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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

krochen, genügt, um uns für ewig von der Erde verschwinden zu lassen.

Wir hatten die Richtung nach der von der Bahn begrenzten Felswand eingeschlagen. Nach etwa einer Viertelstunde vorsichtigen Kriechens hatten wir sie erreicht. Ein Blick von hier aus nächster Nähe auf den Telegraphen überzeugte uns: der Agent hatte Recht gehabt. Einer der Drähte war durchschnitten und durch einen offenbar die Electricität nicht leitenden Körper verbunden, an den beiden Enden aber waren zwei Leitungsdrähte befestigt, welche, in einen Erdriß gelegt, von unten aus für ein unbewaffnetes Auge gar nicht bemerkbar waren. Es war klar: der Betrüger hatte jede Depesche aufgefangen und dann weiter befördert, dabei aber auch vermocht, selbst solche aufzugeben, beziehentlich jede andere aufzuhalten oder nach seinem Belieben zu ändern.

Jetzt galt es das gefährlichste Stück Arbeit, uns dem Orte zu nähern, wo der Betrüger seine Maschinen aufgestellt hatte. Das war sicher: trafen wir ihn bei der Arbeit, so war ein Kampf auf Leben und Tod unvermeidlich. Die Drähte bildeten unsere Führer. Nach einigen Dutzend Schritten führten dieselben über eine emporragende Felsenkante und von da offenbar nach einem tiefer gelegenen Ort. Mr. Carpe hob den Finger. Jetzt hatten wir den Felsen erreicht; ein Zeichen – und mit einem Satz standen wir alle drei oben und blickten in eine höhlenartige Vertiefung, in welcher ein Mann in voller Aufmerksamkeit vor einem telegraphischen Apparate saß. Das Geräusch, welches wir machten, ließ ihn aufsehen. Ein wilder, erschrockener Blick traf uns; er fuhr auf und griff nach der Seite. Ein Schuß – und im nächsten Augenblick war er verschwunden. Ich fühlte im rechten Unterarm einen stechenden Schmerz, der mir freilich in der Aufregung des Augenblickes nicht auffiel, sich später aber als von der Wunde einer Revolverkugel herrührend erwies.

Mit dem Sprunge eines Tigers war der Detective an der Maschine, die sich im vollen Gang befand; ein Blick – und er sah beruhigt empor.

„Decken Sie den Ausgang, meine Herren!“ rief er uns eilig zu, „der Bursche darf nicht entkommen,“ und damit bog er sich wieder zu dem Telegraphenapparat nieder, um die gerade durchgehende Depesche zu lesen, während wir nach dem ersten Augenblick der Ueberraschung schnell entschlossen den Felsen über der Höhle erklommen, um nach dem Flüchtling zu schauen. Da bemerkten wir, daß die Vertiefung, in welcher der Apparat stand, nach hinten einen Ausgang habe. Durch diesen war der Mann verschwunden.

Wir eilten, den gespannten Revolver in der Hand, in verschiedenen Richtungen an den Rand des Felsens und spähten hinab; der Flüchtling konnte noch nicht entronnen sein. Er war nirgends zu sehen. Rathlos blickten wir einander an. Da kam – es waren nur wenige Minuten vergangen – Mr. Carpe uns nach, mit dem zufriedensten Lächeln auf seinen Zügen.

Wie er uns später mittheilte, hatte er gerade eine Depesche aufgefangen, die der Complice des Gesuchten an diesen richtete. Auf diese Weise konnte der des Telegraphirens kundige Polizeimann diesem eine unverfängliche Anweisung an das Bankgeschäft in Elmira zur Erhebung einer weiteren Summe ertheilen, wohl wissend, daß derselbe bei dieser Gelegenheit in festen Gewahrsam genommen wurde.

Jetzt galt es, den Entflohenen zu suchen. Daß er noch nicht von dem Felsen war, lag außer allem Zweifel; so mußten wir jeden Augenblick gewärtigen, von ihm, der nun gewarnt war, im Rücken angefallen zu werden. Der Scharfblick des Agenten half uns aber über alle Schwierigkeiten hinweg. Mit der Spürkraft eines Indianers verfolgte er die von dem Fliehenden in der Eile hinterlassenen Spuren an niedergetretenen Grashalmen, zerbröckelten Erdstückchen oder verbogenen Zweigen, und so gelangten wir an eine steile Platte, welche, über den Fluß vorspringend, von einem Baume gekrönt wurde.

Der Detective hatte sich mit außerordentlicher Vorsicht dem Baume genähert und mit den Augen an dessen Wurzeln geforscht, plötzlich sprang er auf und schoß mit der Schnelligkeit eines Hirsches an uns vorüber. Einen Augenblick standen wir starr, unfähig uns solches Gebahren zu erklären, im nächsten Moment aber sahen wir eine Strickleiter über den Rand des Felsens emporschnellen. Der Agent blieb stehen. Er hatte den die Leiter haltenden Drahtzug am Fuß des Baumstammes entdeckt und war, diesen fassend, zurückgelaufen, indem er durch die Schnelligkeit der Bewegung dem Ueberraschten keine Zeit ließ, die Leiter fest zu halten. Ein wilder Schrei ertönte zugleich von der unteren Seite des Felsens. Mr. Carpe warf die Leiter mit dem daran hängenden Drahte zu Boden und trat an den Rand der Felsenwand. „Du bist gefangen, Bursche; willst Du Dich ergeben?“

Ein gräulicher Fluch war die Antwort auf diese Frage.

„Fluche immer zu, mein Bursche! Das macht Appetit. Hast Du noch viel Brod und Wein in Deinem Keller?“

Drunten an der Felswand war es still.

„Hast Du Lust, Dich zu ergeben, oder sollen wir Dich aushungern?“

Ein neues Fluchen ertönte.

„Wirf Deine Waffen hinab!“ befahl der Polizeimann mit scharfer Stimme.

Alles still.

„Wirst Du gehorchen, Bursche? Ich mache Dich mürbe, so wahr ich Carpe heiße.“

Die Stimme des Agenten klang drohend, fast grausam.

Wir hatten uns auf den Boden geworfen und blickten, durch die Felsen gedeckt, nach dem Orte hin, wo der Mensch verborgen sein mußte. Ein Revolver wurde weit hinaus geschleudert und versank im Fluß.

„Den anderen auch, Bursche! Mit einem bist Du nicht zufrieden gewesen.“

Es folgte eine kurze Pause, dann flog ein zweiter Revolver dem ersten nach.

Mr. Carpe holte die Leiter und schlang das dicke Ende des Drahtes um den Baum.

„Nun komm’ herauf, aber schnell und ohne zu mucksen! Vorwärts!“

Die Leiter war hinabgesunken. Mr. Carpe bat uns, den mehrmals um den Baum geschlungenen Draht zu halten, und stellte sich seitwärts. Der Draht wurde straff. Langsam kam ein Mensch die Leiter herauf. William wendete sich mit Abscheu ab: es war der frühere Beamte seines Vaters.

Jetzt hatte der Mann die halbe Höhe des Leibes über den Felsen, da trat Mr. Carpe vor. „Warte ein wenig, Bursche! Ich will Dir helfen.“

Ein Blick hatte ihn gelehrt, daß der Mann ohne Waffen sei, aber er wollte sich seiner versichern. Im Nu hatte er ihm eine Schlinge über die Arme und um den Leib geworfen, und ehe der übrigens zum Widerstande nicht geneigte Mann es sich versah, ihn mit riesiger Kraft über den Rand des Felsens gehoben und seine beiden Hände gefesselt.

„So, mein Bursche, und nun sage uns auch gleich: „Wo hast Du das Geld?“

Der Gefangene sah seinen Ueberwinder fragend an.

„Keine Flausen!“ sagte dieser hart und hob die Linke in abwehrender Bewegung; „wo ist das Geld?“

Der Gefangene senkte das Haupt. „Da unten liegt es,“ sagte er mit erbitterter Resignation und deutete nach der eben überstiegenen Felsenwand.

Mr. Carpe nickte. „So komm!“ sagte er kurz, zog den Ueberwundenen bis an den nächsten Baum, wo er ihn gründlich fest band, und dann kam er zurück, um selbst die Strickleiter hinab zu steigen. Nach etlichen Minuten erschien er wieder.

„Ein famoses Nest!“ sagte er sarkastisch, „wo wir den Vogel sammt seiner Beute nie aufgefunden hätten, wenn der Bursche bei all seiner Verschmitztheit nicht eben doch noch recht dumm gewesen wäre. – Sehen Sie sich’s einmal an!“

William stieg hinab und kam bald wieder herauf; ich selbst bemerkte jetzt erst, da ich die Leiter hinunter wollte, das aus dem Aermel rinnende Blut. Gleichwohl betrachtete ich mir die Höhle, die so meisterhaft von der Natur angelegt war, daß man sie weder von unten, noch von oben bemerken konnte und der Gefangene sie nur durch einen Zufall oder durch brütende Vögel konnte entdeckt haben. Mr. Carpe hatte in derselben das betrügerisch erhobene Geld gefunden, mit Ausnahme einiger hundert Dollars, die der Bursche mit seinen Complicen getheilt oder verjubelt haben mochte.

„Höre, Bursche,“ sagte Mr. Carpe auf dem Heimweg zu dem Gefangenen, „Du bist bei all Deiner Schlechtigkeit doch noch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_133.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)