Seite:Die Gartenlaube (1879) 204.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Sie nickte. Das bedeutete, der junge Lichtner möge kommen. Aber so recht freudig war sie noch nicht bei der Sache. Sie dachte immer noch an die Schimmel des Präsidenten. –

Die Schimmel des Präsidenten! Wie verschieden geartet die Menschen sind! Die Einen stehen vor den Trümmern ihrer Wünsche und Hoffnungen klein und erbärmlich, wie sie zuvor waren. Die Andern reifen erst im Unglück und im Entsagen; auf gescheiterten Planken segeln sie in den Hafen ihrer wahren Größe. Und im Unglück stark und groß war heute auch Eine, die tief nieder gebückt in ihrem Stübchen stand, vor sich den offenen Reisekoffer, eifrig packend und schaffend. Regina war nicht dieselbe mehr, die am Hochzeitstage den Brief an den Mann geschrieben hatte, zu dem die Flammen ihrer heimlichen, aber um so mächtigeren Leidenschaft emporloderten, noch weniger dieselbe, welche Doris den leisen Stoß gab, von dem diese in den Abgrund hinabstürzen sollte – sie war ebenso, wie die glücklichere Doris, ein neues Wesen geworden.

Wie sie so still ihre einfachen Sachen, Eines zum Andern, in den Koffer legte, da zog noch einmal vor ihrer geretteten Seele das schreckliche Bild des entscheidende Abends vorüber, an dem sie zweifelnd hinaus gestürmt war an den See, dahin, wo ihre Sünde begonnen hatte.

Der Wind trieb seinen wilden Unmuth mit den alten Bäumen und rüttelte und schüttelte an den Laubkronen, daß sie ächzend sich bogen und daß es wie eine Schmerzensklage über dem Haupte der Eilenden dahinzog. Ueberall ein Seufzen der Creatur, in Regina, über ihr, um sie – das war die Harmonie der Zerstörung, das war ein Bekräftigen ihres Entschlusses in ihr – ein Beschleunigen der Ausführung. Wie dunkel die Wasserfläche sich vor ihr ausbreitete! Das Wetter bereitete sich zum Sturme vor. Wie ein rufender Unhold fuhr es über den weiten schwarzen Spiegel, und der Wind warf Wellen auf, wie auf hoher See. Vor Reginas irren Augen nahmen sie die Gestalt lebender Wesen an – Dämonen, die sie in ihren Kreis riefen, lockten, als wäre in ihrer Mitte Ruhe – Vergessen. O, vergessen – eingewiegt sein in jenen letzten, ewigen Schlummer, der hinüberleitet in ein Nichts! Sie blickte nach oben; wie im Fieber arbeitete ihre wirre Phantasie. Der blitzende Stern – war es nicht derjenige, zu dem sie einst in vollster Liebeslust emporgejauchzt hatte? Jupiter, Jupiter! Zwischen schwarzen, zerrissenen Wolken leuchtete er hindurch – auf eine Stelle des Wassers – dort schwamm eine Gestalt, ein Weib, vom schwarzen Mantel verhüllt wie von ihrem dunklen Schicksal: sie trieb dem Ufer zu, von diesem aus setzte sich ein Kahn in Bewegung mit rohen Gesellen, die lange Haken bei sich führten. An diesen zerrten sie den Leichnam an’s Ufer, und rohe, frevelnde Reden waren das Todtengebet über dem Leichnam. Sie rissen ihm die Kleider ab, sie verletzten das jungfräuliche Geheimniß dieses Körpers, dessen Reinheit seine entflohene Seele sühnte – – Sie hörte das Gerücht ihres gewaltsamen Todes von Mund zu Mund gehen, die Muthmaßungen, die sich daran knüpften. Wenn man das Motiv ihres Todes ahnte, ihre Liebe zu Erich, wenn dieser ihr den Vorwurf in das Grab nachrufen würde: Warum mußte mir auch Regina das noch thun, nachdem ich so vieles erduldet hatte? Nein, keine lebende Seele sollte davon wissen, und ihm – ihm am wenigsten wollte sie eine Empfindung des Schmerzes bereiten. Sie wollte das Letzte, Höchste für ihn thun – sich selbst überwinden. Ja! Entschlossen, mit Aufbietung aller Kraft! Sie schüttelte den Kopf und stampfte hart mit dem Fuße auf. Dann verließ sie den Ort – nicht mehr die Regina von einst. Wie ausgegossen zur Sühne war das Blut aus der alten Heimath am Tajo; die da heimkehrte und sich langsam in Gedanken ihren Weg durch die Straßen suchte, als wären diese neu vor ihr erstanden und sie heute ein neuer Ankömmling – sie war in ihrem Innern ganz das Geschöpf der nordischen, friesischen Heimath, ein Wesen lichten Gedankens geworden. –

Das war vor einer Woche gewesen. Und nun? –

„Was thun Sie hier?“ fragte der Nachbar von oben, im Hereintreten. „Ich hatte angeklopft, verehrte Freundin, aber da ich keine Antwort bekam und die Thür meinem Drucke nachgab, so trat ich ein und sehe nun, wie Sie hier beschäftigt sind. Wollen Sie verreisen?“

„Ja, ich packe meine sieben Sachen – morgen geht’s fort, vielleicht heute noch – wie mir’s um’s Herz ist. Ich habe einen großen Schmerz gehabt, theurer Freund, und viel in mir erfahren: Nichts mehr davon, und dies im Vertrauen nur zu Ihnen! Früher wäre man in ein Kloster gegangen, wir in unserer auf Angriff und Abwehr zugeschnittenen Zeit, wir brauchen im Leben die Muskeln des Gedankens, statt der weichen, nachgebenden Empfindung. Sie haben, sagten Sie, zum zweiten Male achtundvierzig Stunden lang viele Sorge um mich ausgestanden und gefürchtet, als wäre mir etwas zugestoßen. Ich will Ihnen Aufklärung geben: ich war verreist. Vor Erschöpfung war ich eines Abends in ein Café eingetreten, um etwas zu mir zu nehmen, da las ich die Stelle einer Turnlehrerin in einem Mädcheninstitute ausgeschrieben. Dorthin reiste ich, um mich zu melden. Ich bekam die Stelle und werde nun meine geistige Turnkraft für mein weiteres Leben in Anwendung bringen. ,Thue auf Erden’, rief es in mir, ‚und erkenne dort oben!’ Ich danke Ihnen viel, mein Freund. Sie haben Blicke und Gedanken dort hinauf gerichtet, wo die Gesetze des Lebens in den Sternen geschrieben sind. Auch das Gesetz: daß alles scheinbar Verirrte, Unregelmäßige, Irrende nur der Harmonie des Ewigen zustrebt und daß alle Schuld nur eine Bestätigung des ewigen Gesetzes.“

Warbusch wußte nicht, was er zu der in Aussicht stehenden plötzlichen Trennung sagen sollte. Er machte eine Grimasse, als käme ihm das Weinen.

„Und nun werde ich wieder allein sein. Wer wird mich verstehen? Was wird Herr von Rechting dazu sagen?“

„Wie kommen Sie darauf?“ fragte Regina erschrocken.

„Ich habe ihm Alles gesagt – damit Sie es nur wissen – mit den fünfzehntausend Mark.“

„Sie haben mir Ihr Wort gegeben, Herr Warbusch.“

„Aber ich konnte es nicht halten. Herr von Rechting läßt Ihnen durch mich Vorwürfe machen, daß Sie nicht kommen, daß er Sie nicht zu Hause getroffen, um Ihnen den Dank seines vollen Herzens auszuschütten, und sich mit Ihnen zu besprechen, wie die Sache zwischen Ihnen weiter beglichen werden solle. Er wird Sie heute Abend abholen.“

Regina reiste noch vor Einbruch des Abends. Vor der Abreise schrieb sie ein kurzes Abschiedsbillet an Erich – gemessen, förmlich, fast kalt. In diesem bat sie ihn, nicht nach der Ursache ihrer Abreise zu forschen, ihr nicht gram zu sein, wenn sie ohne Abschied ginge. Was die andere ledige Sache betreffe, so sei das ein Pathengeschenk für Liddy. „Sie wußten“ schrieb sie, „wie ich das Kind liebte, aber nicht, daß ich reich genug bin, um meinem Liebling ein Andenken an seine Pathin zu hinterlassen.“

Das Billet kam in dem Augenblicke an, als das Dienstmädchen mit Liddy von der Promenade heimkehrte und erzählte, daß sie auf ihrem Spaziergange aus einer Droschke plötzlich angerufen wurden. Fräulein Regina habe darin gesessen und habe sie, das Mädchen, ersucht, ihr Liddy in den Wagen zu reichen. Das sei auch geschehen – Fräulein Regina habe das Kind an das Herz gedrückt und immer wieder angesehen, „so recht tief“. Als sie davon gefahren sei, habe Liddy die Aermchen nach ihr ausgestreckt und gerufen „Ina – Ina!“ Das Fräulein habe bitterlich geweint. – –

„Du leidest, Erich,“ sagte etwa acht Tage später Doris, „in Deiner Seele ist etwas, was Dich beunruhigt, Dich quält. Ich weiß es – und ich leide mit Dir.“

„Doris, ich kämpfe mit mir einen Entschluß durch. Ich kann den Proceß gegen Lideman nicht führen. Es geht über meine Kraft, es ist gegen mein Gefühl; ich muß um meine Entlassung beim Minister einkommen.“

„Man wird Dir eine andere Stelle geben, Erich, und am liebste wäre es mir, wenn wir nach einem kleinen Ort versetzt würden, wo wir uns selbst leben können, auch wenn ich mir Entbehrungen auferlegen müßte.“

„Das nicht – nicht mehr, Doris. Es ist heute zwischen mir und Herrn Warbusch ein Handel perfect geworden. Ich habe unser Grundstück um eine hohe Summe an den Fabrikbesitzer Lichtner verkauft, der sich häuslich niederlassen will. Das wäre es nicht; aber aus einem Berufe zu scheiden, der mir lieb geworden ist, in dem ich noch Gutes wirken kann – das hält mich ab.“

Auch diese Dissonanz sollte für Erich gelöst werden.

Am Abend kam Rüchel in’s Haus. Diesmal kam der zu so vielem verwendbare Mann als Leichenbitter mit langem Flor. Er meldete den Tod des Präsidenten. Dieser hatte sich im Gefängniß

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_204.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)