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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Pariser Straßentypen.
Von Ernst Eckstein.
(Schluß.)

Unbekannt mit den Stimmungen, die wir in Nr. 49 gezeichnet haben, ist der Porteur de farine der Mehlträger, der sein Mehl und die Glanzlosigkeit seines Daseins mit horazischer Gleichmüthigkeit trägt und keine Bedürfnisse kennt, als eine dampfende Kohlsuppe mit Speck und ab und zu einen Schluck vor der Zinkplatte des Weinverzapfers. Der Porteur de farine ist eine grobknochige, bäuerische, wenig intelligente Erscheinung. Dafür glänzt er durch einen unverkennbaren Ausdruck von Gutmüthigkeit und seelischer Harmonie. Eigenthümlich ist ihm der gigantische hellgraue Filzhut, der fast an die Kopfbedeckung spanischer Geistlicher anklingt. Beugt er den Kopf vor, so stellt dieser Filzhut gleichsam eine Verlängerung des Rückens dar. In der That schleppt der Porteur de farine seine wuchtigen Mehlsäcke mit Kopf und Schultern, ein Atlas im Dienste der großstädtischen Ernährung.

Der Mehlträger spricht in der Regel einen ziemlich unpariserisch klingenden Dialekt. Dabei ist er ein Meister des kraft- und stoffgewürzten Wetterns und Fluchens.

Wie artig und gentlemanlike führt sich dagegen der Garçon de café, der Kellner des Kaffeehauses, bei seinen Gästen ein! Jede Bewegung ist bon ton Discretion, Tact, seine Zurückhaltung. Er servirt uns die halbe Tasse, etwa wie ein junger Poet seiner Angebeteten ein Sonett überreicht. In der graziösen Stellung eines Finanzministers, der seinem Könige Vortrag hält, wartet er, bis wir die carte du jour studirt und die Gerichte für unser Diner gewählt haben. Sind wir Stammgäste, so macht er uns auf die Vorzüge von sole au gratin oder auf die Hechtpastete besonders aufmerksam. Für diese Liebenswürdigkeit erwartet er beim Schluß unserer Tafelgenüsse eine Verdoppelung des üblichen Trinkgeldes.

Wenn irgend Jemand im Stande wäre, eine authentische Chronik seines Jahrhunderts zu schreiben, so ist dies der Garçon de café. In der Maison dorée, bei Tortoni, bei Béfour, bei Brébant verkehrt so zu sagen die ganze Weltgeschichte. Gar manche große Dame von unberechenbarem Einfluß auf die Pariser Gesellschaft hat hier in verschwiegener Stille soupirt, mit dem Grafen X. oder dem Herzog von Z., der ein ganz vortrefflicher Mann, aber zum Leidwesen der Ethik nur nicht der ihrige war. Der Garçon de café sieht das Alles und weiß das Alles. Kein Schleier ist ihm zu dicht, kein Geheimniß zu unergründlich; aber er lächelt nur ganz flüchtig und verstohlen mit den diplomatisch geschnittenen Mundwinkeln, bringt die kalten getrüffelten Hühner, entkorkt die staubigen Pomardflaschen oder den für solche Soupers unvermeidlichen Schaumwein – und schweigt.

Auch mit dem Omnibusconducteur und seinem Vorgesetzten, dem Inspecteur macht der Fremde, der sich einigermaßen zu orientiren weiß, schon nach kurzer Frist nähere Bekanntschaft, zumal wenn die Droschkenkutscher die unerhörte Thorheit begehen, zur Zeit der allgemeinsten Nachfrage zu streiken. Der Omnibusconducteur trägt eine dunkelblaue Uniform, ein Käppi (képi), eine Geldtasche und verschiedene Bücher und Listen. Bei dem Inspector nähert sich diese Uniform etwas mehr dem üblichen Gesellschaftsanzug. Insbesondere ist die kurze Jacke des Conducteurs mit dem Rock vertauscht. Die meisten Omnibusconducteure von Paris haben eine gewisse Familienähnlichkeit; sie erinnern an die Soldatentypen des „Journal amusant“; nur daß der Pionpion – so heißt der Infanterist im französischen Volksmunde – etwas weniger Intelligenz beurkundet. Der Omnibusconducteur ist durch einen Paragraphen des Reglements ausdrücklich zur Galanterie angehalten. Damen und älteren Personen muß er beim Ein- und Aussteigen in discreter Weise behülflich sein. Die fortwährende Ausübung dieser schönen Pflicht verleiht seinem Wesen jenen Hauch wahrer Humanität, den man sonst auch bei Lootsen und Feuerwehrleuten bemerkt.

Im Dienste der Humanität stehen auch die Barmherzigen Schwestern (Soeurs de charité), schlichte Gestalten in großmächtigen Flügelhauben, deren schneeige Zipfel man gar häufig wie ungeheure Schmetterlinge durch das Gedränge der Großstadt einherflattern sieht. Diese Soeurs de charité bilden ihrer äußerlichen Physiognomie nach gewissermaßen ein Pendant zu den Mehlträgern. Eine staubgraue Biederkeit liegt über den keuschen Gewändern. Ist die Soeur de charité hübsch oder gar schön, so gewährt ihr Anblick etwas ungemein Rührendes, ist sie häßlich – und sie ist es nur allzu oft – so nimmt man doch den Eindruck des Ehrbaren und tugendhaften mit hinweg, und das will auf den großen Boulevards, wo so viele sociale Mißgestalten umher wandeln, immer etwas besagen.

Nicht ganz so streng nach den Geboten der Kirche, wie die Barmherzige Schwester, lebt der Pariser Student und seine übermüthige Gefährtin, Grisette geheißen. Die eigentliche Grisette – so betitelt nach dem gleichnamigen grauen Wollstoff, der ehedem bei den Pariser Arbeiterinnen sehr beliebt war – gehört zu den wenigen Typen der französischen Hauptstadt, die von Tag zu Tag seltener werden. Die Grisette von Ehedem war nicht schlimmer als Hunderte unserer deutschen Putzmacherinnen und sonstigen Kleinbürgermädchen, die in der Woche tüchtig und ehrlich arbeiten und des Sonntags einen „Schatz“ haben, mit dem sie in’s Grüne fahren oder zum Tanz gehen. Die Grisette, wie sie uns Henri Murger schildert, war das einfachste, schlichteste, harmloseste, uneigennützigste Geschöpf von der Welt. Ein Blumenstrauß oder, wenn’s hoch kam, eine Schleife für das reiche, nußbraune Haar machte sie überglücklich. Ja, es sind Fälle bekannt, in denen eine solche Grisette die großartigsten Züge von Selbstverleugnung und Aufopferungsfähigkeit an den Tag legte. Uebermuth und Leichtsinn waren ihre einzigen Fehler. Die strenge Moral, die zu dem Urtheil geneigt ist, diese beiden Fehler seien gerade genug, um ein Mädchen verächtlich zu machen, diese Moral wird, um gerecht zu sein, immerhin den großen Unterschied zwischen der Lebensauffassung des französischen Volkes und der des deutschen berücksichtigen müssen. Der Franzose denkt über gewisse Dinge freier und gleichmüthiger als wir, ganze Culturepochen haben ähnlich gedacht, wir sind also nicht befugt, an das Individuum einer fremden Nationalität den Maßstab unserer subjectiven Meinung zu legen. Unsere jungen Wittwen, die sich nach Ablauf des Trauerjahres höchst vergnüglich zum zweiten Male verheirathen, erscheinen dem Inder als der Ausbund sittenloser Entartung, und wer weiß, ob die wahre Ethik für diese Auffassung nicht mehr Anhaltspunkte darböte, als für Manches, was der gebildete Europäer moralwidrig findet. Kurz, die Grisette von Einst war just keine Heilige, aber doch nach französischen Begriffen ein ganz reputirliches Frauenzimmer. Leider gehören solche Exemplare neuerdings zu den Ausnahmen; aber sie sind keineswegs, wie die Boulevardsblätter behaupten, vollständig ausgestorben. Noch jetzt begegnet man der seltenen Species in der Rue de Buci und im Jardin du Luxembourg, wie sie lustig am Arm ihres flotten Ritters einherschreitet, frisch, blühend, einfach aber geschmackvoll gekleidet, und von unverwüstlicher Heiterkeit.

Gehört die Grisette zu den types qui s’en vont, wie der Franzose sagt, zu den Typen, die allmählich verschwinden, so erhalten sich zwei andere Erscheinungen des Pariser Straßenpflasters, der Marchand de coco und die Plaisir-Verkäuferin, mit unausrottbarer Zähigkeit.

Der Marchand de coco verkauft eine Art Süßholzwasser, das er in einem seltsam ausstaffirten Blechapparat auf dem Rücken trägt und aus einer Röhre zapft, die unter seinem Arm hervorgeht. An heißen Tagen hört man unaufhörlich sein monotones Geklingel, durch das er die Vorübergehenden zum Genuß des kühlenden, für unseren Geschmack aber höchst widerwärtigen Trankes einladet.

Die Plaisir-Verkäuferin bietet in einer großen Blechkapsel ein oblatenartiges Gebäck, „Plaisir“, feil. Wie der Cocohändler durch die Schelle, so macht sie sich durch eine hölzerne Klapper und durch ein ohrenzerreißendes Plärren bemerklich.„Voilà l’plaisir, Mesdames, ré-ga-lez-vous, Mesdames! Voilà le plaisiiiir!“ So tönt es unaufhörlich von den runzligen Lippen. Die Plaisir-Verkäuferin ist nämlich stets alt und häßlich. Die unschöne Kleidung und der schleppende Gang steigert den unerquicklichen Eindruck. Nur Eine kannte ich, die etwas Majestätisches

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 863. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_863.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)