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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


die Fassung folgender Beschlüsse vor: „1) Der Kaiser von Oesterreich wird mit allen seinen Staaten aus dem Nexus Deutschlands entlassen; 2) der König von Preußen wird zum Kaiser von Deutschland erhoben; 3) alle übrigen deutschen Fürsten heben ihre Souveränetät auf, werden dem Kaiser unterthan und in eine Pairskammer unter ihm vereinigt, woneben sie aber die innere Regierung ihrer Länder fortführen; 4) die gesammte Militärmacht Deutschlands steht unter dem König von Preußen als Kaiser.“ Klingen diese Sätze nicht aus jener so traurigen Epoche deutscher Geschichte wie eine Weissagung zu uns herüber, erscheinen sie uns nicht wie wunderbar gewaltige Lichtblicke aus dem Auge eines Propheten? Und solche große Begabungen mußten damals in abgelegenen Winkelexistenzen verkümmern oder in Gefängnissen und Exilen sich aufreiben, wenn sie nicht feige genug waren, ihre Urtheile für sich zu behalten!

Am 2. Juni 1832 gab es freudige Bewegung in Rendsburg, Festmahle zu ehrenvoller Begrüßung Lornsen’s, der an diesem Tage aus der Haft entlassen war. Zu den Freunden im Orte hatten sich für den Zweck auch die Gesinnungsgenossen aus Kiel, Schleswig und Flensburg gesellt; auch die Kieler Studentenschaft sandte eine Deputation, und aus den entferntesten Theilen der Herzogthümer liefen schriftliche Glückwünsche ein. Mit eignen Augen sah der Freigewordene, daß seine Absicht erreicht und das Bewußtsein des Landes aufgerüttelt sei. Es war aber inzwischen noch mehr geschehen. Während ihn die Regierung wie einen Verbrecher am öffentlichen Frieden behandelte, hatte sie dennoch von seinen Worten sich warnen lassen und eingesehen, daß man dem Emporwachsen dieser Bewegung durch Gewährungen zuvorkommen müsse. Sie that es zwar in der halben und mißtrauischen Weise, wie der Absolutismus seine freiwilligen Gaben zu spenden pflegt. Aber das von ihr erlassene Verfassungsproject für Holstein und Schleswig erfüllte doch manche wesentliche Forderung des Lornsen’schen Programms, und was noch fehlte, das konnte ja durch die in Aussicht gestellte Landesvertretung allmählich errungen werden. War es also nicht so schnell gegangen und noch nicht so geworden, wie er es gewünscht und geplant hatte, so sproßte ihm doch von allen Seiten her die junge Saat entgegen, welche er ausgestreut. Unter den Eindrücken dieser belebenden Wahrnehmung zog er sich in seinen Heimathsort zurück und sog hier in vollen Zügen die Luft der wiedererlangten Freiheit ein. Weite Fußtouren und Meerfahrten, sowie rüstige Theilnahme an der friesischen Geselligkeit entschädigten ihn für die ausgestandene Verfolgung. Daß die Regierung den gänzlich ungebeugten Mann in seiner jetzigen Unabhängigkeit fürchtete, ist zweifellos. Als sie ihn jedoch durch einen Bekannten unter der Hand sondiren ließ, ob er sich entschließen würde, für ihre Rechnung oder mit Pension in’s Ausland zu gehen, erwiderte er lachend. „Ich sehe gar keinen Anlaß, auf echt dänischem Fuße als pensionirter Demagog auf Reisen zu gehen.“

In der That machte ihm seine weitere Zukunft nur wenig Sorge. Mit seinem spornenden und durchgreifenden Worte betheiligte er sich vielmehr in unablässiger Correspondenz an der Erörterung der schwebenden Verfassungsangelegenheit und arbeitete auch sehr fleißig an einem volksthümlichen Buche, von dem er sich eine geradezu erschütternde Wirkung versprach, da es seine Landsleute unabweislich über ihre Zustände und Rechte aufklären sollte. Außerdem wurde für das sich einstellende Bedürfniß regeren Geistesverkehrs, an dem es auf Sylt mangelte, eine Uebersiedlung nach Kiel geplant, während zugleich die bevorstehenden Wahlen zum neuen Landtage ihm in der Ferne das ersehnte Ziel einer parlamentarischen Thätigkeit zeigten. Aller menschlichen Berechnung nach würde also das Böse, das man gegen ihn im Sinne gehabt, sich vollständig zum Guten verwandelt haben und ein Aufschwingen zu ruhm- und segensreichem Wirken ihm nunmehr erst beschieden worden sein, wenn nicht sein tragisches Geschick wiederum dazwischen getreten wäre und die schöne Glücksrechnung hinweggewischt hätte.

Schon oben haben wir erwähnt, daß er häufig krank gewesen und seine Anfechtungen stets auch mit spleenartigen Gemüthsverstimmungen verbunden waren. Dieses Leiden, eine hochgradige Melancholie oder Hypochondrie, hatte ihn von früher Jugend an durch sein ganzes Leben begleitet, und fruchtlos war sein mit ungewöhnlicher Energie fortgesetztes Bemühen geblieben, das Uebel durch die angestrengtesten Fußreisen, durch jahrelange Beschränkung seiner täglichen Nahrung, durch die peinvollsten Curen, sogar durch fünfmaligen Gebrauch der Hungercur auf die Dauer zu bändigen. Zeiten hindurch besserte sich allerdings der Zustand, aber ein länger als anderthalbjähriges Gefängnißleben konnte einer Steigerung gerade dieses Uebels nur förderlich sein. Die ersten Aufregungen des Freiheitsrausches mochten das verdeckt haben; schon einige Monate nach der Rückkehr erkrankte er jedoch von Neuem, und nun brachen aus seinen Briefen mit einem Male unruhige Klagetöne hervor von einem „seitwärts“ gegen ihn hereinbrechenden Geschick, von der Vereinsamung und Freudlosigkeit, der einförmigen und erdrückenden Trauer, welche bis jetzt alle seine Lebenstage durchzogen habe, von einem Schmerze, wie ihn gewiß nur wenige Menschen erfahren und der ihn zwinge, eine neue Lebensbahn einzuschlagen.

Ungeduldig über die nicht genügende politische Rührigkeit der Freunde, schrieb er auch bereits am 12. August: „Möge unserem Lande bald ein rüstiger Vorkämpfer erscheinen; ich rüstete mich darauf, werde aber vorläufig Jahre darauf verzichten müssen.“ Alle diese unterlaufenden Andeutungen blieben damals halb oder gänzlich unverstanden, und es sollte der Ernst der Lage erst offenbar werden, als zu allgemeiner Bestürzung die Nachricht sich verbreitete, daß Lornsen, um allen Gegenvorstellungen zu entgehen, heimlich das Land verlassen hätte und bereits auf dem fernen Meere schwämme, um Rio Janeiro zu erreichen. Von dem tropischen Klima hatte er gehört, daß es den Kranken Genesung oder baldige Vernichtung bringe. Auf den einen oder den anderen dieser Ausgänge aber war sein Plan gerichtet; konnte er nicht gesund werden zur Erfüllung seiner Aufgaben, so wollte er auch nicht leben. Stand es denn wirklich so schlimm mit ihm? In seiner Erscheinung und seinem Thun merkte Niemand etwas davon, die Aerzte bestritten entschieden jede ernstere Gefahr, und er selber gestand zu Zeiten, daß er körperlich so wohlauf sei, wie es ein Mensch nur sein könne.

Die Freunde standen kopfschüttelnd vor einem Räthsel, dessen ganze Entsetzlichkeit sich ihnen erst später erschließen sollte. Man sollte es nicht glauben, aber es ist unwidersprechlich bewiesen: während dieser gigantische Mann mit seinem gewaltigen Willen und seinem großen und hellen Verstande als ein furchtloser Kämpfer aufrechten Hauptes unter den Menschen wandelte, wurde er in seinem geheimsten Inneren von einem wesenlosen Dämon gefoltert, den er mit aller seiner starken Kraft nicht zu bewältigen vermochte, von einer nichtigen Wahnvorstellung, die ihn zu ihrem Spielballe gemacht hatte und jede Lust und Freude seines Lebens vergiftete. Nicht die Sorge um das eigene Wohlbefinden war es, die ihn trieb und beschäftigte, sondern mit wachsender, allmählich seinen ganzen Sinn verdüsternder Gewalt hatte in ihm die furchtbare Einbildung sich festgesetzt, daß sein allerdings hartnäckiges, aber ganz unbedeutendes Hautübel ansteckend sei, durch seine bloße Nähe auf Andere sich übertrage und diese traurige Wirkung bereits auch in allen den Fällen geübt habe, wo er Personen seines Umganges jemals hatte erkranken sehen. Erst als ein Einblick in dieses grausame Phantasiespiel gewonnen war, wurden Stellen seiner Briefe verständlich, in denen er von seiner Gewissensangst und unerträglichen Verzweiflung sprach, von seiner Verschuldung und dem Schaden, den er durch sein bloßes Dasein bereits angerichtet habe. Bei einem solchen Grade der Seelenverdüsterung konnte allerdings Rettung nur von einem Schwinden des körperlichen Uebels erwartet werden, das dem höllischen Schreckbilde immer frische Nahrung gab. Wie unsäglich schwer mußte der Unglückliche gelitten und mit sich selber gekämpft haben, ehe wider seine innersten Neigungen der Entschluß in ihm gereift war, von so viel ihn eng umschlingenden Liebesbanden sich loszureißen und dem Vaterlande in einem Augenblicke den Rücken zu kehren, wo es mehr als jemals seiner bedurfte.

In den nun folgenden Jahren nahmen die Dinge der Herzogtümer einen im Verhältnisse zu den damaligen bescheidenen Forderungen recht hoffnungsreichen Anlauf. Es wurden die Verfassungen ertheilt, die Provinziallandtage gewählt und einberufen, die Verwaltungs- und Justizeinrichtungen im nationalen Sinne reformirt; ein regsameres politisches Leben war sichtlich im Erwachen begriffen. Und während dieser Zeit lebte der Urheber aller dieser Fortschritte Jahre hindurch ganz vereinsamt und in freiwilliger Verbannung am Hafen des fernen Rio, von heiß nagendem Kummer gebeugt, von der brennenden Sehnsucht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_100.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)