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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

dessen genaue Beobachtung verhindern soll, daß ein körperlich elendes und verkommenes, ein geistig und sittlich verwahrlostes Geschlecht heranwachse, zeigten die Unternehmer durchschnittlich eine traurige Gleichgültigkeit, hin und wieder selbst einen verabscheuenswerthen Widerstand. Noch schimpflichere Gesinnungen verriethen teilweise die Arbeiter selbst, indem sie freiwillig ihre unmündigen Kinder zur Fabrikarbeit heranschleppten; von dieser dunklen Folie hob sich dann freilich um so glänzender das Beispiel einzelner Fabrikanten ab, welche die Beschäftigung von Kindern ein- für allemal ablehnten, auch gegen den Willen der Eltern, weil sie die vollkommene Schulreife als notwendig für die Erziehung eines einsichtigen und kräftigen Arbeiterstandes betrachteten. Aber dieser braven Männer war nur eine geringe Zahl, im Allgemeinen bedurfte es angestrengter und mehrjähriger Bemühungen der Fabrikinspectoren, die gesetzlichen Bestimmungen über die Beschränkung der Kinderarbeit überall durchzuführen; wurde doch selbst ein so schändlicher Fall festgestellt, daß ein noch nicht sechszehnjähriger Knabe in einem Walzwerke nicht nur regelmäßig dem Tag- und Nachtwechsel der Schichten eingereiht, sondern auch, in geradezu ungeheuerlicher Ausbeutung seiner Arbeitskraft, zweiundzwanzigeinhalb Stunden lang ohne andere, als die üblichen Unterbrechungen beschäftigt worden war!

Die Kinderarbeit in Fabriken ist bekanntich ein vielumstrittenes Thema unserer social-politischen Discussion. Vom sittlichen Standpunkt aus erscheint das gänzliche Verbot der fabrikmäßigen Beschäftigung von Kindern in schulpflichtigem Alter als ein unverrückbares Ziel der deutschen Gesetzgebung; wir haben kein Recht, von kommenden Geschlechtern Anleihen zu erheben, die dermaleinst mit Wucherzinsen erstattet werden müssen. Hiergegen wird eingewandt, daß Kinderarbeit in diesen Zweigen der Fabrikindustrie aus technischen Gründen, in jenen aus Rücksicht auf die internationale Concurrenzfähigkeit vorläufig unentbehrlich sei, und für beide Gesichtspunkte lassen sich mancherlei Gründe anführen. Theoretisch kann sich der Streit noch endlos fortspinnen, ehe ein glückliches Ende abgesehen ist, praktisch ist die Frage schon jetzt einer gedeihlichen Lösung nahe gebracht, wenigstens in der preußischen Industrie, und zwar durch die Fabrikinspectoren. Seitdem sie streng den gesetzlichen Vorschriften gemäß darauf halten, daß Kinder nur am Tage, außerdem täglich nicht mehr als sechs Stunden und nur dann beschäftigt werden dürfen, wenn sie zugleich einen dreistündigen Schulunterricht genießen, nimmt die Kinderarbeit stetig ab und ist selbst in einem so hervorragenden Mittelpunkte der Großindnstrie wie Berlin, so gut wie ganz erloschen. Ihr Werth ist den Unternehmern durch die umständliche Beobachtung der gesetzliche Beschränkungen illusorisch gemacht; so wird in absehbarer Zeit ihr grundsätzliches Verbot ausgesprochen werben und damit ein Erfolg der sozialen Reformtätigkeit verzeichnet werden können, der moralisch noch glänzender sein würde, als materiell.

Auch die wichtige Bestimmung der Gewerbeordnung, welche die Unternehmer verpflichtet, alle nothwendigen Schutzvorkehrungen für Gesundheit und Leben ihrer Arbeiter zu treffen, war wesentlich nur ein papierner Wunsch geblieben. Nach dieser Richtung haben die preußischen Fabrikinspectoren gleichfalls von vorne an arbeiten müssen, und sie dürfen auf manche schöne Erfolge zurückblicken. Merkwürdiger Weise lassen es die Arbeiter in dieser Beziehung weit mehr an sich fehlen, als die Unternehmer; während diese den bezüglichen Anregungen und Rathschlägen der Fabrikinspectoren willig entgegenkommen, zeigen jene nur zu häufig einen sträflichen Leichtsinn, einen thörichten Muthwillen; es kommt vor, daß sie aus alberner Großthuerei die Schutzvorrichtungen zerstören, welche in ihrem Interesse von den Unternehmern mit schweren Kosten eingerichtet sind. Dagegen haben die Arbeiter gerechten Grund zur Beschwerde über die Unzulänglichkeit des bestehenden Haftpflichtgesetzes, das die Unternehmer zum Schadenersatz verpflichtet, wenn Unglücksfälle, welche sie oder ihre Beamten verschulden, die Erwerbsfähigkeit von Arbeitern schmälern oder ganz vernichten. Man kann nicht sagen, daß die Fabrikanten in diesem Ehrenpunkte ein besonders starkes Pflichtgefühl entwickeln; nur zu gern schlüpfen sie durch die beklagenswerten Lücken jenes Gesetzes. Gerade die neuesten Jahresberichte der preußischen Fabrikinspectoren beschäftigen sich eingehend mit der wichtigen Frage und liefern eine Fülle tatsächlichen Materials, welches bei der bevorstehenden, im Reichstage schon angeregten Revision des Haftpflichtgesetzes die nützlichste Verwendung finden wird.

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, noch näher auf alles einzugehen, was jene Beamten über ihre nächstliegenden Aufgaben hinaus gewirkt, was sie an nützlichen und wohltätigen Einrichtungen, Consumvereinen, Badeanstalten, Bibliotheken, Anstalten zur Beaufsichtigung und Erziehung der Kinder während der Arbeitszeit der Eltern etc. befürwortet und durchgesetzt haben. Alles in Allem genommen, haben sie sich ihrer große Aufgabe voll gewachsen gezeigt. Sie haben in Hunderten von Fabriken den Gesetzen des Reiches Achtung verschafft; sie habe sich in schwieriger Lage als erfahrene und treue Freunde der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer bewährt; sie haben in ihre Jahresberichte eine lange Reihe durchdachter Anregungen und selbst reifer Vorschläge niedergelegt und in eben diesen Berichten Bilder unserer sozialen Zustände entrollt, wie sie in gleich lebensfrischer Farbe und Form sonst nicht vorhanden sind. Aber leider hat sich auch diesen werthvollen Arbeiten gegenüber, welche alljährlich gesammelt im Verlage von Fr. Kortkampf in Berlin erscheinen, die gebildete Lesewelt noch wesentlich theilnahmlos verhalten.

Und doch ist nichts lehrreicher, als sich in diese Bilder zu vertiefen, mit freudiger Genugthuung zu verfolgen, wie sie von Jahr zu Jahr, mag noch so viel zu thun übrig bleiben, doch immer heller und lichter werden. Der deutsche Unternehmerstand hat große und zahlreiche Vorzüge; viele seiner Glieder sind unsere fleißigsten und tüchtigsten Arbeiter. Aber was ihnen häufig in beklageswerthem Grade, wenn auch vielleicht nur in Folge der verhältnißmäßigen Jugend unserer Industrie, fehlt, ist ein Bewußtsein ihrer sozialen Pflichten; Goethe’s weises Wort:

„Was Du ererbt von Deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen!“

ist ihnen vielfach noch ein Räthsel mit siebe Siegeln. Gerade den tüchtigsten, aus eigener Kraft emporgekommenen Unternehmern wird es oft am schwersten, gerechten Forderungen ihrer Arbeiter nachzukommen, an schwere Mühsale gewöhnt, nehmen sie von ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit den Maßstab, mit welchem sie gewöhnliche Menschen messen. Aber diesen Schattenseiten steht eine große Lichtseite gegenüber, für welche die Berichte der preußischen Fabrikinspectoren hundertfache Beweise enthalten; mögen die Unternehmer selten sein, welche von selbst mit freiem und weitem Blicke die große Pflicht erkennen, die jedes große Recht in sich schließt, nicht minder spärlich sind die gesäet, welche aus bösem und hartherzigem Willen sündigen. Bei der großen Masse handelt es sich allein um Gleichgültigkeit und Trägheit, und diese Fehler schwinden von Jahr zu Jahr; mehr und und mehr rühmen die preußischen Fabrikinspectoren die Bereitwilligkeit und das Entgegenkommen der weitaus meisten Unternehmer.

Auf der andern Seite läßt es der Arbeiterstand mindestens in gleichem Grade an sich fehlen. Kein Zweifel, daß seine grenzenlose Indolenz, sein unglaublicher Widerwille gegen alle, auch die segensreichsten Neuerungen, seine beispiellose Kurzsichtigkeit gegenüber seinen wichtigsten Interessen auch den freudigsten Eifer wohlwollender Arbeitgeber zu ermüden vermögen. Namentlich wo die Socialdemokratie über starken Anhang geboten hat oder gebietet, zeigen sich die Arbeiter als ein dumpfes, träges, jeder thatkräftigen Selbsthülfe unfähiges Geschlecht; gerade am Rhein, dem preußischen Hauptherde der communistischen Agitation, bekennen sie völlige Theilnahmlosigkeit gegen die eifrigsten Bestrebungen, welche die Fabrikinspectoren zu ihren Gunsten aufwenden. In anderen Gegenden verräth sich dann freilich auch wieder lebhafteres Interesse, aber zweifellos steht den deutschen Arbeitern eine lange und mühsame Prüfungszeit bevor, ehe sie die Folge eigener und fremder Sünden überwunden und die Reife erlangt haben, welche ihre englischen Cameraden auszeichnet.

So sind die Beziehungen zwischen Unternehmern und Arbeitern noch vielfach unerquicklicher Natur. Ueberwiegend durch ungelöste Dissonanzen wird das moderne Arbeitsverhältniß gekennzeichnet. Hier die schlummernden Kräfte zu erwecken und die erwachenden zu fröhlichem Einklange zu leiten, diese Aufgabe ist jetzt in die erfahrungsmäßig berufensten Hände gelegt, in die Hände von Fabrikinspectoren. Der gegenwärtige Moment, in welchem endlich alle deutschen Staaten sich der Wirksamkeit dieser Beamten erfreuen, ist vielleicht besonders geeignet, die allgemeine Aufmerksamkeit und Theilnahme ihrer ersprießlichen Thätigkeit zuzuwenden, und so mögen diese Zeilen, nicht ganz den Zweck verfehlen, welchen sie verfolgten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_135.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)