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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

zum eifrigen Studium der socialen Frage. Auch einzelne socialdemokratische Agitatoren des allerniedrigsten Schlages stürzten sich wie die Motten in die flackernde Flamme. So jener in der letzten Zeit oft genannte Schneider Grüneberg, welcher die Umwälzung der bestehenden Ordnung bekanntlich zunächst durch seine komisch wirkenden Versündigungen an dem ehrwürdigen Gefüge der deutschen Grammatik versuchte; so ein gewisser – Hödel aus Leipzig, der um agitatorisches Material bat und es nebst einem aufmunternden Schreiben erhielt.

Der Gewinn so streitbarer Kräfte war es wohl in erster Reihe, welcher schon wenige Wochen nach Gründung des Centralvereins veranlaßte, daß sich von ihm eine christlich-sociale Arbeiterpartei abzweigte, um der socialdemokratischen Concurrenz in aller Eile möglichst viel Terrain abzugewinnen. Eine Arbeiterpartei, vorläufig ohne Arbeiter, aber reich an Feldherren; Arm in Arm forderten Hofprediger Stöcker, Missionsprediger Wangemann und Schneider Grüneberg ihr verkommenes Jahrhundert in die Schranken. Die hauptstädtische Socialdemokratie nahm den hingeworfenen Fehdehandschuh auf, es folgten jene berüchtigten Berliner Versammlungen, in denen die drei Männer mit einem Manne wie Most über Gott und Unsterblichkeit stritten. Nichts war der socialdemokratischen Agitation willkommener, als diese Spectakelstücke, boten sie doch reichlichsten Anlaß, ihre Anhänger anzuregen und zu unterhalten. Ihre gewandten Redner hatten mit den Gegnern leichtes Spiel; von Grüneberg ganz zu schweigen, verstand weder Stöcker noch Wangemann etwas von socialpolitischen Fragen; jener bekannte gern, wie „ein unschuldiges Kind“ in die Bewegung getreten zu sein, und dieser nannte sich nicht[WS 1] minder eifrig „zu dumm“ für die Beurteilung wirthschaftlicher Verhältnisse. Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß, so lange sich die Discussion in diesen Volksversammlungen um rein religiöse Fragen drehte, namentlich Stöcker’s Auftreten nicht ohne sympathische Momente war. Er ist nicht hinterhältig und verschlagen wie Todt, sondern ein offener und resoluter Charakter. Dabei zeugte es von einem gewissen Muthe, wie er den Stier bei den Hörnern packte, und gegen den seichten Abhub des seichten Atheismus, den die communistischen Demagogen predigten, hob sich seine formvollendete Beredsamkeit immerhin vorteilhaft ab. Aber der leise Anflug von Wohlwollen, welcher sich hier und da der christlich-socialen Agitation zuwandte, erlosch sofort wieder, wenn Herr Stöcker, trotz seiner kindlichen Unschuld in wirthschaftlichen Dingen, den Arbeitern goldene Berge verhieß, ohne augenscheinlich die leiseste Ahnung, welche ungeheuerliche Verpflichtungen er damit einging. Und als nun gar jene scheuselige Frauen- und Mädchenversammlung stattfand, die zwischen Most und Wangemann richten sollte, und die in ihrem Verlaufe die widerlichsten Bilder der französischen Schreckensherrschaft wachrief, da packte alle Welt ein unsagbarer Ekel, und selbst die Socialdemokraten wurden des grausames Spiels überdrüssig. Der erste Streifzug der christlich-socialen Agitation in die Arbeiterwelt endete mit einer völligen Niederlage.

Sie athmete wieder auf, als die fluchwürdigen Attentate den Stern der Socialdemokratie erbleichen ließen und die Wahlbewegung in manchen ihrer Erscheinungen den Gedanken wachrief, daß im Trüben gut fischen sei. Eine Tageszeitung wurde gegründet, die „Deutsche Volkswacht“, deren Leitung ein „bewährter“ Genosse aus Süddeutschland übernahm. Sie trug an ihrer Stirn das Motto: „Liebe Deinen Nächsten als Dich selbst!“ aber nie ist dieses herrliche Wort mehr geschändet worden, als durch den literarischen Unrat, der sichtlich unter seinem Schutze verbreitet wurde. Selbst die schlimmsten Ausschreitungen der socialdemokratischen Presse vermögen mit diesen Leistungen kaum zu rivalisiren. Dabei zeigte sich wieder einmal, daß der Zorn ein schlechter Berater ist; in einer Polemik gegen das freisinnige „Deutsche Protestantenblatt“ in Bremen schrieb die fromme „Deutsche Volkswacht“: „Ausführungen der Protestantenvereinler tragen so recht das Eunuchenthum an der Stirn“, und „Protestantenvereinler mit ihren liberalisirenden Ansichten in kirchlichen Dingen erzeugen überhaupt in jedes christlich gesinnten Menschen Brust das Gefühl namenlosen Abscheus.“ So wurden die würdigsten Männer beschimpft von denselben Orthodoxen, welche die socialdemokratischen Grundsätze als „evangelische göttliche Wahrheiten“ kennzeichnen.

Trotz allen Eifers im Schimpfen, Verdächtigen, Verleumden vereitelte der Wahltag die Hoffnungen, die auf ihn gesetzt waren; in drei Berliner Wahlkreisen bewarben sich christlich-sociale Candidaten; im Ganzen gewannen sie zusammen noch nicht anderthalb tausend Stimmen. Solch eine Niederlage hatte man nicht erwartet. Im Kreise seiner Getreuen klagte Herr Stöcker über diesen „unglückseligsten Tag seines Lebens“; zugleich theilte er die traurige Kunde mit, daß die Parteicasse bis auf den letzten Pfennig durch einen „schlechten Spitzbuben“ geplündert worden sei; unter dieser unerfreulichen Umschreibung verstand er seinen treuesten Waffenbruder, den Schneider Grüneberg, der sich gegen diese Beschuldigung energisch wehrte und in den Spalten der socialdemokratischen Presse sofort einen lärmenden Feldzug gegen seinen bisherigen Gönner eröffnete.

Auch der verschriebene Redacteur der „Deutschen Volkswacht“, die am Tage nach der Wahl sofort selig entschlief, bewarb sich nunmehr um die Mitarbeiterschaft an socialdemokratischen Blättern, wurde aber abgewiesen. Es ergab sich jetzt, daß dieser Kämpfer bisher socialpolitisch nur einer Nivellirung der Eigenthumsverhältnisse im engsten und persönlichsten Sinne gehuldigt hatte; er hatte Mündelgelder veruntreut und deshalb eine schimpfliche Gefängnißstrafe erlitten. Die geistlichen Leiter der Bewegung leugneten, darum gewußt zu haben, sie wurden der Unwahrheit überführt durch das Zeugniß des geistlichen Amtsbruders, der den rüstigen Streiter jenseits des Mains geworben hatte. Auch sonst flohen die Ratten von dem lecken Schiff. Fraglich ist überhaupt bis auf diesen Tag, ob die christlich-sociale Agitation jemals auch nur einen Anhänger aus Ueberzeugung unter den Arbeitern gehabt hat. Soweit öffentliche Kundgebungen einen Schluß gestatten, muß die Frage verneint werden. Hödel bekannte vor dem Staatsgerichtshofe, daß er nur um des „Geschäfts“ willen den „Schwindel“ mitgemacht habe, und Schneider Grüneberg erklärte sogar, daß sich noch kein sterblicher Mensch in das Lager dieser neuesten Weltverbesserer verirrt habe, der nicht durch die Spende eines ebenso unentbehrlichen, wie unnennbaren Kleidungsstückes dazu verführt worden sei.

Nach alledem aber hat der lächerlich-unheimliche Spuk noch kein Ende. Der „Staatssocialist“ hetzt und schimpft unverdrossen weiter; über das Thun und Treiben, die Stärke und den Umfang des Centralvereins für Socialreform, dem er dient, ist kaum etwas Anderes bekannt, als daß derselbe einige Reiseprediger zeitweise im deutschen Reiche wühlen ließ und einige hundert evangelische Geistliche geworben hat. Herr Todt giebt sich noch immer den Anschein, als ob die oberen Kirchenbehörden ein wohlgefällig Auge auf seinem Treiben ruhen ließen. Auch über Herrn Stöcker ist eine Art grönländischen Sonnenscheins gekommen, seitdem das Socialistengesetz erlassen ist. Manche Stammgäste der verbotenen Vereine und Versammlungen betrachten ihn vorläufig als magern Ersatz; so haben die allwöchentlichen Zusammenkünfte, die er beruft, einigen Zulauf. Schneider Grüneberg bemüht sich augenblicklich, eine christlich-sociale Gegenpartei zu gründen. Am verständigsten und würdigsten weiß sich Herr Wangemann nach den Stürmen und Wettern des Sommers zu fassen; er versucht die Socialdemokraten zu bekehren, welche im Gefängnisse zu Plötzensee eingethürmt sind.

So verlief das Satyrspiel von 1878; wer mag sagen, ob es sich noch in die Zukunft fortspinnen wird? Nur so viel darf man guten Gewissens behaupten, daß, wer sich mit solchen Hoffnungen trägt, kein aufrichtiger Freund der evangelischen Kirche ist. Auch wird die orthodoxe Priesterpartei auf diesem Wege sicherlich nicht ihr eigentliches Ziel erreichen, das heißt sicherlich nicht jenen Boden im Volke gewinnen, an dem es ihr bisher zur Förderung ihrer zelotischen Herrschafts- und Unterjochungszwecke gefehlt hat.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: micht
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_027.jpg&oldid=- (Version vom 23.9.2021)