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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


rannen ihr über die gefurchten Wangen, und ihre Hände fuhren hastig an dem Schürzensaum hinunter.

„Du glaubst auch, Muhme –?“ Es klang wie ein Aufschrei, aber noch kam keine Thräne in Lieschen’s Augen.

„Vater, ich weiß, daß es nicht so ist; es ist nicht möglich, nein, es ist nicht möglich –!“

„Ich begreife Deinen Schmerz, Lieschen,“ sagte er ruhiger, „aber wie konntest Du so thöricht sein und an eine plötzlich erwachte Neigung glauben? Du bist sonst ein so vernünftiges kluges Mädchen; sieh, er kennt Dich schon lange und zog doch eine Fremde Dir vor; er hat niemals daran gedacht, Dich zu lieben, Dich heirathen zu wollen; es waren Kinderspiele, die Euch einst zu einander führten, weiter nichts, und jetzt, jetzt, wo er nicht aus noch ein weiß, erinnert er sich des kleinen Mädchens, das ja Vermögen besitzt, und verlangt ihre Hand, um sich zu retten, und sie ist so thöricht, dies für Liebe zu halten. Muß ich erst an Deinen Mädchenstolz appelliren, Lieschen?“

Sie antwortete nicht; nur ihre Augen sahen mit beinahe irrem Ausdrucke zu dem Vater hinüber.

„Die Mutter Nelly’s ist auch so ein Opfer geworden, mein Kind! Ist sie Dir jemals beneidenswert erschienen? Muß sie sich nicht stets grenzenlos gedemüthigt vorgekommen sein, ihrem Gatten gegenüber, der sie nur als lustige Zugabe zu ihrem Vermögen betrachtete? Weil er die Frau nicht liebte, führte er ein wildes tolles Leben und als ihre Mitgift verschwendet war, da erschoß er sich – ist das nicht namenloses Elend? Lieschen, Kind, und würdest Du verlangen, daß ich Dich in einen solchen Abgrund stürzen lasse?“

Da lösten sich die gefalteten Hände von Lieschens Brust; sie faßten nach dem Tische, an dem sie stand; ihre blassen Lippen bewegten sich leise, als wollten sie sprechen, aber kein Wort kam hervor. Die Tassen auf dem Tische klirrten hörbar von dem heftigen Zittern des Mädchens.

„Liesel! Um Gotteswillen!“ rief die Muhme und umschlang sie mit den Armen.

„Ich danke Dir, Vater,“ sagte Lieschen, sich losmachend, tonlos, „ich – ich werde Dir gehorchen.“ Sie wandte sich und schritt langsam nach der Thür; wie in schwindelndem Kreise wirbelte es vor ihren Augen; sie hörte noch die Stimme der Muhme; dann fiel die Thür hinter ihr zu. Sie wankte die Treppe hinan; sie mußte sich schwer auf das Geländer stützen, und endlich, endlich war sie oben in ihrem Stübchen und sank auf das kleine Sopha.

Der Vater kam herauf und streichelte ihr die Wangen und nannte sie sein gutes verständiges Kind, das noch einmal sehr glücklich werden würde. Die Muhme setzte sich neben sie und weinte still vor sich hin, und dann und wann kam ein gutes Wort des Trostes über ihre Lippen; Lieschen hörte Alles wie aus weiter Ferne, nur das Eine wiederhallte laut und deutlich in ihrer Seele: „Er liebt mich nicht: er hat mich nicht gewollt, nur meine irdischen Güter – aus Noth.“ War es denn wirklich erst ein paar Stunden her, seit sie unter der alten Linde ihren Kopf an seine Brust gelegt und den Worten gelauscht hatte, die er ihr zuflüsterte? War es nicht schon eine Ewigkeit, eine lange Ewigkeit, und lag nicht zwischen jetzt und vorhin ein ganzes Meer von Leid und Weh?

Sie stöhnte laut auf und preßte die Hände gegen die Brust. Ach, ihre kurze Seligkeit, ihr süßer Liebestraum – vorbei, vorbei für ewig! Glühend stieg ihr das Blut in die Wangen, als sie daran dachte, daß sie ihm so vertrauensvoll gestanden, wie sehr sie ihn liebe; es war ihm ja ganz gleichgültig, konnte ihm nur gleichgültig sein; er wollte ja nicht ihre Liebe; er wollte ihr Geld. Wo sollte sie sich nur hinverbergen, damit sie Niemand sähe? Sie schloß die Augen und dachte: wenn er nun kommen und der Vater seinen Antrag zurückweisen würde. Das schöne stolze Gesicht, wie würde es anzuschauen sein in jenem Moment? „Und dann wird er gehen,“ dachte sie. Sie sah ihn im Geiste aus des Vaters Zimmer treten und durch die Hausflur schreiten, die hohe Gestalt stolz aufgerichtet; er wird sich nicht umwenden nach ihren Fenstern; er wird gehen – gehen auf Nimmerwiedersehn. Auf Nimmerwiedersehn – ein bitteres, hartes Wort, ein Wort, das namenloses Weh birgt!

„Ach, Muhme,“ stöhnte sie in ihrer Qual, und die alte Frau beugte sich hernieder zu ihr:

„Weine Dich aus, mein Herzel, weine Dich aus! Es wird besser darnach.“

„Ach, wenn es nur erst vorüber wäre!“ flüsterte sie.

„Es gehen auch die schwersten Stunden vorüber, wenn man nur beten kann.“

„Ich kann nicht beten, Muhme, ich kann nicht.“ – –

Und die Nacht verging, und der Tag brach an, wo er den Vater sprechen wollte. Auf Lieschen’s Gesicht lag eine fast unnatürliche Ruhe heute früh, nur ihre Augen glühten fieberhaft; wie immer that sie ihre kleinen Pflichten im Haushalt, und dann setzte sie sich in ihr Zimmer und nahm ein Buch; die Muhme kam herauf und fing freundlich an zu sprechen von gleichgültigen Dingen; sie hörte es mit an und antwortete, und dann ging die alte Frau wieder ihren wirtschaftlichen Geschäften nach. Unaufhaltsam rückte der Zeiger der Uhr weiter, und jetzt stand er auf Elf – da auf einmal flog ein dunkles Roth über ihr Gesicht; sie hatte seinen Schritt im Hausflur erkannt, und jetzt schallte des Vaters Stimme herauf. Sie machte eine Bewegung, als wollte sie zur Thür eilen, aber dann senkte sie wieder die Augen aus das Buch; die Blätter zitterten unter ihrer Hand; sie legte das Buch auf den Tisch und beugte sich darüber. Unwillkürlich las sie leise:

„So laß mich denn, bevor du weit von mir[WS 1]
Im Leben gehst, noch einmal danken dir!
Und magst du nie, was rettungslos vergangen,
In schlummerlosen Nächten heimverlangen.“

„Was rettungslos vergangen!“ wiederholte sie fast laut.

„Und wie viel Stunden dir und mir gegeben,
Wir werden keine mehr zusammenleben.“

„Keine mehr!“ Das Buch fiel zur Erde. War es nicht unrecht von ihr, ihn gehen zu lassen in ein irres Leben, ohne Halt? Sie hätte ihn retten können vor Noth und Schande; es war ja doch der Army, der alte gute Spielcamerad, und jetzt ist es noch Zeit, noch konnte Alles gut werden!

Sie lief aus dem Zimmer zur Treppe; dort blieb sie stehen. „Ach nein,“ sagte sie – sie vergaß es ja; er liebte sie nicht; wieder mußte sie ihren Mädchenstolz anrufen, der vor der alten heißen Liebe geflüchtet war. Wie lange er beim Vater blieb! Horch, da ging die Thür – war’s der Army? Sie beugte sich über das Geländer; da schritt er eben nach der Hausthür – sie sah sein dunkles Kraushaar unter der Mütze hervorquellen; wie aufrecht er dahin ging! Mit lauten gewaltigen Schlägen pochte ihr Herz; die Erinnerung an gestern überkam sie mit aller Gluth, mit aller Seligkeit, und jetzt, jetzt faßte er die Thür; wenn sie wieder in’s Schloß fiel, dann war es vorbei – für immer – rettungslos vergangen. „Army!“ schrie sie plötzlich auf und flog die Stufen hinunter, aber da schlug eben der eichene Flügel zu, und laut dröhnend klang die Schelle durch den hohen Flur. „Army!“ wiederholte sie noch einmal leise und streckte die Arme aus; ein heißer Thränenstrom quoll aus den Augen und langsam schritt sie wieder hinauf in ihr kleines Stübchen. Rettungslos vergangen! Wie öde war die Welt geworden, wie namenlos öde!


(Fortsetzung folgt.)

Anmerkung (Wikisource)




Am Sarge des großen Kurfürsten.

An der nämlichen Stelle Berlins, wo in unseren Tagen eine Reihe von Gebäuden zwischen der Brüder- und Breitenstraße ihre nördliche Front dem Schlosse zukehrt, stand bis zum Jahre 1750 die Pfarrkirche des Berliner Schlosses – der Dom „Zur heiligen Dreifaltigkeit“. Dominicaner hatten anfänglich bei Gründung des Schlosses ein Kirchlein gebaut; das wuchs mit dem neuen Fürstengeschlechte der Mark, bekam mit der Zeit zwei stattliche gothische Thürme, aber als es im äußern Ausbau vollendet war, da fehlte im Innern etwas zu einer Kirche sehr Wesentliches – der alte Glaube. Von 1539 an wurde darin lutherisch gepredigt, dann sechsundsiebenzig

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 824. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_824.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2016)