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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

keine Stürme, kein Wetter in der Welt. Teichlinsen und welke Blätter schwammen bewegungslos auf der glatten Fläche, und die steinerne Ruhebank am Ufer stand leer. Wie erleichtert seufzte sie aus und schritt hastig weiter; die herabhängenden Zweige schlugen ihr in’s Gesicht und streiften den Thau auf die blonden Haare. Der Saum ihres Kleides schleifte schwer und feucht hinter ihr, und weiter, nur immer weiter! Sie blickte angstvoll nach rechts und links, und von Zeit zu Zeit rief sie den Namen des Bruders durch die stille Morgenluft. Da – Schritte – ! Wie gejagt flog sie weiter; dort lag das Gitterthor, der eine Flügel geöffnet; schon eilte sie hindurch – es war ein Arbeiter, der, die Mütze ziehend, an ihr vorüber schritt, die unerwartete Erscheinung verwundert musternd; dann blieb er stehen; sie hatte eine Bewegung gemacht, als habe sie etwas sagen wollen, da sie aber schwieg, fragte der Mann:

„Suchen Sie etwas, gnädiges Fräulein?“

„O nein, nein, ich wollte mit meinem Bruder einen Morgenspaziergang machen – haben Sie ihn vielleicht gesehen?“

„Den Herrn Officier meinen Sie? Ja, dem bin ich vorhin begegnet, ein Stückchen hinter der Lumpenmühle.“

„Danke!“ hauchte sie und schlug den Weg zur Mühle ein; in größter Hast schritt sie vorwärts. Dort blickte schon das Wohnhaus durch die Ellern; dort lag der Mühlensteg – vorbei, vorbei! Sie schliefen wohl Alle noch da drüben im Hause. Nur weiter! Da – allmächtiger Gott – da knallte ein Schuß; so deutlich, so furchtbar tönte es in ihr Ohr; sie schlang, mechanisch nach einem Halt suchend, den Arm um den ihr zunächst stehenden Baum; dann glitt sie zu Boden. Sie sah nicht mehr, wie eine alte Frau eilig, so rasch es ihre Füße erlaubten über den Mühlensteg daherkam, wie ein gutes ehrliches Gesicht, von einer weißen Haube umrahmt, sich so ängstlich zu ihr niederbeugte; sie hörte nicht den Hülferuf, der über die erschrockenen Lippen kam: „Jesses, Nelly, unsere Nelly! Was ist da wieder geschehen?“



11.

In dem Wohnzimmer des Schlosses waren die dunklen Vorhänge zugezogen, und dort, wo sonst das große altmodische Sopha seinen Platz gehabt, stand jetzt das Krankenbett von Nelly’s Mutter; sie war schwer erkrankt an jenem unglücklichen Morgen, als sie ihren Sohn suchte und nicht fand; das schwache Leben rang mit dem finsteren Engel, dessen unheilverkündende Nähe durch das Gemach zu wehen schien. Im fortwährenden Kreisgange drehten sich ihre Phantasien um jenen Tag, wo sie dem blutigen starren Körper ihres Gatten gegenüber gestanden; bald war er es, den sie erblickte, bald war es der Sohn, und in herzzerreißenden Tönen bat sie ihn, nicht auch zu sterben, sie nicht auch zu verlassen; sie könne ja sonst nicht leben.

Jetzt war es still in dem großen Gemach; eine schlanke Mädchengestalt, die jedesmal bange aufhorchte, wenn die wirren Fieberreden im bunten Durcheinander von den Lippen der Todkranken kamen, schwebte mit beinah unhörbaren Schritten über das alte Parquet, strich mit leiser Hand die Kissen zurecht und beugte sich spähend über die Leidende, um die leisen Athemzüge zu belauschen, wenn sie eingeschlafen schien. Ja – das Lumpenmüller-Lieschen leistete zum zweiten Male Samariterdienste auf Schloß Derenberg, und das war schon der zehnte Tag heute, den sie hier sorgend durchlebte. Es waren lange bange Tage und noch bängere Nächte; heut hatte das Fieber etwas nachgelassen wie der Arzt sagte, und jetzt war Schlummer über die erschöpfte Kranke gekommen. Lieschen nahm ein Buch von dem Tisch und setzte sich an das Fenster, durch dessen Vorhänge ein schmaler Streifen des Tageslichtes fiel; sie lehnte den kleinen Kopf in das Polster des Stahles und schloß die Augen. Wie wunderbar war es doch, daß sie jetzt hier oben im Schlosse saß, welches sie nie geglaubt hatte wieder zu betreten! Die Muhme hatte sie eines Morgens stürmisch geweckt, und in der Wohnstube fand sie Nelly, die in thaunassen Kleidern auf dem Sopha lag, ohne Besinnung. Wie war sie erschrocken gewesen! Es waren Stunden vergangen, ehe man das arme Kind wieder zum Bewußtsein gebracht, aber ehe es noch soweit gekommen, da – da hatte sich die Thür des Wohnzimmers im väterlichen Hause geöffnet, und – er hatte auf der Schwelle gestanden. Sie hatte aufgeschrieen vor Staunen und Schreck, ja vor Schreck, denn er, der da eingetreten war mit dem schmerzenstiefen Zug um den Mund, die Augen so ausdruckslos auf sie geheftet – er war der frühere Army nicht mehr, nicht mehr der lustige, übersprudelnde Army mit den stolzen schönen Zügen.

„Ist meine Schwester nicht hier?“ hatte er tonlos gefragt, und dann, als er diese erblickt, wie sie noch immer bleich und bewußtlos dagelegen, da war etwas wie tiefes Mitleid über sein Gesicht gezogen.

Was weiter geschehen? Die Muhme und er, sie hatten leise in flüsterndem Tone gesprochen, für Lieschen aber waren nur die Worte verständlich gewesen: die Mutter sei schwer krank, er brauche Hülfe, die Sanna sei so ungeschickt und die Großmama klage über Migräne; und nun auch noch Nelly, die arme Nelly!

„Ich gehe mit,“ hatte Lieschen erklärt. Und dann war sie, neben ihm, in tiefem Schweigen durch die herbstlich stille Natur geschritten. Kein Wort sprach er damals mit ihr, und kein Wort war bis heute über seine Lippen gekommen, so oft er auch leise in das Krankenzimmer trat und die Vorhänge des Bettes zurückschlug, um die Mutter zu sehen.

Und Lieschen wußte es, warum er so finster, so schweigsam war. Der blitzende Verlobungsring an seiner Hand fehlte, und die Phantasien der Kranken hatten die unglückliche Thatsache ja so unverschleiert ausgeplaudert. O, dieses schöne, falsche Geschöpf! Wie haßte Lieschen die Treulose! Wie recht hatte Nelly gehabt, als sie damals sagte: „Sie liebt ihn nicht.“ Aber er – wenn sie ihm doch ein paar tröstende Worte sagen könnte!

Da öffnete sich leise die Thür der Krankenstube, und Nelly trat herein.

„Wie sanft sie schläft!“ flüsterte sie, mit einem Blick auf die Kranke und setzte sich zu den Füßen der Freundin auf ein Bänkchen; „Gott sei Dank! Der Arzt meint, die Gefahr sei nun vorüber; ach, Lieschen, wie glücklich bin ich in dieser Hoffnung! Ich fühle mich auch jetzt wieder kräftig, und Du sollst diese Nacht schlafen, Du gutes Herz!“

„Nein, Du sollst es, Nelly. Keine Widerrede!“ sagte Lieschen bestimmt, „der Doctor will unter keiner Bedingung etwas davon wissen, daß Du wachst. Nachher nimmst Du Dir ein Tuch um und gehst ein wenig in die freie Luft; Dein Bruder begleitet Dich gewiß gern.“

Nelly schüttelte traurig das Köpfchen. „O ja, er kommt wohl mit – aber Lieschen. Du glaubst es nicht, wie schrecklich es ist, so allein mit ihm zu sein! Er geht finster neben mir her, und dann plötzlich fängt er lustig an zu pfeifen, wie ein Verzweifelter. Ach, bei Dir, Lieschen, ist mir am wohlsten. Wenn Du nicht wärst und die Muhme, und wenn Deine gute Mutter nicht so für uns sorgte, dann sähe es schlimm aus hier oben.“

„Aber, Nelly!“ flüsterte erröthend das junge Mädchen und legte die Hand auf den Mund ihrer Freundin. – –

Während die beiden jungen Mädchen im Krankengemach solche Worte tauschten, saß die alte Baronin grübelnd oben in ihrem Zimmer. „Einmal muß es sein,“ sagte sie endlich halblaut vor sich hin, „ich muß mit ihm sprechen, was nun eigentlich werden soll.“ Sie erhob sich und klingelte.

„Ich lasse meinen Enkelsohn bitten, zu mir zu kommen,“ befahl sie kurz und unfreundlich der eintretenden Sanna und nahm ihren Platz wieder ein.

Durch die rothen Vorhänge stahl sich nur ein mattes Licht in die Räume, denn draußen hatte sich der Himmel bezogen und ein scharfer herbstlicher Wind begann mit Macht die Blätter von den Bäumen zu fegen; im Kamine flackerte ein Holzfeuer und warf leuchtende Streifen auf die rothen Polster und Vorhängen die verblichenen Farben loderten fast in ihrer früheren Purpurgluth wieder auf, wenn solch ein züngelnder Reflex sie traf; finster sah die Baronin in die spielenden Flammen.

„Herein!“ rief sie, als jetzt ein rasches Pochen an der Thür erschallte.

„Ich wollte Dich eben um eine kurze Unterredung bitten, Großmama,“ begann Army eintretend nach einer Verbeugung und blieb hinter dem Stuhle stehen, den ihm die alte Dame mit einer Handbewegung anwies. „Es geht besser mit der Mama. Ich werde abreisen.“

„Wirst Du im Dienste bleiben können?“ fragte die alte Baronin tonlos.

Er blickte finster zu Boden. „Ich weiß es nicht,“ sagte er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 786. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_786.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2016)