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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

für denjenigen vorhanden ist, welcher eine Lautsprache, die seine Muttersprache ist, sprechen und lesen kann und nun, an diese sich haltend, eine andere Sprache lernt. Und wie spät beginnt diese Aneignung beim taubstummen Kinde im Vergleich mit dem hörenden! Und nun die Wiederholung, die das Gedächtniß entwickeln und stützen soll; wie schwer ist es nur einigermaßen die natürliche Wiederholung zu ersetzen, die das Leben dem glücklichen Hörenden darbietet!

Man darf sich darum auch nicht wundern, wenn die Sprache des Taubstummen armselig und mangelhaft ist, und seine Weise, sich auszudrücken, häufig eine unbeholfene und kindliche bleibt. Gleichzeitig mit dem Erlernen der Lautsprache lernt der Taubstumme vom Munde des Redenden abzulesen, das heißt an seinen Lippen zu sehen, was er spricht. Es ist offenbar, daß Uebung darin das beste Mittel ist, um im Gebrauche der Rede und überhaupt in sprachlicher Beziehung tüchtig zu werden. Wenn dieser Unterricht, wie es stets geschieht, durch Lesen von Büchern unterstützt wird, und wenn die Wahl der Lesestücke dem Wortvorrathe und der Entwickelungsstufe des Zöglings angepaßt wird, kann man sehr günstige, ja sogar erstaunenswerthe Resultate erreichen.

Hat der Taubstumme sich die Lautsprache angeeignet, dann tritt die Zeichensprache in den Hintergrund, sodaß sie nur als Nothhülfe benutzt wird, wenn die andern Mittheilungsmittel nicht ausreichen. Dahingegen benutzen die Taubstummen die mündliche Rede als eine Zeichensprache, indem sie oft unter einander mit den Lippen und den andern Mundtheilen ganz lautlos sprechen. Die Geberdensprache aber geben sie nie ganz auf, und es ist merkwürdig zu sehen, mit welcher Freude die Taubstummen sich dieser etwas schwebenden, aber poetischen Sprache hingeben, die recht eigentlich die Muttersprache des Taubstummen ist.

Ob man auch der größtmöglichen Anzahl der Taubstummen zur Lautsprache Zutritt giebt und sie das Ablesen vom Munde lehrt, so wird dich stets eine Anzahl solcher zurückbleiben, die sich diese unschätzbaren Vortheile nicht erwerben können, und die sich darum mit der Fingersprache und einer kärglichen schriftlichen Mittheilung begnügen müssen. Zu diesen gehören nicht nur die blödsinnigen Taubstummen, deren viele es natürlich nicht einmal so weit bringen, sondern auch viele schwachbegabte, taubgeborene Kinder, die, obwohl nicht besonders abnorm in geistiger Beziehung, doch derjenigen Fähigkeiten und derjenigen Arbeitskraft entbehren, die erforderlich sind, um ein so reichhaltige Material, wie es die Laut- und Schriftsprache darbietet, sich anzueignen. Diese Kinder müssen in einer besonderen Anstalt oder Abtheilung unterrichtet werden.

Die größte Bedeutung für den Taubstummen hat die Aneignung der Lautsprache selbstverständlich in seinem Verhältnisse zu Nichttaubstummen; die Auswege, zu denen er greifen muß, um den Mangel derselben hier zu ersetzen, sind sehr beschwerlich. Entweder muß man Frage und Antwort auf ein Stück Papier oder eine Tafel schreiben, oder man muß die Schriftzüge in die Luft, in die Hand oder auf den Rücken schreiben und den Angeredeten so durchbuchstabiren lassen.

Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß taubgeborene oder in frühester Jugend vollkommen taub gewordene Kinder am leichtesten und sichersten im Ablesen vom Munde sich Uebung erwerben, während umgekehrt eine früher durch's Gehör erreichte Uebung im Reden, selbst dann, wenn diese zum Theil verloren ist, doch in Bezug auf die Erwerbung der Lautsprache durch künstliche Mittel eine vorzügliche Hülfe ist, so wie auch ein geringer Rest von Gehör wesentlich zur richtigen Auffassung der Eigenthümlichkeiten der Lautsprache beitragen kann.

(Schluß folgt.)

Das neue deutsche Marinelazareth in Yokohama.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von H. Heubner.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_037.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)