffee an bis zum Opium, die natürliche Tendenz besitzen, das gesunde Nervensystem zu zerrütten, denn der Zweck dieser Mittel ist ja der: die Nerventhätigkeit zeitweise unnatürlich zu erhöhen, und mit mathematischer Gewißheit muß jeder solchen Erregung eine desto größere Erschlaffung folgen. Keinem besonnenen und ehrlichen Arzte wird es einfallen, mit einem solchen Erregungsmittel geschwächte Nerven stärken zu wollen. Allerdings haben diese Mittel in den Händen der Charlatane etwas sehr Verführerisches und Gefährliches. Wer hat nicht einmal einen Säufer beobachtet, dessen Hände des Morgens so sehr zitterten, daß er kaum im Stande war, das Gläschen mit dem Morgenschnaps ungefährdet zum Munde zu führen, und der nach einem zweiten und dritten Kümmel eine ganz sichere Hand erhielt? So vermag auch Coca den Traum einer Kräftigung zu erzielen, der den Verblendeten so lange umgaukelt, bis nach fortgesetztem Gebrauche auch der anfangs noch vorhandene Rest von Gesundheit vernichtet ist, und man schaudert zurück vor der Gewissenlosigkeit, durch den Vertrieb solche Mittel Reichthümer zu erwerben. Für Personen, die einen festen Schlaf haben und deren Gewissen nicht im Mindesten durch die Gespenster der zu Grunde gerichteten Existenzen beunruhigt wird, ist es offenbar sehr leicht, auf diese Weise viel Geld zu verdienen, denn in unserer schnelllebigen Zeit werden die Menschen früh abgenutzt und greifen dann gern zu derartigen vermeintlichen Verjüngungsmitteln.

Die guten Chancen einer solchen Speculation auf die jetzt zahlreicher als je hervortretenden Opfer des intensiver gewordenen Kampfes um’s Dasein haben bereits vielen Personen der verschiedensten Berufsclassen eingeleuchtet. Jedermann kennt die „Wohlthäter der Menschheit“, welche die guten Namen Laurentius, Bernhardi, Retau, Airy etc. in Verruf gebracht haben. Es ist nun eine der betrübendsten Erscheinungen auf diesem Gebiete, daß neuerdings selbst die deutschen Apotheker, welche doch die Gesetzgebung wie Schooßkinder behandelt, um sie durch Niederhaltung aller Concurrenz vor dem Straucheln zu bewahren, anfangen, diese Mittel zu führen, ja mit gewissenlosen Aerzten den Raub zu theilen. Dem Mohren-Apotheker Strauß in Mainz hat sich ein Straußen-Apotheker in Berlin gegenübergestellt, und hier heißt der dunkle Ehrendoctor, der sich natürlich ebenfalls auf Humboldt beruft, Alvarez. Denjenigen aber, die beide Cocas umsonst versucht haben, bietet ein dritter Apotheker, ein Herr Tiedemann, das unschätzbare Stärkungsmittel aus dem Reiche der Zöpfe, das göttliche Pentsao.

Die Chinesen, bei denen die Heilkunde auf einer unglaublich niedrigen Stufe steht, haben seit undenklichen Zeiten den Glauben an sogenannte Panaceen oder Allheilmittel und Kraftmedicinen conservirt, und sie sind durch ihre eigenthümliche Entwicklungsgeschichte gewissermaßen entschuldigt, wenn sie tief im Aberglauben stecken. Da ist denn vor Allem die berühmte Ginsengwurzel zu nennen, die noch immer mit dem zwanzigfachen Gewichte Gold aufgewogen wird, und von der das Pfund in unserem Jahrhundert noch mit 7680 Thalern bezahlt worden sein soll. Das ist etwas viel, aber mit der Wurzel dieser seltenen, unserem Epheu verwandte Pflanze hofft man denn auch Greise in Jünglinge zu verwandeln und Halbtodte zu neuem Leben zu erwecken, sodaß blos das Eine räthselhaft bleibt, daß nämlich Leute, die dieses Wundermittel wirklich bezahlen können, nichtsdesoweniger sterben müssen. Der eigentliche Humor der Sache aber ist, daß diese Wurzel ebenso wie die gleichfalls hochgeschätzte Menschenwurzel (Rinsing), welche nicht ganz so theuer ist, von den europäischen Aerzten für völlig werthlos, wenigstens für nicht wirksamer als Pastinakwurzel oder Salep gehalten werden, sodaß sie es den Chinesen gar nicht weiter verdenken, wenn sie diese Schätze ängstlich für sich behalten. Gleichwohl nimmt der Herr Apotheker Tiedemann das Verdienst in Anspruch, eine dieser chinesisch-japanesischen überkostbaren Panaceen nach Deutschland importiert zu haben und sie billiger als in ihrer Heimath der „schwachen“ Menschheit darzubieten. Mehrere der bekannten „Gelehrten“, die jedes marktschreierisch ausgebotene Geheimmittel empfehlend begutachten – und die ihre gewichtigen Gründe dazu haben mögen – fanden natürlich kaum Worte genug, diese patriotische That gebührend zu preisen.

Es hat keinen Zweck, uns länger bei der Frage aufzuhalten, ob diese Mittel bei den angedeuteten Leiden irgend einen Nutzen gewähren können, denn bei unterrichteten Aerzten besteht darüber kein Zweifel, daß von allen Krankheiten die nervösen am wenigsten mit Arzeneien geheilt werden können. Was jahrelange Ueberanstrengung oder Mißbrauch und dauernde Einwirkung allgemeiner Schädlichkeiten, wie vorwiegend geistige Beschäftigung, Stubenluft, Mangel an Thätigkeit und Bewegung, Verzärtelung, schlechte Ernährung, Ausschweifungen etc. verdorben haben, kann nicht binnen Kurzem mittelst einiger – und wir wollen den besten Fall in’s Auge fassen – den Stoffwechsel „anregenden“ oder wunderbar „ernährenden“ und „regenerirenden“ Heilmittel wieder gut gemacht werden. Hier bietet nur ein Weg Hoffnung, und zwar sichere Hoffnung auf guten Erfolg, wenn er nicht gar zu spät betreten wird, und das ist eine „Naturheilmethode“ – aber nicht die berüchtigte Airy’sche – sondern ein Uebergang zur rationellen Lebensweise unter Vermeidung der Schädlichkeiten, welche den Ruin der Kräfte herbeigeführt haben. Land- und Gebirgsluft, Ruhe, Bäder, Enthaltung geistiger Anstrengung, Leibesübung, gute und kräftige Diät – das sind die Heilmittel, die in solchen Fällen allein Wunder bewirken können und durch welche die Nervenschwäche langsam, wie sie gekommen, wieder beseitigt werden kann.

Ein solcher Erfolg kann durch den gleichzeitigen Gebrauch erregender Mittel, wie der Coca, höchstens verzögert und in Frage gestellt werden; die geschwächten Nerven bedürfen der Ruhe, aber nicht neuer Erregungen, die womöglich statt der gehofften „moralischen Unterstützung“ zu neuen Excessen verleiten. Die Cocapillen gleichen in ihrer Wirkung besten Falls jenen Verjüngungselixiren, mit denen Saint-Germain und Cagliostro die gebrechlichen Madras und Comtessen der französischen Schwelgezeit betrogen haben. Aus Ambra und ähnlichen erregenden Droguen bereitet, wirken sie wie ein Champagnerrausch und ließen die Leutchen, welche dergleichen kaufen konnten, wirklich einen Augenblick glauben, sie seien wieder jung geworden. Allein nach den Regeln der körperlichen Oekonomie konnten sie dabei nur noch schneller altern als vorher, und so wird es auch den Kunden der neuen Wundermänner gehen. Die Coca, welche

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 779. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_779.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)