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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

so erinnert uns das „Erwachen des Löwen“, das „Gebet der Jungfrau“ oder gar der kleine vielgereiste „Postillon“ schmerzlich daran, daß unser Zeitalter das der musikalischen Unwahrheit ist. Denn wirkliches Gefallen an solchen Fingerübungen findet – die Hand auf’s Herz – außer der ausübenden Künstlerin gewöhnlich nur die Frau Mutter, die das Geld für die Clavierstunden nun doch nicht weggeworfen sieht.

Ja es liegt in dieser Modekrankheit eine positive Gefahr für die geistige und sittliche Entwickelung des weiblichen Geschlechts. Nichts liegt dem Weibe näher, als eine Fülle unklarer Empfindungen, deren Woher und Wohin gleich bedenklich ist, und nichts erscheint mehr geeignet, diesen unklaren, verschwommenen Empfindungen neue Nahrung zuzuführen, als das textlose und deshalb meist gedankenlose Clavierspiel. Man entlasse aus dem erzwungenen Unterricht alle unbegabten Schüler und Schülerinnen, man verlange von den wirklich talentvollen den Vortrag gediegener Tondichtungen, aber man füttere nicht die Mittelmäßigkeit mit den Bettelsuppen unbekannter Holzmißhändler, und man ziehe nicht die göttliche Kunst der Musik in den Staub durch ein erlogenes Dudeldei! Ich wenigstens gestehe gern, daß ein einziges Volkslied, deren wir Deutsche unendlich viele besitzen, von der ganzen singhaften Familie im Chor gesungen, wenn es nicht anders geht, einstimmig, wenn es sein kann, mehrstimmig, mir eine reinere Freude bereitet, als ein ganzer Abend voll Capriccios und Nocturnos, vorausgesetzt, daß diese Compositionen nicht von Künstlern gesetzt sind und von Künstlerhänden gespielt werden.

Mit der Musik verbinden sich von selbst dramatische Darstellungen. Sie gewähren die willkommene Gelegenheit, die Aussprache zu bilden, das Gedächtniß zu üben, die körperliche Haltung zu veredeln, selbst den Charakter zu kräftigen und zu heben. Kein bürgerliches Haus ist zu klein, um seine Räume von Zeit zu Zeit zur Vorführung von einzelnen Scenen aus Trauerspielen und Schauspielen oder von ganzen Lustspielen hergeben zu können. Der leitende Gesichtspunkt muß wirkliches Interesse an der dramatischen Kunst sein, nicht aber darf die Koketterie den Regisseur machen, nicht die Liebelei hinter dem Vorhang hervorgucken. Wie ärmlich sind meist unsere üblichen Declamationen bei Polterabenden und Hochzeitsfesten! Immer dasselbe: bestellte Arbeit, fades Zeug. Hat ein Goethe nicht verschmäht, eine ganze Anzahl von Gelegenheitsdichtungen aus festlichen Veranlassungen zu schreiben, so wird auch unseren Poeten keine Perle aus der Krone fallen, wenn sie zu ähnlichen Zwecken Festspiele kunstreich und geschmackvoll zusammenstellen.

Ich komme zum Schlusse mit dem Bewußtsein, daß ich noch nicht zu Ende bin. Denn überschwänglich reich und wahrhaft unerschöpflich ist die Kunst, die ein guter und freundlicher Gott uns gab, die Häßlichkeit der wirklichen Dinge zu verhüllen, die Niedrigkeit des täglichen Denkens zu erheben, die Traurigkeit schmerzlicher Erfahrungen zu erheitern, um aus der Noth und dem Jammer der Erde in einen reineren und glücklicheren Himmel zu entfliehen. Nur dann aber ist die Kunst ein Gemeingut des ganzen Volkes, wenn sie auch am Herd des Hauses eine Heimstätte findet.

Jedes Kunstsinnes baar ist Keiner; jeder pflege ihn nach dem Maße seiner Anlagen, seiner Zeit und seiner Mittel! Jeder sei darauf bedacht, durch die Gestaltung seiner täglichen Umgebungen, durch Schönheit der Form und Farbe, Zusammenstellung des Passenden, Vermeidung des Ungefälligen und Störenden, durch Wort und That, durch Beförderung des Kunstgewerbes aller Gattungen, sich und den Seinigen sein Haus zu einer Stätte des Geschmacks, zu einem Zufluchtsorte des Behagens, zu einem Tempel der Reinheit und edeln Freude zu machen. Dann werden wir nicht mehr mit Schiller zu klagen haben, daß die Götter Griechenlands auf ewig von uns geflohen seien, dann doppelt beglückt einander die stolzen Worte unseres Dichters zurufen dürfen:

„Im Fleiß kann Dich die Biene meistern,
In der Geschicklichkeit ein Wurm Dein Lehrer sein,
Dein Wissen theilest Du mit vorgezognen Geistern –
Die Kunst, o Mensch, hast Du allein.




Blätter und Blüthen.


Neujahr in China. Bei den Chinesen ist der Neujahrstag ein bewegliches Fest und fällt meist in den Februar, oft in den Januar, zuweilen in den März. Er gilt für einen der größten Feiertage. Schon zehn bis zwölf Tage vorher werden alle officiellen Bureaus geschlossen und bleiben es einen ganzen Monat hindurch, während welcher Zeit die Beamten Festlichkeiten und Unterhaltungen veranstalten. Unmittelbar vor dem eigentlichen Neujahrstage werden die Feuerherde zu Ehren des Hausgottes gereinigt. Um Mitternacht, wenn das alte Jahr scheidet, wird ein wohlriechendes Bad genommen und die besten Gewänder werden angethan. Einige Familienmitglieder begeben sich an die möglichst glänzend erleuchteten Hausaltäre, um ihre Götzen anzubeten, andere besuchen die Tempel. Bis zur Morgendämmerung wechseln religiöse Uebungen mit Abbrennen von Raketen, Weihrauch und buntem Papier ab.

Bei Tagesanbruch beginnt der Austausch der Besuche und die Verzierung des Hauses; unter letzterer sind besonders weise Sprüche in Transparenten zu verstehen. Das betreffende Papier muß jene Farben haben, die dem Grade der Trauer der Familie entsprechen, also weiß, blau, rosa, scharlachroth. Trauert man gar nicht, so ist das Papier carmoisinroth. Das Aeußere der Häuser ist mit Blumen geschmückt. Allenthalben werden Feuerwerke abgebrannt; wohin man während jener vier Wochen kommt, giebt es Feuerwerke, zahllos und ohne Ende. Auch Geschenke spielen eine große Rolle. Geht man am Neujahrstage durch eine chinesische Stadt, so fühlt man sich wie nach London an einem Sonntage versetzt. Alle Läden sind geschlossen, die Straßenverkäufer verschwunden, sogar Fußgänger schwer zu entdecken. Selbst die sonst lustigsten Menschen tragen an diesem Tage ein höchst ernstes Gesicht zur Schau. Auch im Zimmer geht es ganz ruhig her. Nach dem Speisen werden theils ernste Spiele, theils Theatervorstellungen arrangirt. So lebt man drei Tage in derselben Ordnung fort.

Vierzehn Tage nach dem eigentlichen Neujahrstage findet das Laternenfest statt, welches äußerst gewissenhaft beobachtet wird und unbedingt die glänzendste Augenweide ist, die man in China haben kann. Jede, selbst die ärmlichste Wohnung wird da mit Laternen jeder Gestalt und Größe illuminirt. Dieser Laternencultus geht so weit, daß die Leute sich lange vorher in ihren Bedürfnissen einschränken, um für das Ersparte desto mehr und möglichst elegante Laternen kaufen zu können. Was man von der Größe einiger dieser Beleuchtungsmittel erzählt, grenzt an’s Unglaubliche; man spricht von einer Laterne, die siebenundzwanzig Fuß im Durchmesser hatte und in der man speiste, schlief und tanzte. Der Effect der Laternen in Baum-, Felsen-, Thier- und Menschenformen in voller Beleuchtung ist feenhaft. Auch an diesem Tage mangelt es nicht an Feuerwerken. Ueber den Ursprung des Laternenfestes erzählt man: als einst eines Mandarinen Tochter ertrank, wären alle Bewohner des betreffenden Ortes mit Laternen auf die Suche nach dem Leichnam ausgezogen; seither hätten sie, da sie den Mandarinen liebten, alljährlich am Gedenktage ihre Laternen und andere Feuer angezündet, bis allmählich der ursprüngliche Zweck vergessen und jener Tag zum allgemeinen Feiertag gemacht worden sei. Daß dieser Erzählung ein uralter Mythus zu Grunde liegt, ist zweifellos. Wer übrigens in China am Jahresende seine Schulden nicht zahlt, dem wird das Leben sehr verbittert. Daraus erklärt sich, daß während der zwei letzten Wochen jedes Jahres die Zahl der Einbrüche und Ueberfälle rapid steigt.

L. K—r.


Ein verfolgter Räuber. (Zu dem Bilde auf S. 17.) Ein gefährliches Wagestück ist es diesmal gewesen, auf welches Meister Reineke in unsrer Abbildung sich eingelassen hat, ein Wagestück, zu dem ihn nur der äußerste Mangel oder die allerverführerischste Gelegenheit ermuthigt haben kann. Denn der „Frischling“, welchen er erwischt und bereits zum Eingang seiner „Veste Malpartaus“ mit dem Baumwurzeldach geschleppt hat, gehört nicht zu den jüngsten mehr: bis auf eine letzte Spur sind die hübschen gelben Längsstreifen der ersten Monate schon von dessen Kleide verschwunden, und nur an das ganz kleine Volk wagt sich für gewöhnlich der Vorsichtige, dem die Last des größer gewordenen Frischlings zum schweren Hinderniß bei der raschen Bergung des Raubes werden muß. Dafür trollt wohl auch der größere Frischling im Gefühl wachsender Selbstständigkeit um so leichtsinniger von seiner Gesellschaft abseits; und so mag es gekommen sein, daß dem in der Nähe weilenden Fuchs der Erfolg eines Raubanfalls nicht ausgeschlossen schien. Freilich muß er jetzt mit aller Anstrengung schieben und stemmen, um sich und das Opfer leichtsinnigen Abweichens vom rechten Wege noch im letzten Augenblicke in Sicherheit zu bringen, denn: nur Secunden noch, und das Verhängniß da oben raset auf ihn herunter. Ein Bild zum Fürchten, dieser in maßloser Wuth schäumende „Keiler“, der – wie denn Wildschweine sich stets gegenseitig Hülfe leisten – auf das „Klagen“ des Verunglückten an erster Stelle die Verfolgung übernommen hat! Splitternd bricht der junge Stamm, der ihm den Weg sperrt, vor dem steinharten Schädel, und wehe, wenn der Räuber in die Gewalt dieses Gebisses käme! Das ist nun leider nicht wahrscheinlich, und so werden denn unsere Leser diesmal schon auf die rächende Hand der „poetischen Gerechtigkeit“ verzichten und sich an dem sprühenden Leben schadlos halten müssen, mit welchem der treffliche Fedor Flinzer diese seine Zeichnung durchgeistigt hat.


Kleiner Briefkasten.

Vielen Fragestellern diene zur Nachricht, daß „Im Schillingshof“, der neue Roman unserer verehrten Mitarbeiterin E. Marlitt, nun definitiv mit der ersten Nummer des nächsten Quartals zur Veröffentlichung kommen wird.

Frl. Fr. M. Ein solches Buch existirt leider nicht.


Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_020.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2018)