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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

O, freut Euch doch zu dieser Stund’,
Wo Fried’ die Welt umschließt!
So lächelt hold des Kindes Mund. –
Gelobt sei Jesus Christ!

Ihr Menschen alle, groß und klein,
Kniet nieder fern und nah
Und dankt dem Herrn auf seinem Thron:
Das Licht der Welt ist da.“

Leise verhallten die letzten Töne des alten Weihnachtsliedes in dem hohen Gemache; es blieb still drinnen; für einen Jeden hatte es andere Erinnerungen geweckt, und doch wurzelten sie alle in demselben Boden.

Die kränkelnde Frau dort im Sessel, sie gedachte der Zeiten, wo sie als junge Mutter ihrem Knaben diese Worte eingeprägt, damit er sie dem Vater unter dem prächtigen Weihnachtsbaume wiederholen sollte; sie sah wieder den reizenden Jungen, von ihrem Arme umfaßt, vor dem schönen Manne stehen; sie war neben dem Kinde hingeknieet und legte ihm die kleinen Hände betend in einander, von den Zweigen des Baumes glänzte Licht um Licht und strahlte zurück aus den treuen glänzenden Kinderaugen, er mußte ja auch stolz sein auf seinen Sohn. „Nun bete, mein Junge!“ und die klare Kinderstimme hatte so rührend ernsthaft gesprochen:

„O, freut Euch doch zu dieser Stund’,
Wo Fried’ die Welt umschließt!“

Dem jungen Manne stand nicht dieser Abend vor Augen; er war aus seiner Erinnerung geschwunden, aber er sah sich neben zwei kleinen Mädchen dort unten in der Stube der Muhme. Beide saßen auf dem Bänkchen zu den Füßen der alten Frau, die rosigen Mündchen weit geöffnet, die Augen ernsthaft in die Ferne gerichtet; sie sangen, zwar nicht kunstgerecht, aber doch so tapfer und vor Weihnachtsfreude glühend:

„Und um das arme Kripplein strahlt
Ein wunderglänzend Licht,
Ein Kindlein liegt auf harter Streu –“

„Army singt nicht mit, Muhme,“ hatte die Größere den Gesang unterbrochen und fragend zu ihr aufgeschaut.

„Dann giebt’s nachher auch keine Pfefferkuchen, wenn der Knecht Ruprecht kommt,“ war die Antwort gewesen.

Da war die Kleine zu ihm getrippelt, „Army, mitsingen!“ hatte sie mit Thränen in den blauen Augen gebeten und als er trotzig den dunklen Lockenkopf geschüttelt, da hatte sie ganz trostlos die Händchen vor das Gesicht geschlagen. Und dann war Knecht Ruprecht gekommen in einem großen rauhen Pelz und hatte mit den Nüssen im Sacke gerasselt und drohend eine Ruthe unter dem Arme hervorgezogen. „Sind die Kinder artig, Muhme? Können sie auch beten?“ hatte er mit hohler Stimme gefragt.

„Ja, die Mädchen wohl, aber der da, der Junge, der ist ein kleiner Trotzkopf, der nicht sein Weihnachtslied singen will; den nimm nur getrost in Deine Schneehöhle mit, Herr Ruprecht!“ Und da war das kleine Mädchen laut weinend und ihre Angst vergessend zu dem gefürchteten Manne hinübergelaufen.

„Nein, nein, lieber Onkel Ruprecht, nimm den Army nicht mit! er ist nicht unartig; ich will auch keinen einzigen Pfefferkuchen haben.“ Und Nelly hatte mit eingestimmt in das trostlose Weinen, und schließlich mußte Knecht Ruprecht abziehen, ohne ein Gebet gehört zu haben, und das Trösten der Muhme und das Weinen der Kleinen scholl hinter ihm drein. Nur er, der Böse, weinte nicht; er lachte, als der letzte Zipfel des Pelzmantels verschwunden war, und behauptete kecklich, es sei gar nicht Knecht Ruprecht gewesen, sondern der Peter, der Kutscher, in Onkel Müllers umgekehrtem Pelze.

An all diese trauten Erlebnisse des Kinderherzens dachte Army zurück, und unwillkürlich drängte sich ihm die Frage auf die Lippen: „Wißt Ihr noch?“ Dann schwieg er, wie erschreckt über seine Worte, die so unheimlich laut durch das stille Zimmer tönten; sie waren ja alle längst vergangen, diese Kinderträume – er war ein Mann geworden. Ein Mann? Nein, ein weichlicher Träumer, dem das bischen Unglück die Hand gelähmt! Dort oben saß sie jetzt, die alte Frau, und schrieb, um ihn zu retten, einen Brief, der ihr vielleicht der schwerste war im ganzen Leben, und sie that es, weil er kein Mann war.

„Ich muß nach Hause.“ Lieschen nahm ihr Pelzjäckchen vom Stuhl.

„O, bleibst Du nicht heute Abend?“ fragte Nelly.

„Ich danke, ich kann leider nicht,“ erwiderte sie zögernd, „Pastors bekommen heute bei uns bescheert, weißt Du Nelly, und da darf ich doch nicht fehlen.“

„Ah, richtig, aber komm bald wieder!“

„Gewiß!“

„Darf ich Sie geleiten?“ tönte da auf einmal Army’s Stimme in ihr Ohr.

„O nein, ich danke,“ stammelte sie verwirrt, „ich –“

„Es ist heute Feiertag – Sie könnten Betrunkenen begegnen,“ schnitt er ihr die Antwort ab und nahm Mütze und Degen.

Es war ein wundervoller Winterabend, der sich draußen über weihnachtliche Erde gesenkt; kein Lüftchen bewegte sich; in lautloser Stille lag die Welt da in eine leuchtend weiße, steckenlose Schneedecke gehüllt, überwölbt von einem Himmel, von dem Millionen Sterne durch die klare kalte Luft herabfunkelten. Dort unten im Dörfchen blickten die erleuchteten Fenster unter den schneebedeckten Dächern hervor, und hier oben am Scheidewege, an der verschneiten Sandsteinbank, da steht ein schlankes Paar; wie verwundert streckt die alte Linde ihre kahlen Aeste über die jungen Häupter hinaus, als müsse sie die Beiden verstecken, daß kein Auge sie erschaut. Ist es denn jetzt Zeit zum Lieben? scheint jedes kahle Zweiglein zu fragen, jetzt wo keine Nachtigall singt, kein grünes Land einen Liebesgruß flüstern kann?

Und doch – des Mädchens Kopf liegt so still an seiner Brust, und in den blauen Augen, da glänzt ein unermeßlicher Himmel von Liebe und Glück.

„Ich soll Dir helfen, daß das Leben Dir nicht mehr so finster ist, Army? Wirklich?“

„Wenn Du wolltest, Lieschen!“ erwiderte er leise und küßte sie auf die Stirn.

„Ob ich will?“ fragte sie erglühend, und schmiegte sich fester an ihn, „ob ich glücklich sein will?“ – –

Wie war es nur gekommen? Wie war ihr nur zu Muthe, als sie jetzt allein über den Mühlensteg schritt? Wie im Traum klangen ihr seine ernsten Worte nach, fühlte sie den Kuß auf ihrer Stirn wie Feuer brennen – und doch war es Wirklichkeit, erlebte Wirklichkeit, was ihr Herz so hoch klopfen machte? Und morgen – ihr klopfendes Herz stockte jäh, als sie die erleuchteten Fenster des Hauses sah – dann wird er zu ihrem Vater kommen. Sie war Braut, eine glückliche Braut, seine Braut!

Sie blieb stehen und schaute zurück: dort drüben mußte er jetzt gehen, vorüber an der einsamen alten Linde, die trotz Schnee und Eis das süßeste Glück erblühen sah heute Abend. Er hatte sie lieb, wirklich lieb? Sie schüttelte den Kopf über das Wunder, das nie gehoffte Wunder, und die Eltern und die Muhme mußten sie ihr nicht ansehen, daß sie –? Nein, nein, jetzt noch nicht, erst wenn Pastors fort sind, dann wollte sie es dem Vater sagen, daß morgen Einer kommen wird, der –

Und nun trat sie in die Hausthür; die alte Schelle klapperte heute so abscheulich laut, und sie wollte doch erst unbemerkt in ihr Stübchen hinauf. Nein, das ging nicht, denn eben hob die Muhme den Vorhang vom Fenster der Stubenthür, und gleich darauf wurde diese geöffnet.

„Ei, Du Ausbleiberin!“ tönte freundlich die alte Stimme, „just wollte ich die Dörte schicken, glaubte schon, es hätte Dich Einer mitgenommen unterwegs.“

„Guten Abend!“ erwiderte sie, aber die Stimme versagte ihr beinah vor stürmischem Herzklopfen, „ist’s wirklich schon so spät?“

„Nun, ich meine,“ sagte die alte Frau und schloß die Thür hinter ihr. Da saß der Vater an dem runden Tische, und die Mutter mit dem Onkel Pastor auf dem Sopha.

„Da bist Du ja!“ begrüßte der Vater sie freundlich und zog die schlanke Gestalt an sich, „was sagst Du nun, Liesel? Denke doch, die Kinder in der Pfarre haben ’s Scharlach und können nicht zur Bescheerung kommen. Gelt, das ist traurig?“

„Sehr traurig!“ wiederholte sie, aber ihre Augen leuchteten so wunderbar, und um ihren Mund spielte ein so glückliches Lächeln; das stand gar nicht im Einklang mit ihren Worten. Zu jeder anderen Zeit würde sie in lautes Bedauern ausgebrochen sein, aber heute – sie hatte kaum ein Verständniß für das, was ihr da eben mitgetheilt worden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 803. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_803.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2016)