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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Poet und hatte zwei Stücke geschrieben, welche der alte Nees mir sehr rühmte: „Jean Favard oder die Liebe der Reichen“, ganz im Stil der französischen Effectdramatik gehalten, und die Tragödie: „Aham, der Arzt von Granada“, ein Werk von mehr poetischer Haltung, in welchem der Mangel an Vertrauen als die tragische Schuld des Helden hingestellt wird und zugleich seinen Untergang herbeiführt. Beide Stücke waren im Druck erschienen; doch der Autor war trotzdem so unberühmt geblieben, wie es die Verfasser blos gedruckter Stücke in Deutschland zu bleiben pflegen. Mit „Jean Favard“ hatte eine zweite Berliner Bühne einen Aufführungsversuch gemacht.

Auf den ersten Blick würde man den Dichter für einen jener „haarbuschigen Gesellen“ gehalten haben, von denen Shakespeare spricht; es lag etwas Verworrenes in seinem Aussehen und in seinem Wesen, wozu die wildwuchernde Frisur wesentlich beitrug; doch bei näherer Betrachtung des interessanten Gesichtes erkannte man das Sinnige und Phantasievolle, das sich in diesen Zügen ausprägte, besonders in der hohen Stirn und dem feingeschnittenen Mund, während die kleinen Augen allerdings nicht das genug Beherrschende hatten, welches sonst oft großen feurigen Dichteraugen eigen ist.

Ich las die beiden Stücke, die mir bisher unbekannt geblieben waren, mit großem Interesse und erkundigte mich dann nach den Lebensverhältnissen des Dichters; ich erfuhr, daß Brachvogel in Breslau am 29. April 1824 geboren sei, von einer gemüthskranken, schwermüthigen Mutter, und daß nach dem frühen Tode seines Vaters im Jahre 1830 seiner Erziehung die feste, liebende Hand gefehlt habe; er habe indeß die Realschule am Zwinger und das Magdaleneum besucht, sei dann bei einem Kupferstecher in die Lehre gegeben worden, habe sich aber von diesem Berufe wieder abgewendet und einen verunglückten Versuch als Schauspieler in Wien gemacht. Nach dieser letzteren Mittheilung konnte ich mir das „falsche Pathos“ erklären, das ihm bisweilen beim Gespräch im Leben eigen, aber auch in seinen Schriften zu finden war.

Längere Zeit vernahm ich dann wenig von ihm; ich rechnete ihn zu den Talenten, deren Entwickelung durch ungünstige Verhältnisse im Keim erstickt war; er bewegte sich in untergeordneten Lebensstellungen, wurde in Berlin Secretär des Kroll’schen Theaters und seit 1855 in dem Wolff’schen Telegraphenbureau beschäftigt.

Da kam plötzlich zu uns nach Schlesien die Kunde von einem großen Erfolg, den ein Stück Brachvogel’s am Berliner Hoftheater errungen hatte; von einem Erfolg, der nicht durch die Claque im Theater und in der Presse geschaffen, sondern mit Hülfe eines genialen Darstellers Dessoir errungen war und sich so nachhaltig erwies, daß das Stück bald die Runde über alle deutschen Bühnen machte und sich auf allen Repertoiren behauptete.

Dieses Stück führte den Titel „Narciß“, und der Verfasser erwachte eines Morgens als ein berühmter Mann. Herr von Hülsen wollte anfangs ein anderes Stück Brachvogel’s „Ali und Sarah“ zur Aufführung bringen, doch entschied er sich für den „Narciß“, nachdem der Regisseur Düringer und der Schauspieler Dessoir, für den die Hauptrolle bestimmt war, dieses Drama für die Bühne umgedichtet, manche Scene ganz beseitigt und manche Abschlüsse wirksamer gestaltet hatten.

Der „Narciß“ ist die glänzendste Blüthe des Brachvogel’schen Talentes, das vorher und nachher auch manche taube Blüthen gezeitigt hat. Wer kennt dieses Drama nicht? Die ersten Schauspieler haben die Titelrolle gespielt, Dessoir, der sie mit seltenem Erfolg creirte, Dawison, der besonders in der Schlußscene des vierten Actes ein hinreißendes Feuer entwickelte, Emil Devrient, Friedrich Haase; bald waren es die Liebhaber, bald die Charakterdarsteller, welche auf allen ihren Gastreisen das Paradepferd des „Narciß“ vorritten. Ein Bühnenstück von solchem Erfolg gehört in Deutschland zu den Seltenheiten.

Anfangs fragte man sich: wer ist Narciß – vielleicht jener schöne Jüngling der Mythe, der sein Bild in einer Quelle sah und sich in dasselbe verliebte? Haben wir es mit einer Tragödie der Selbstvergötterung zu thun? Doch nein, der Held war ein Franzose, der zur Zeit der Pompadour lebte, vor der großen Revolution, und das Stück lehnte sich an die Skizze Diderot’s: „Rameau’s Neffe“ an, welche Goethe übersetzt hat. In dieser Skizze ist bereits das ganze Charakterbild des Narciß, der Ton seiner philosophischen Sprechweise gegeben; ja auch der Pagode findet sich bereits darin, und die kleine hübsche Frau, welche der Neffe Rameau’s verloren hat.

An dieses Motiv knüpfte Brachvogel die eigene Erfindung an; die verlorene Frau wurde bei ihm zur Pompadour, Narciß in eine Hofintrigue verwickelt, welche zum Zweck hat, die allgewaltige Maitresse zu stürzen und zwar durch einen psychologischen Mord, durch eine Komödie, in welcher Narciß, der ehemalige Gatte, wie alle Andern wissen, nur er nicht, die Hauptrolle spielt. Er erkennt sein Weib und erwacht aus der rührenden Freude des Wiedersehens mit der schrecklichen Entdeckung, daß sein Weib die verabscheute Furie Frankreich’s ist; beide, schon längst dem Tode geweiht, brechen zusammen in Folge der gewaltigen Aufregung und sterben am Herzschlage.

Diese Scene ist die größte Effectscene unserer modernen Bühne; sie ist von Brachvogel mit hinreißender dramatischer Energie durchgeführt und hat eine grandiose Steigerung. Gleichwohl bewegt sie sich nicht auf den Höhen der reinen Tragik; ihre Voraussetzungen sind pathologischer Art; wir sehen Narciß schon im ersten Act bei dem Anfall eines innern Leidens zusammenbrechen, wir sehen die Pompadour als eine dem Tode geweihte Kranke; die letzte Scene ist nicht blos eine dramatische, sondern auch eine Lazarethkrisis, welche die beiden Patienten nicht überstehen.

Die meisten auf der Bühne uns vorgeführten Situationen des Stückes sind von großer Wirkung; Brachvogel hat sich, wie schon sein „Jean Favard“ beweist, an französischen Mustern gebildet, was theatralischen Effect betrifft; er hat eine phantasievolle Anschauung der Bühne und außerdem den dramatischen Nerv, besonders wo es starke Contraste in Scene zu setzen gilt.

Dagegen steht die Motivirung, die Intrigue sehr zurück; man pflegt ihr weniger nachzuspüren, wenn das, was auf der Bühne vor unseren Augen vorgeht, eine starke Wirkung hat. Sonst würden wir die Mischung deutscher übertriebener Empfindsamkeit mit der rücksichtslosesten Bosheit, welche die Maschinerie des Stückes in Bewegung setzt, um so störender empfinden. Oder ist es entfernt glaublich, daß ein Hofmann am Hofe Ludwig’s des Fünfzehnten, ein Herzog von Choiseul, blos deshalb der wüthendste Gegner der Pompadour wird, weil diese ihm erklärt, sie habe ihn nie geliebt, sie habe sich ihm ohne Liebe hingegeben?

Das mag auch der Grund sein, warum „Narciß“ nicht auf die französische Bühne gekommen ist; es war der Aufführung näher als irgend ein anderes deutsches Stück; denn ich sah im Jahre 1866 das Manuscript der Uebersetzung bereits auf dem Tische im Zimmer des damaligen Directors der kaiserlichen Theater, Camille Doucet, liegen. Der feine Akademiker fragte mich nach dem Erfolg des Stückes in Deutschland; ich gestand ein, daß er ein ebenso glänzender, wie nachhaltiger sei. Doucet zuckte mit den Achseln; für Frankreich müsse das Stück gänzlich umgearbeitet werden; in dieser Gestalt, mit dieser Motivirung sei es unmöglich.

In der That ist dieser Narciß kein Franzose; er ist ein Deutscher oder vielmehr – ein Schlesier. Bei der Holtei-Feier in Breslau schilderte Professor Weinhold den schlesischen Volkscharakter: „Der Schlesier ist ein Kaleidoskop; je nachdem er geschüttelt wird, bietet er dem Auge verschiedene Figuren: er liebt die Musik, hat Neigung für Phantastisches, aber er ist auch derb und realistisch bis zum Aeußersten, leichtsinnig und sinnlich, verfällt in weichliche Unentschlossenheit und läßt seine guten Anlagen in Trägheit oder dilettantischer Zerfahrenheit verkommen.“ Diese Mischung des Phantastischen und Derben, des Sentimentalen und Cynischen ist im „Narciß“ mit typischer Mustergültigkeit ausgeprägt; doch auch das ganze Dichternaturell Brachvogel’s trägt einige unverkennbare Züge des schlesischen Volkscharakters. Hierzu kommen die Eigenheiten des Autodidakten. Brachvogel hat wohl längere Zeit die Vorlesungen an der Breslauer Universität besucht, doch, wie wir gesehen, keine geregelte Vorbildung genossen. Glänzender Reichthum der Phantasie, Weichheit der Empfindung, lebensvolle Anschauung der Situationen gehen daher bei ihm Hand in Hand mit einer gewissen Zerflossenheit der Zeichnung, mit einer auf der Spitze stehenden Motivirung, vor Allem aber fehlt dem Dichterwein, den er uns credenzt, die feine Blume des classischen Geschmacks und der geläuterten Bildung; daher auch die ungleiche Höhe der einzelnen Schöpfungen und noch einem überraschend glücklichen Wurf eine Reihe von Fehlgriffen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_130.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)