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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

„Einen Augenblick nur – ich lege oben in meiner Stube ab; ich bin gleich wieder da,“ und fort war sie.

„Was hat nur das Kind?“ fragte Frau Erving ängstlich.

Das Kind aber, das stand hochaufathmend in seinem kleinen Stübchen. Die Pelzjacke und Mütze flogen auf den nächsten Stuhl, und dann sank sie auf die Kniee vor ihrem Bette, wie sie jeden Abend ihr Gebet sprach, sie drückte den glühenden Kopf in die Kissen und die Hände falteten sich, aber es kam kein Wort über ihre Lippen, nur im Herzen wogte ein verworrenes Dankgebet, ein namenloses Bangen, ein unendliches Glücksgefühl. Endlich sprang sie empor und öffnete das Fenster, „da drüben, da drüben!“ flüsterte sie und winkte mit der Hand, als könne er es sehen. Ob er jetzt an sie dachte? Ob er seiner Mutter gestanden, daß er das kleine kindische Lieschen aus der Mühle im Arme gehalten und geküßt? Und Nelly?

„Lieschen! Lieschen!“ rief es da unten.

„Gleich!“ antwortete sie – es klang wie ein jauchzender Aufschrei; sie nahm das Licht und trat vor den Spiegel; dunkelglühende Augen schauten aus dem Glase ihr entgegen. Seine Braut flüsterte sie, „seine Braut!“ und tiefes Roth überflog ihr Gesicht; sie löschte schnell das Licht und eilte hinunter.

„Sie sind schon in der Eßstube, Fräulein,“ rief Dörte ihr zu, und dann kreischte sie plötzlich laut auf. „Jesses, Jesses, Jesses, Fräulein, es ist ’ne heimliche Braut im Hause; sehn Sie doch – eins, zwei, drei Lichter!“

Das junge Mädchen, welches schon den Drücker der Eßstubenthür in der Hand hatte, drehte sich über und über erröthend um – richtig, da stand die Dörte mit der Küchenlampe; dort hing die grün lackirte Flurlampe an der Wand, und die Muhme war eben aus ihrem Stübchen getreten und hielt die Hand schützend vor den flackernden Wachsstock, daß der Schein so recht hell auf das alte gute Gesicht fiel.

„Es ist doch die Möglichkeit!“ sagte sie wie ärgerlich. „Mädel, Du bist rein toll; da jauchzt sie los, daß ich zum wenigsten meine, sie hat das große Loos gewonnen. Heimliche Braut – dummer Schnack, wirst es wohl selbst am besten wissen, wer’s ist! Steht doch alle Abend an der Gartenpforte ein Liebespaar, trotz dem tiefsten Schnee. Geh’ hinein, Kind! Ich komme schon nach,“ wandte sie sich an Lieschen, die zögernd die Thür zur Eßstube öffnete und mit der alten Frau hereintrat.

Da saßen sie schon, der Vater, die Mutter und der Onkel Pastor, und nun sprach dieser das Tischgebet, und dann erschien Dörte mit dem duftenden Gänsebraten, den der Hauswirth jetzt zerlegen wollte.

„Und weißt Du, Pastor,“ sagte er in Fortsetzung eines unterbrochenen Gespräches, und strich dabei das Messer an dem zierlichen Schleifstahl hinunter, „es wäre ein wahrer Segen, wenn die Geschichte wirklich in’s Leben träte, aber glauben kann ich nicht daran; es heißt schon seit zehn Jahren so.“

„Ja, ich kann Dir auch nichts weiter sagen, Friedrich,“ erwiderte der Pastor, „als was ich in B. neulich hörte von dem Baumeister Leonhardt; er sagte, zum Frühjahr käme eine Commission, um die verschiedenen Strecken zu erwerben, und sobald dies geschehen, geht das Bauen los; meinetwegen, Eisenbahn oder nicht! Ich wollte nur –“ er strich mit der Hand über die Stirn.

„Sie ängstigen sich wegen der Krankheit der Kinder, Herr Pastor?“ fragte nach einer Pause teilnehmend die Hausfrau.

„Nun ja, ich will es ehrlich gestehen,“ erwiderte er und sah wirklich bekümmert aus, „wir stehen ja Alle in Gottes Hand, aber das Menschenherz ist leicht verzagt; die heimtückische Krankheit tritt in diesem Jahre ganz besonders gefährlich auf, im Dorfe liegen ja Haus bei Haus die Kleinen; aus mancher Familie habe ich eins oder gar zwei zu Grabe geleitet, und bei allem Beugen unter den Willen des Herrn, Minnachen – die Angst läßt sich nicht fortjagen.“

„Um Gotteswillen, Onkel, so schlimm ist es?“ Lieschen sah mit großen erschrockenen Augen zu ihm hinüber; sie kam sich plötzlich im höchstem Grade lieblos vor, hatte sie doch in ihrem seligen Glück seine Angst erst gar nicht bemerkt. „Soll ich mitkommen? Soll ich helfen?“

„Ei behüte, Lieschen, das ist eine gefährliche ansteckende Krankheit – um die Welt nicht!“ sagte freundlich der geistliche Herr und drückte ihr die kleine Hand, „nein, nein, da wird meine Rosine schon allein fertig; man soll sich nicht leichtsinniger Weise in Gefahr begeben. Du bist das einzige Kind – das muß sich schonen für die Eltern; nein, ich danke Dir, Lieschen; es geht schon so. Uebrigens ich muß bald nach dem Essen wieder fort; die Rosine hat mich mit aller Gewalt heraufgejagt.“

„Na, komm, Pastor,“ sagte der Hausherr herzlich und hob sein Glas, „auf daß es bald besser gehe daheim und alle Angst umsonst war!“

„Gott gebe es!“ Das ernste Gesicht des Pastors hellte sich wieder auf; „aber nun ist’s genug davon,“ meinte er sich zusammenraffend, „ich will Euch nicht auch noch die Festfreude verderben, gelt Lieschen? Lach’ nur wieder. Sahst vorhin so strahlend aus. Was hattest Du denn mit der Nelly? Dein Gesicht glänzte ja wie eitel Lust und Freude.“

Lieschen erröthete wie eine Purpurrose.

„Nun, dort oben wird’s wohl nicht gerad’ zu strahlend aussehen,“ fiel Herr Erving ein.

„Ach ja, da hat’s auch sein bitteres Leid – es ist wahr,“ seufzte der Pastor; „kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen! Es ist so auf der Welt.“

„Du lieber Gott,“ meinte die alte Frau, „so ein bischen Gottvertrauen gehört schon immer mit dazu; um den Jungen, den Army, aber, da ist mir schon gar nicht bange; so ein frisches junges Blut, dem wird das bissel falsche Lieb’ nicht gleich das Herz abdrücken, dazu ist er ein zu stolzes Gemüth, und Liebesweh ist netter Liebeszunder, wird bald ’nen andern Schatz haben.“

„Nun, das wäre Nebensache, Muhme, aber die leidigen Verhältnisse sonst noch, und –“

Klapp, da war die Thür gegangen und das junge Mädchen verschwunden; und da saßen die Zurückbleibenden und staunten sich in stummer Verwunderung an.



14.

Der Onkel Pastor hatte sich auf den Heimweg begeben, ohne das junge Mädchen wiedergesehen zu haben. Ein Ruf im Hausflur nach ihr war unbeantwortet geblieben.

Die Muhme suchte ihr Liesel allenthalben. In der Wohnstube war sie nicht, in der Weihnachtsstube auch nicht, und nun öffnete sie vorsichtig die Thür zu dem Zimmer des Mädchens; es war fast dunkel drinnen, aber dort am Fenster stand eine schlanke Gestalt und schaute unbeweglich in die schweigende schneehelle Nacht.

„Liesel!“ rief die alte Frau leise.

„Muhme,“ klang es beklommen zurück.

„Sag’ Kind, was ist Dir denn? Hast doch nicht Kopfweh, bist doch nicht krank?“

Aber statt aller Antwort umschlangen sie die weichen Mädchenarme; ein glühendes Gesicht barg sich an ihrem Hals, und die Gestalt, die sich an sie schmiegte, bebte in verhaltenem Schluchzen.

„Kind, Liesel, was ist’s denn?“ fragte die alte Frau erschreckt, „hat Dir Jemand was gethan?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Was ist’s denn, mein Herzel?“ und sie zog die Widerstrebende zum Sopha, setzte sich neben sie und hielt sie fest umschlungen.

„Ach Muhme, liebste, beste Muhme –“

„Was denn, mein Herzpünktchen? Nun? Du lachst wohl gar?“ fragte sie gleich darauf, „Du närrisches Ding, was soll das heißen?“

„Ach, ich möchte lachen und weinen und – ich weiß nicht was Alles,“ flüsterte sie; „schließ’ die Augen, Muhme! Ich will Dir sagen, weshalb – ach, ich habe solche Angst vor Dir –“

„Angst vor mir? Ja, das muß ich sagen: das sieht Dir ähnlich – na fix, fix – was hast Du begangen?“

„Ich – ich – bin eine Braut geworden, Muhme,“ sagte sie stockend; „hast Du mir es nicht gleich angesehen?“

„Eine Braut? Kind!“

„Ich bin ja so glücklich, so glücklich – der Army –“

„Der Army!“ stöhnte die alte Frau, und die Zähne schlugen ihr vor Schreck zusammen. „Der Army? Du eine Braut?“ wiederholte sie tonlos. „Also doch, also doch!“

„Muhme, hast Du denn kein freundlich Wort? Wir haben uns ja so lieb, so lieb!“

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