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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Cadavern in den Salzsümpfen, und daß der ganze Paranafluß mit faulenden Thierleichen erfüllt, sein Bett mit Knochenresten gepflastert worden sei. Die Wiederkehr solcher Naturereignisse erklärt nicht nur die massenhafte Aufschichtung ausgestorbener Thiere im Schlamme einzelner Oertlichkeiten, sondern auch die Frage, wodurch Thiere, die, wie die Pferde, noch in jüngster Vorzeit massenhaft über ganz Amerika dahinjagten, in ungünstigen Jahren völlig aussterben konnten, sodaß sie bei der Ankunft der Europäer unbekannt waren.

Zugleich gab eine Race des Rindes, deren Unterlippe weit vorgeschoben ist und die Oberlippe nicht berührt, dem Reisenden ein bedeutsames Beispiel, wie sich durch geringfügige Umstände in solchen Katastrophen eine Abart besser erhalten kann, als eine andere, denn diese sogenannte Niata-Race hätte sich während der Zeit der Dürre im Freien nicht erhalten können, da sie nicht so leicht, wie die übrigen Rinder-Racen Schößlinge von Bäumen und Schilf mit den Lippen erfassen und abrupfen kann. Merkwürdiger Weise findet man die Reste eines ohne Nachkommen ausgestorbenen Riesenthieres mit ähnlicher Lippenbildung, des Sivatheriums, in den Sivalikhügeln am Himalaya, und der Gedanke liegt nahe, daß ihm dieselbe Abnormität der Lippenbildung verhängnißvoll geworden sein mag.

Andererseits gab die große Veränderung, welche die Besiedlung Amerikas durch die Europäer im Naturleben seiner Länder hervorgebracht hat, dem Reisenden treffliche Anschauungsbeispiele von den Vorgängen, bei welchen Thiere und Pflanzen durch andere verdrängt und zum Aussterben gebracht werden. Die Heerden der Pferde, Rinder und Schafe haben nicht blos den Guanaco, den Hirsch und Strauß von weiten Flächen vertrieben, sondern auch das amerikanische Schwein oder Peccari ist hier und da von dem verwilderten Schweine der alten Welt aus dem Felde geschlagen worden, und viele Striche wurden von verwilderten Katzen und Hunden bevölkert. Ebenso hat die spanische Artischocke oder Cardone in Chile und anderen Ländern auf beiden Seiten der Anden Hunderte von Quadratmeilen mit Verdrängung der meisten einheimischen Pflanzen in undurchdringliche Distelverhaue verwandelt.

Mochten hier die ersten nebelhaften Umrisse der Ideen vom „Kampfe um’s Dasein“ in dem Geiste des Reisenden aufgetaucht sein, so erhielt sein immer noch ziemlich festgebliebener Glaube an die Beständigkeit der Arten den Todesstoß bei Gelegenheit der im Jahre 1835 stattfindenden Untersuchung der Galapagos oder Schildkröteninseln durch die Expedition des „Beagle“. Diese Gruppe vulcanischer Inseln, die aus fünf größeren und mehreren kleineren Eilanden besteht, besitzt nämlich, obgleich sie gegen neunhundert Kilometer von Amerika entfernt liegt, eine sich im Großen und Ganzen an die amerikanische Fauna und Flora anschließende Lebewelt. Betrachtete man dagegen die Thiere und Pflanzen im Einzelnen, so boten sie bei allem ihrem unleugbar amerikanischen Charakter ein durchaus eigenartiges Gepräge; sie erschienen eben als Eingeborene dieser Inselwelt. Die Naturforscher der älteren Schule würden sie als für die Schildkröteninseln speciell erschaffene Geschöpfe angesehen haben. Dabei war nun außer jenen amerikanischen Beziehungen noch ein zweiter Umstand auffallend. Obwohl nämlich alle diese Inseln nur höchstens fünfzig bis sechzig Kilometer von einander entfernt liegen und die meisten durch kleinere Eilande wie durch Zwischenstationen mit einander verbunden sind, hat beinahe jede ihre eigene Art aus den auf dem Archipel vorkommenden Pflanzen-, Vogel- und Reptilgattungen.

So giebt es da z. B. eine baumartige Schwester unserer Kornblume, welche dort mit einigen Verwandten den hauptsächlichsten Waldbestand bildet und nur auf diesen Inseln vorkommt, die Scalesia, aber jede der sechs bis acht Arten dieses Baumes wächst auf einer andern Insel; nur ausnahmsweise kommen zwei derselben auf einer Insel zugleich vor. Ebenso haben sieben dieser Inseln je ihre eigene, nirgends sonst in der Welt vorkommende Wolfsmilch-Art, aber unter sich sind diese sieben Arten allerdings näher verwandt, und ähnlich verhält es sich mit den diesen Inseln eigenthümlichen Finken, Spottdrosseln und selbst Schildkröten.

Hier drängte sich nun in der That beinahe mit Gewalt der Gedanke auf, daß diese Pflanzen und Thiere wohl in lange zurückliegender Zeit von der Westküste Amerikas bei irgend einer Gelegenheit eingewandert sein und dann auf jeder einzelnen Insel nach den besonderen dort herrschenden Lebensbedingungen etwas verschiedene Formen angenommen haben möchten. Nächst den Riesenschildkröten, die diesen Inseln ihren Namen gaben, ist jedoch die eigenthümlichste und lehrreichste Bewohnerin derselben eine mehrere Fuß lange dunkelgefärbte Eidechse, der Höckerkopf (Amblyrhynchus), ein Vetter der amerikanischen Leguane. Dieses ebenfalls sonst nirgends vorkommende Thiergeschlecht ist nun in zwei verschiedenen Arten vorhanden, von denen sich die eine der Ernährung von Landpflanzen, die andere – ein Unicum unter den Eidechsen! – der Ernährung von Meeresalgen angepaßt hat. Hierbei blieb nun in der That wohl kaum ein Zweifel übrig, daß diese beiden Arten aus derselben Grundform, und zwar wahrscheinlich eben durch die Gewöhnung an die verschiedene Lebensweise entstanden sein müßten.

Nach einem längeren Besuche Australiens und Polynesiens, wo er das lange vergebens umworbene Räthsel der von Korallenthieren erbauten Inseln löste, betrat Darwin am 2. October 1836 wieder den englischen Boden, tief erschüttert in seinem Vertrauen zu den Lehren der herrschenden biologischen Schule, und schrieb bald darauf (1839) eine vorläufige Skizze seiner neu gewonnenen Ansichten nieder, die er seinen Freunden, dem bekannten Geologen Lyell und dem Botaniker Hooker, zu lesen gab. Zunächst zwar nahm die Bearbeitung der reichen geologischen, botanischen und zoologischen Errungenschaften der Reise, bei der ihn die ersten Fachgelehrten seiner Zeit und des Landes unterstützten, seine Thätigkeit in Anspruch, aber sobald diese Arbeiten aufhörten ihn in London zu fesseln, zog er sich (1842) nach seinem Landsitz Down bei Bromley in der Grafschaft Kent zurück, um hier, durch geduldige Studien im Garten und auf dem Vieh- und Geflügelhofe, die auf dem heißen Boden der Galapagos-Inseln brennend gewordene Frage, ob die Arten unveränderlich oder veränderlich seien, festzustellen.

Seine Beobachtungen an verschiedenen Culturpflanzen und Hausthieren, besonders an den Tauben, brachten ihn bald genug zu der sicheren Ueberzeugung, daß die lebenden Wesen in hohem Grade zur Veränderung neigen, und daß ihre allmählichen Abänderungen in der Weise zur Artbildung führen, daß die irgendwo den herrschenden Lebensbedingungen am besten entsprechenden Formen in dem allgemeinen Verdrängungskampfe zuletzt allein übrig bleiben. Diese Voraussetzung, welche den Schwerpunkt der Darwin’schen Theorie bildet, ist, wie hier zu bemerken erlaubt sein mag, keine Hypothese, sondern ein einfacher Vernunftschluß, denn das, was sich seiner Umgebung nicht anzupassen vermag, kann natürlich nicht leben.

Darwin hätte in seiner bescheidenen Zurückhaltung wahrscheinlich noch lange sich mit Sammlung weiterer Thatsachen zur Unterstützung seiner Auffassung begnügt, wenn nicht der berühmte Reisende und Naturforscher Alfred Russel Wallace bei seinen Studien des Naturlebens im malayischen Archipel unabhängig zu genau derselben Ansicht gelangt wäre und eine Abhandlung darüber im Jahre 1858 an Darwin gesandt hätte, der sie Lyell zustellen sollte, wenn er sie des Druckes würdig erachte. Letzteres geschah, aber Lyen und Hooker veranlaßten Darwin, seine ihnen bekannte Skizze von 1839 mit abdrucken zu lassen. Diesen am 1. Juli 1858 veröffentlichten Aufsätzen folgte im November desselben Jahres Darwin’s grundlegendes Werk über den Ursprung der Arten, welches die dichterische Weltanschauung seines Großvaters durch eingehende und in einer große Reihe späterer Werke fortgesetzte Specialforschungen zu Ehren gebracht hat. Wir können hier die Wirkung, welche diese Geistesthaten auf die gesammten Naturwissenschaften geübt haben, nicht näher schildern; diese letzteren sind nach kaum zwanzig Jahren bereits von Darwin’schem Geiste durchsättigt, und es giebt kaum einen oder den anderen Specialforscher, der sich gegenwärtig noch diesem Einflusse zu entziehen vermöchte. Von nicht geringerer Bedeutung war der Schritt, mit welchem er den Menschen als Glied der Gesammtnatur zurückforderte und dadurch auch alle Culturwissenschaften in die gewaltige Geistesbewegung hineinzog. Dieser Umstand erregte natürlich in den Kreisen vieler Buchstabengläubigen das größte Aergerniß, aber schon jetzt beginnen verständige Geistliche einzusehen, daß gerade im Darwinismus die Keime der erhabensten Gottes- und Weltauffassung, die sich denken läßt, liegen. Auch sie dürfen daher in den Wunsch einstimmen, daß der Jubilar noch lange Jahre Freude an dem Aufblühen seines Werkes erlebe möge.

Carus Sterne.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_115.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)