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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

die Lehren, die meiner Jugend eingepflanzt sind, die Lenkseile, die dem Menschen, die einem einsamen, von Liebe verlassenen Weibe an die Hand gegeben werden. Schwache – elende Hülfen – Beschwichtigungen, mit denen man blutleere Individuen zur Ruhe bringt! Ich kann an einem Schöpfer keine Liebe erschauen, der dem Geschöpfe nur die Qual giebt.

So tobte wilder Aufruhr in Regina’s Seele. Dann trat jener Moment ein, wo ein ruhigerer Gang der Gedanken sein Recht verlangt, wo sie sich fragte, wie es denn möglich sei, daß ein Vorfall, der sie äußerlich gar nichts anging, alle Seelenkräfte in ihr in diese heftigen Schwingungen versetzen konnte. War denn mit der Verhaftung des Präsidenten in der That für sie Alles verloren? War nicht Doris von Erich ertappt worden? An jenem Abende, wo dieser bei ihr war, hatte sich die Empfänglichkeit seines Herzens für die Aeußerungen des ihrigen offenbart. Wenn es von seiner Seite auch noch nicht Liebe war, so konnte diese doch daraus entstehen, sobald er von Doris sich losgerissen hatte. Der Schmerz ist in solcher Lage ein mächtiger Vermittler.

Das war eine Combination ihres Gehirns, die aber im nächsten Augenblicke wieder machtlos war – vor Einem, das sich wie mit dunklen schweren Fittigen auf sie legte. Es war die Schuld, die aus dem Bewußtsein ihres Gewissens vor ihr aufstieg. Jede ihrer Handlungen von dem Momente an, wo sie mit der Leidenschaft zu Erich im Herzen in das Leben Beider getreten war, wo sie den Brief an Erich gerichtet hatte – jede war ein Glied in der Kette derselben. Sie war nicht besser, als der Mann, der hinter Schloß und Riegel saß – ein Irrstern, wie dieser. Das Ehrenkleid ihres Charakters war beschmutzt – sie war der Liebe Erich’s nicht mehr werth.

Wie von der Gewalt Gottes, so wurde sie von diesem Bewußtsein getroffen. Unter dieser tiefsten Demüthigung, die über ein Weib kommen kann, sank sie zu Boden. Ihre wirren Gedanken gingen in jenen Abend zurück, wo sie zu sich die Worte gesprochen hatte: Ja, ich will! – an den See, unter die rauschenden Bäume, zu den schwarzen, jagenden Wolken darüber, in das dunkle unbewegte Wasser. Wenn ein Mensch darin versinkt – eine augenblickliche Bewegung, ein Laut, dann wieder Stille, als wenn nichts geschehen. Alle Qual ist geendet.

Ein paar Minuten später verließ sie ihre Wohnung.




10.

Die Verhaftung Lideman’s am Abende des Gartenfestes hatte unter den Gästen eine Bestürzung hervorgerufen, die in einer allgemeinen Flucht endete. Jedermann rief nach Dienern, nach Wagen, welche letztere, weil auf eine spätere Stunde bestellt, natürlich nicht da waren. So begnügten sich die Meisten, zu Fuß den ziemlich langen Weg nach der Stadt anzutreten.

Doris war der Anblick der peinlichen Situation erspart geblieben. Sie wartete vorn im Hause, eingehüllt in ihren Mantel, auf ihren Mann. Aber sie erfuhr, was vorgegangen war. Einer der Diener eilte mit verstörten Mienen durch das Zimmer und rief ihr die Neuigkeit zu. Zu gleicher Zeit erschien indeß Erich, bot ihr den Arm und sagte nichts als:

„Es ist gut. Jetzt nach Hause!“

Der Wagen, der einzige im Moment gegenwärtige, hielt noch von der Ankunft Erich’s her vor der Thür; Erich half seiner Frau hinein und setzte sich an ihre Seite. Kein Wort wurde zwischen dem Ehepaare gewechselt, aber leise Seufzer aus Doris’ Brust sagten dem Gatten deutlich genug, was sie unter all den Vorgängen des Abends litt. Draußen huschten Häuser und Menschen im Schatten vorüber. Das Schweigen fing an, Beiden peinlich zu werden.

„Sag’, was ist denn vorgefallen, Erich?“ fragte Doris endlich in scheuem, gepreßtem Tone.

„Der Präsident ist verhaftet worden,“ war die Antwort.

Dann war es wieder still, wie vorher.

„Erich, Erich!“

„Was willst Du, mein Kind? – Wir werden bald zu Hause sein.“

Es war Doris, als müßte sie aus dem Wagen springen und ihren Weg zu Fuß fortsetzen – überall hin, wohin ihre Verzweiflung sie führte, nur nicht nach Hause. Und doch kamen sie ihrer Wohnung immer näher, an den großen eleganten Häusern des fashionablen Stadttheils vorbei, inmitten deren ihr bescheidenes Haus lag. O, hätte sie es nie verlassen! Sie zog die Kapuze ihres Mantels über ihre Stirn. Die Menschen, die zu beiden Seiten auf den Trottoirs sich in lauer Sommernacht ergingen, sie erschienen ihr, als bildeten sie ein Spalier und erzählten sich die Geschichte von Lideman; sie schienen auf sie gewartet zu haben, um mit Fingern auf sie zu deuten. Die Welt mußte sich ja immer mit ihr beschäftigen – das war die schöne, reizende Frau so gewöhnt. Da hielt der Wagen vor dem Hause. Doris wartete nicht, bis ihr Mann ausstieg und den Schlag öffnete, um ihr hinauszuhelfen. Mit einer heftigen Bewegung verließ sie den Wagen und eilte der Pforte des Häuschens zu. Wie leichten Herzens war sie vor wenigen Stunden daraus geschieden und wie schwerbeladen in ihrem Innern kehrte sie zurück!

Ihr Herz drängte sie, nach Liddy zu sehen. Sie flog die Treppe hinauf. Auf dem Corridor aber, wo sich die Wege nach dem Zimmer des Kindes und dem Arbeitsgemache Erich’s trennten, blieb sie stehen. Langsam kam er die Treppe herauf. Jetzt stand er vor ihr, eisige Ruhe in den Zügen. Ihre Kniee zitterten, und sie empfand etwas, als müßte sie vor ihrem Gatten niedersinken und ihn um Verzeihung bitten.

„Du willst nach dem Kinde sehen?“ Kalt und herzlos berührten sie Klang und Ausdruck seiner Stimme. „Ich muß noch arbeiten,“ fügte er hinzu, „bis spät in die Nacht.“

Damit ging er an ihr vorüber.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Hero und Leander. (Zu dem Bilde auf S. 145.) Ein tüchtiger Münchener Künstler hat das Schwierige gewagt, den Ausgang jener rührenden Liebesgeschichte im Bilde darzustellen, welche unsern Schiller zu einer seiner schönsten Balladen begeisterte. Ein alter Stoff - denn schon Musäos sang im Alterthum von der Aphroditepriesterin zu Sestos, welche den in Schönheit blühenden Leander von Abydos, am jenseitigen Ufer des Hellespontos, liebte und ihm allnächtlich die Leuchte am Thurm aushing, damit er, durch die dunklen Fluthen zu ihr schwimmend, die Richtung nicht verfehlen sollte, bis der Sturm eines Nachts die Leuchte löschte und die Wogen am Morgen die Leiche des Ertrunkenen an’s Ufer spülten, der verzweifelten Geliebten vor die Füße. Das ist der tragische Höhepunkt der Geschichte, den unser heutiges Bild in erschütternder Wahrheit zeichnet: die Klippen der Küste von Sestos im ersten Morgengrauen die Wogen noch unruhig, in der ausklingenden Bewegung der Sturmnacht mit leichten Schaumkämmen gegen das Gestein brandend und den Körper des unglücklichen Schwimmers schaukelnd, wenige Schritte weiter neben der verloschenen Fackel die Aermste, mit verwirrten Sinnen vom Ufer her auf das Opfer treuer Liebe niederstarrend. Die Dialektik der Verzweiflung kommt schnell beim Entschlusse des Selbstmordes an. Die Schiller'sche Hero spricht:

„Ich erkenn’ euch, finstre Mächte!
Strenge treibt ihr eure Rechte,
Furchtbar, unerbittlich ein.
Früh schon ist mein Lauf beschlossen,
Doch das Glück hab’ ich genossen,
Und das schönste Loos war mein.
Lebend hab ich deinem Tempel
Mich geweiht als Priesterin,
Dir ein freudig Opfer sterb’ ich,
Venus, große Königin.“

Und die Wasser des Hellesponts nehmen das freiwillige Opfer zu dem erzwungenen. Die Geschichte ist, wie bemerkt, alt; wer weiß, wo die Wurzel ihres Ursprungs liegt. Ein verwandter Klang tönt in unserem rührend schönen Volksliede von den „zwei Königskindern, die einander so lieb hatten“. Beide Fassungen sind wohl Kinder derselben Sage, nur aus verschiedenem Boden erwachsen, und es gewährt einen eigenen Reiz, die Eigenart des einen und des andern Volksgeistes an ihnen zu studiren.




Berichtigung. Am Schluß unserer Quittung in Nr. 6 über die Beträge, welche uns für die von zwiefachem Unglück heimgesuchten Oesterreicher zugegangen sind, ist irrthümlich des Comités für die in Bosnien verwandten Militärs nicht erwähnt worden. Man lese also:

„Wir schließen hiermit unsere Sammlung und haben den Gesummtbetrag derselben mit Mk. 2742.45 dem Comité in Taufers und demjenigen für die in Bosnien stehenden österreichisch-ungarischen Truppen übermitteln lassen.“ D. Red.




Kleiner Briefkasten.


J. P. in New-York. Sie irren sich in der Zeit. Das fünfundzwanzigjährige Stiftungsfest des Neunzehner-Taubert’schen Gesangvereins findet bestimmt den 15. und 16. März dieses Jahres im Trianon des Leipziger Schützenhauses statt, auch beabsichtigt dieser Verein von jenem Tage ab sich „Harmonie" zu nennen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_156.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)