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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

während ich es sprach ohne Gedanken und Bewußtsein, preßte ich ihr die Hände, und je weher ich ihnen that, desto süßer brannten ihre Lippen auf meiner Hand.

„Amen!“ rief Pater Thomas in mein Gebet, und da hörte ich auf zu sprechen. Maria löste ihre Lippen von meinen zitternden Händen, und blickte mich noch einmal an; dann zog sie ihren Schleier vor das blasse Gesicht und stieg in den Wagen. Es wurde mir schwarz vor den Augen – ich hörte den Wagen fortrollen – und dann wankte ich sinnlos in’s Haus zurück. – Ich habe Maria nicht wieder gesehen. – –

Zwei Monate waren vergangen und mit ihnen der Sommer. Ich lebte, ohne zu leben: ich betete ohne Gedanken; ich arbeitete ohne Lust. Oft fiel jetzt zur Nachtzeit Schnee in der Region des Klosters, und wenn dann die Sonne heraufstieg, rannen die Wasser reichlich von der Felswand, und das gelockerte Gestein fiel kollernd herab; zuweilen schleuderte der Südwind es in’s Thal hinunter. Manchmal sanken die Nebel bis an den Fuß der Berge, und wenn sie sich gar über das Thal ausbreiteten und ich von meiner Zelle in die graue, leere Unendlichkeit hinausblickte, dann tauchte aus der Nebelwüste plötzlich eine Fata Morgana, die schwarze, zauberhafte, flammende Augen hatte und Maria hieß.

Als ich an einem Vormittage Pater Gregor eine schriftliche Arbeit brachte, sagte er: „Ihr sehet leidend aus, Pater Josias, seid Ihr krank?“

„Nein, ich bin schwermüthig.“

„Studiret Ihr wieder die Malerei?“

„Nein, die Liebe zum Bilde ist mir vergangen.“

„Ihr habt irgendwo eine lebendige Maria gesehen, Pater Josias?“

„Ja. Ich biß mir die Lippe wund, als sie sagte: ‚Morgen muß ich von Euch Abschied nehmen’ – und dann sagte sie noch: ‚Wißt Ihr auch, Pater Josias, daß ich im Herzen blute?’“

Pater Gregor fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Diese Worte waren Euch süß, Pater Josias?“ fragte er weich.

„Ja, und ich sage sie mir immer vor. Immer!“

Nach einer Weile stand er auf und ging, die Hand im Barte vergrabend, langsam die Zelle zweimal auf und nieder; endlich sagte er, seinen Blick, der aus einer mächtigen Tiefe zu kommen schien, in den meinen senkend: „Hast Du einen Entschluß gefaßt?“

„Nein, es ist mir Alles in der Schwermuth versunken.“

Wieder ging er auf und nieder und sagte dann. „Ich denke, es thut Euch gut, nächsten Sonntag eine Predigt drunten im Städtchen zu halten, die Predigt von der Zerstörung Jerusalems. Es wird Euch aufrütteln, wenn Ihr die blutigen Männer seht und den Rauch und die Flammen, und wenn die Mauern niederstürzen und der Schrei: Jehova! zwischen dem Dröhnen der Schilde ertönt, dann wird etwas in Euch wachsen – der Mönch oder der Abtrünnige. Dann werdet Ihr wissen, ob Ihr bleibet oder fliehet.“

„Und wenn ich fliehe, Pater Gregor – verdammt Ihr mich?“

„Ich Dich verdammen, mein Sohn? Nein, nein! – Aber vielleicht beklage ich Dich.“

„Pater Gregor, stärket mich durch einen Händedruck!“

Da nahm er meine Hand mit seiner Rechten und drückte sie dreimal. „Gehet jetzt, Pater Josias! sagte er mild, „und machet aus Eurer Predigt ein großes Schlachtengemälde mit einem biblischen Hintergrunde!“

Ich ging. „Ja,“ sagte ich mir, „Jerusalem soll in mir brennen, und was aus der Asche aufersteht – daraus will ich mir das Leben erbauen.“

Die Elemente unterstützten mich bei meiner Arbeit: zuerst der Wind, der die Schornsteine vom Dache riß und Tannen entwurzelte, dann die furchtbaren Regengüsse, welche ihm folgten und tosende Bäche über die Felswand herabgossen und kleine und große Felsstücke mit sich rissen. Es war eine Musik voll düsteren, wilden Zaubers.

In der Nacht vom Freitag auf den Samstag hörte der Regen auf, aber als am Morgen die Sonne hervorkam, da beleuchtete sie eine entsetzliche Zerstörung. Erdreich und Bäume und Felsstücke lagen im Thale, und die Felswand war wie geschoren. Keine Tanne und kein Gesträuch grünte mehr an ihr; überall war der nackte Fels, und aus seinen Spalten und Klüften stürzten die Wasser, und von den Abhängen fielen die Steine. Es war mir, als vernehme ich neben dem Rauschen des Wassers und dem Kollern der Steine noch ein anderes Geräusch, einen dumpfen, reibenden Ton, der aus dem Innern des Felsens zu kommen schien. Ich fragte später Pater Thomas, der neben mir am Mittagstische saß, ob er es nicht auch höre. „Wohl, wohl,“ erwiderte er, „dieses Geräusch hört man jedes Mal nach einer Regenfluth.“ Als ich dann am Nachmittag in meiner Zelle saß, um meine Predigt auswendig zu lernen, erschrak ich plötzlich – ich hatte eine Erschütterung des Bodens gefühlt, und als ich jetzt das Fenster öffnete und lauschte, vernahm ich jenen dumpfen, reibenden Laut viel stärker, deutlicher, näher. Ich dachte, alle Mönche müßten es wahrgenommen haben, und trat auf den Gang und ging die Treppe hinab, aber ich begegnete und sah keinen der Patres. Da ging ich in den Garten, wo der Bruder Anton die geknickten Blumen aufrichtete und stützte.

„Hört Ihr nicht ein seltsames Geräusch, und habt Ihr nicht eine Erschütterung des Bodens gefühlt?“ fragte ich.

„Meint Ihr, Pater, die Wasser arbeiteten sich sanft und lautlos durch die Felsen, und die Felsstücke fielen herunter leicht wie Schneebälle? Ihr kennt eben das Gebirg und seine wilde Sprache noch nicht. Im nächsten Spätjahre werdet Ihr besser unterrichtet sein.“

Ich ging in meine Zelle zurück, und als ich zwei Stunden später zum allgemeinen Gebete in’s Oratorium herabkam, fühlte ich wieder eine Erschütterung des Bodens.

Unsere Betstühle waren in der Form eines Hufeisens aufgestellt, und Pater Gregor hatte seinen Platz in der Mitte. Er las das vierte Capitel Jeremias’ und in seiner tiefen Stimme brannte die Flamme eines Jeremias. Und als er die Worte gesprochen: „Ich sehe auf die Berge und siehe, sie beben, und alle Hügel wanken“, da dröhnte es über unseren Häuptern; die Thür wurde aufgerissen und der Bruder Pförtner stürzte herein.

„Fliehet, fliehet!“ schrie er, „der Rachenfels bewegt sich: er sinkt; er kommt. Die Seitenfelsen bersten – fliehet, rettet Euer Leben! Herr Gott, beschütze uns! Wehe! Hab’ Erbarmen!“

Die Mönche fuhren von den Sitzen empor und drängten sich zur Thür. Pater Gregor aber blieb in seinem Stuhle sitzen und sein Auge funkelte.

„Feiglinge!“ rief er, „habt Ihr noch nicht genug gelebt? So fliehet denn! Ich bleibe.“

„Pater Gregor!“ rief ich flehend, beschwörend, und wie im Wahnsinn folgte ich den Anderen durch den Gang, über den Hof und den jähen Pfad hinab. Hinter uns donnerte das Gebirg und Steine fielen und trafen unsere flüchtige Ferse. Und in der Todesflucht schrie ich nach Pater Gregor, und meine Adern wollten reißen vor Schmerz.

„Links!“ rief einer der Patres und riß mich fort. Wir eilten. Ich wußte nicht, wohin.

„Herr Gott, erbarme dich! Jesus, erbarme dich! Maria, bitt’ für mich!“ riefen die Mönche.

Da – da krachte es, als ob der Erdball zerberste, und hundert Berge über einander fielen. Die Erde bebte unter meinen Füßen: die erschütterte Luft erdrückte mich; ich sank zu Boden, und im Getöse der stürzenden Felsen und des Widerhalles erstarben mir die Sinne –

Als mir das Bewußtsein wiederkam, war die Stille des Todes um mich. Und als ich mich erhob und zur Felswand hinüberblickte, war das Kloster verschwunden. Ein großer Mensch lag unter seinen Trümmern begraben.




Blätter und Blüthen.


Ein Helfer der stotternden Menschheit. (Mit Portrait S. 91) Ueber die von Rudolf Denhardt in Burgsteinfurt angewendete Methode zu durchgreifender Heilung des Stotterns ist bereits von ihm

selber in Nr. 13, 1878 der „Gartenlaube“ ein ausführlicher Bericht erstattet worden. Aus dem glänzenden Zeugniß, welches der verewigte Begründer und Redacteur unseres Blattes damals jenem Aufsatze hinzugefügt, sowie aus seinem in Nr. 35 desselben Jahrgangs mitgetheilten Lebensbilde werden die Leser auch ersehen haben, wie lebhaft das Interesse, wie tief und warm die achtungsvolle Anerkennung und Erkenntlichkeit war, welche Ernst Keil selber dem neuen Heilverfahren und seinen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_090.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)