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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


Zum Schluß noch einiges zum Capitel der Ordnung! Wenn auch in den ersten Ehejahren der Sinn für strenge Ordnung noch nicht so ausgebildet gewesen wäre: sobald die Kinder heranwachsen, bemüht man sich, ihnen darin das beste Beispiel zu geben. Wie beschämend, wenn du dem Töchterchen zurufst: „Räume Deine Sachen auf!“ Und sie erwidert: „Aber dieses Tuch, diese Handschuhe, dieses Buch ist von Dir, wo soll ich denn das hinlegen?“

Oder wie fatal, vor den Kindern einen verlegten Gegenstand suchen zu müssen!

Auch auf das Verhältniß der Gatten zu einander wirken die heranwachsenden Kinder oft sehr günstig ein. Schroffe Aeußerungen, heftiges Widersprechen wird in Gegenwart des Kindes von beiden Seiten vermieden. Und da dasselbe, je älter, um desto häufiger in der Eltern Gesellschaft zu verweilen pflegt, so muß auch Zank und Streit immer mehr unterdrückt werden, bis er zuletzt ganz abgeschafft wird. –

Und wie mild, wie nachsichtig, wie bescheiden werden wir Mütter durch unsere Kinder! Das ist ihr letztes Erziehungswerk an uns, denn dies vollbringen sie, wenn sie selbst schon halb erwachsen sind. Hörst du in einer größeren Gesellschaft unbarmherzig den Stab brechen über einen jugendlichen Fehltritt, und eine der Frauen sitzt stumm dabei oder wagt es gar, ein schüchternes Wort der Entschuldigung vorzubringen, dann sei überzeugt, das ist eine Mutter, die auch einen erwachsenen Sohn hat und die mit heimlichem Beben denkt: Gott behüte ihn mir! Wer da steht, sehe wohl zu, daß er nicht falle!

Wie laut und heftig äußert man sich gegen Erziehungsfehler Anderer, wie stolz und zuversichtlich meint man, die Klippen spielend umschiffen zu können, an denen Jene gestrandet sind, wie fest ist man überzeugt, die Kinder genau nach dem uns vorschwebenden Ideale modeln zu können! Aber warte es nur ab, du stolze, junge Mutter, die da glaubt, ihr Kind sei schon über alle Berge, weil es im dritten Jahre keinen Zucker nascht und ohne Weinen allein im Zimmer bleibt! Ja, warte es nur ab, auch du wirst noch gar demüthig und bescheiden, auch du lernst an vielen, vielen zerstörten Illusionen über andere Eltern mild urtheilen. –

Hatte ich Recht, in der Ueberschrift als unsere wirksamsten Erzieher und Veredler – unsere Kinder zu bezeichnen?




Pater Gregor.
Ein Seelengemälde von E. Werber.

Das Andenken dieses Mannes brennt in mir wie ein ruhiges, stummes, düsteres Feuer. Zuweilen, am Tage und unter den Menschen, fühle ich es nicht, aber in der Nacht und in den Einsamkeiten, da macht es mir heiß. Pater Gregor, dein Bild steht unverrückbar in meiner Erinnerung. Aber es ist recht so. Bleib in mir, du Mann von Feuer!

Pater Gregor war ein Kapuziner, und ich war auch einer. Unser Kloster, eines der ältesten, hing am schmalen, grasigen Abhange eines viertausend Fuß hohen Felsengebirges. Aus kleinem Anfange nach und nach auf unregelmäßige Weise vergrößert, bot es, vom Thale aus gesehen, einen malerischen Anblick. Hinter der hohen Mauer erhob sich unter braunen Ziegeldächern das zwei Stock hohe, weiß angestrichene Gebäude; nicht ganz in der Mitte glänzte auf dem schlanken, dunkelrothen Thürmchen der kleinen Mönchscapelle eine vergoldete Kugel und über ihr ein Kreuz. Hinter dem Kloster stieg das Gebirg jäh hinan, so jäh, daß die Tannen, welche es hier und dort streifenweise bedeckten, stets eine über der andern standen. An der Mönchscapelle lehnte, größer und höher als diese, aber ohne Thurm, die Kirche, mit frommer Armuth geschmückt. Die Kirche war für Jedermann offen, und diese Seite des Klosters hatte keine Mauer. Man gelangte zu ihm auf zwei steilen, steinigen Pfaden, die sich vor einem runden Platze vereinigten, wo ein zweihundertjähriger Kastanienbaum seine Aeste beinahe bis zum Eingang der Kirche hinüber streckte. Hier befand sich die niedere Klosterpforte von braunem Holze in einer kurzen, durch ein Vordach geschützten Gallerie, zu welcher sechs Stufen emporführten. Durch diese Pforte gelangte man in den langen, mit Backsteinen gepflasterten Gang, dessen Fenster auf den Blumengarten gingen, welcher sich beinahe bis zur Felsenwand erstreckte. In der Felsenwand hatten Schnee und Regen tiefe Rinnen ausgewaschen, in welchen im Sommer nach heftigen Gewittern, aber besonders im Frühling, wenn die Sonne den Schnee küßte, die Wasser herabrauschten und zwischen den Granitblöcken hervorsickerten. Dann hörte ich in ruhelosen Nächten aus meiner Zelle vielfältige Wasserstimmen, und sie vermischten sich mit den Stimmen, die nach und nach in meiner Seele sich erhoben und mir bange machten. Die Felswand hatte einen zerrissenen Kamm, und unterhalb des Kammes traten mehrere große Blöcke hervor und schauten mit furchtbarer Grimasse auf das Kloster und das enge Thal hinab. Einer ganz besonders, zwischen zwei andern Felsen eingeklemmt, gewaltig, schwarz und geborsten, war wie der Rachen eines versteinerten Ungethüms.

Auf der Thalseite und rechts waren wir von zehntausend Fuß hohen Schneebergen umgeben. So groß, so gewaltig stehen sie dort, als könne keine Welt mehr dahinter sein! Links tritt ein schwarzer zackiger Fels mit fünf Nasen trotzig in das Thal herein, und neben ihm stürzt ein dunkler Wildbach tosend über Felsblöcke und Geröll. Jene Schlucht erschien mir immer wie der Eingang zum Reiche der Verdammten. Wenn ich lange gespannt dorthin geblickt hatte, dann dürstete ich nach der Holdseligkeit! Wir hatten eine Holdseligkeit im Kloster – eine junge Muttergottes. Sie hing in schwarzem Rahmen im unteren Gange, zwischen dem heiligen Franziscus mit der Kapuzinerkutte und dem Apostel Paulus. Die Fenster des Ganges befanden sich in einer Nische und hatten aus vielen runden, mit Blei eingefaßten Glasstücken zusammengesetzte Scheiben, welche nicht viel Licht in den Gang hereingossen, aber das Muttergottesbild brauchte nicht viel Licht, denn es war selber hell und strahlend.

Die heilige Maria ging über’s Wasser, und die Wellen hielten ganz ruhig unter dem Zauber von Maria’s frommem Herzen. Sie hielt ihr Röcklein mit der Rechten, und ihre rosigen Füßchen spiegelten sich im Wasser; auf ihr lichtblaues Gewand fiel unter einem röthlichweißen Kopftuche das schöne goldbraune Haar, und über ihrem Scheitel schwebte der zarte Feuerschein der Heiligkeit. Ihre Stirn erglänzte von Unschuld, und auf ihrem Munde lag die himmlische Liebe. Maria ging mit gesenktem Blicke, und es quälte mich, ob ihre Augen wohl blau oder schwarz waren. „O, wenn sie die Lider doch einmal aufschlüge!“ dachte ich.

Als ich in jenes Kloster, eine Filiale des Hauptklosters, eintrat, war ich sechsundzwanzig Jahre alt und seit acht Jahren Kapuziner. In meinem zwölften Jahre trat ich in ein geistliches Seminar und sechs Jahre später in den Kapuzinerorden. Die Kapuziner beschäftigen sich mit Gebet, Predigt und Beichtehören, mit Brodaustheilung für die Armen, mit dem Besuche der Kranken und dem Studium der Wissenschaften. Die Filiale im Gebirge war eine mühsame Station; zuweilen wurden die Patres in der Nacht zu Kranken und Sterbenden auf einsame Gehöfte und Hütten gerufen, im Schnee und Regen. Nicht Alle hielten diese Mühsale aus; da ich jung und kräftig war, sandte man mich dorthin an die Stelle eines kränklichen Paters. Es waren nur vierzehn Kapuziner in der Filiale; der Stellvertreter des Priors war Pater Gregor. Als ich ihn zum ersten Male sah, ging mir ein Zittern durch alle Nerven, aber es war nicht das Zittern der Furcht, sondern das der Anziehung. Er machte weniger den Eindruck eines Mönches, als den eines Mannes, der schwer gelitten und der eine ungeheure Gewalt über sich selbst hat. Seine großen, dunkeln, tiefliegenden Augen hatten den durchdringendsten Blick, den ich je gesehen. Pater Gregor schlug, wenn man mit ihm sprach, die Augen langsam auf, aber waren sie einmal offen, dann hefteten sie sich auf das Gesicht des Sprechenden mit einer Gewalt und einer Feuertiefe, die nicht Jeder ertragen mochte. Pater Gregor sprach wenig, aber was er sprach, war voll Kraft und trauriger Hoheit. Er war mittelgroß und kräftig gebaut, allein sein Nacken war gebeugt. Er trug den Kopf wie Einer, der gern an den Tod denkt. In seinem Gesichte war Alles schön und bedeutend, der Knochenbau

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_067.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)