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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

nicht dem Meere – die Erscheinungen der seelischen Welt sind nicht alle gleich bedeutend, gleich eindrucksvoll und anziehend. Aber über allen walten die nämlichen Gesetze, wie man ja auch die Brechung des Lichtes im Wasser ebenso an dem Weltmeer studiren kann, wie an dem winzigen Tröpfchen, welches an der zarten Blattfeder des Farrenkrautes im Morgenwinde schwankt. Wie viele Erzähler führen euch im stolzem starken Schiff auf den weiten Ocean hinaus – so horchet denn gütig auch Einem, dem sein eigen Herz und Schicksal es nahe gelegt, sich lieber zu den versprengten Tropfen im Grase zu bücken! –

Ich bin zu dem Ebenhiesel und seiner Geschichte auf die denkbar einfachste Weise gekommen und glaube, es ist das Beste, wenn ich bezüglich beider keinen Versuch romantischer Aufputzung mache. So gestehe ich denn, daß ich den alten Mann nicht etwa unter Blitz und Donner in einer Felshöhle kennen gelernt, sondern an einem klaren Augustmorgen in der Krämerei des Caspar Deubler zu Unterach. Das Haus steht auf demselben Hügel, wo die Dörfler ihre Kirche erbaut und ihren Friedhof angelegt, und über den halben Attersee hin sieht man es im Schmuck seines gelben Anstrichs neben der weißen Kirche schimmern. Aber schier noch weiter reicht der Ruf dieses Hauses als der Stätte, wo man die besten Cigarren bekommt, und dieser Vorzug, sagt man, rührt daher, weil der gegenwärtige Besitzer der Krämerei, des alten Deubler’s Schwiegersohn – er heißt Gottlieb Mittendorfer und hat einen langen rothen Bart, auf welchen er mit Recht stolz ist – dem Tabakverleger im Markte Mondsee bereits drei Knaben aus der Taufe gehoben hat. Dies mag auch seine Richtigkeit haben, aber – sei es nun, daß die Familie in Mondsee keinen weiteren Zuwachs erfährt und die alte Freundschaft so wegen Mangels an neuerlicher Bethätigung allmählich einrostet, oder daß die Regie in letzter Zeit nur durchweg Cigarren ausgiebt, welche man bezüglich der Schlechtigkeit unmöglich mehr in Kategorien eintheilen kann – im August ist das kaiserlich königliche Rauchzeug auch im Deublerhause zu Unterach schlecht gewesen, sehr schlecht. Es war eine Qual, es zu rauchen, und keine angenehme Aufgabe, jeden Morgen die nassen, blassen, schiefgewickelten Dinger auszuwählen. Wer solches Leid mitfühlend würdigen kann und ferner erwägt, wie laute Klage das Herz denn doch ein wenig erleichtert, der wird begreiflich finden, daß ich jeden Morgen, im dargereichten Kästchen wühlend, jammerte wie ein Türke und fluchte wie ein Papst.

Also that ich auch an jenem Augustmorgen. Der schönbärtige Gottlieb lächelte halb mitleidig, halb spöttisch, sagte jedoch keine Silbe. Aber ein Kunde, der nach mir eingetreten und dessen ich bisher nicht geachtet, schien an meinen Klagen Anstoß zu nehmen. Denn der sagte plötzlich laut und langsam in meinen leiser werdenden Monolog hinein:

„Der Herre muß wohl noch jung sein – sehr jung muß der Herre sein.“

Ich schaute ihn an; er war ein alter, sehr alter Mann in der Bauerntracht jener Gegend, aber sie war geflickt und dürftig, und die braunen, runzligen Kniee guckten unterhalb einer kurzen Lederhose hervor, die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge längst ihre irdische Wallfahrt hätte beenden sollen. Gleichwohl machte die Erscheinung nicht den Eindruck des Verkommenen, wenn auch vielleicht nur um des prächtigen Greisenkopfes willen. Ein Ausdruck unendlicher Milde lag auf dem blassen, durchfurchten, scharfgeprägten Antlitz, und dichtes, silberweißes Haar floß ehrwürdig an Stirn und Wangen herab. Nur die Augen waren halb geschlossen, und als sie der Greis öffnete und auf mich richtete, erkannte ich, daß sie lichtlos waren.

„Warum muß ich denn jung sein?“ fragte ich den Blinden.

„Ei ja wohl!“ erwiderte er lächelnd. „Jung müsset Ihr sein. Denn zum Ersten ist das Rauchzeug immer schlecht, und nur die Jungen schimpfen darüber, weil sie noch eine Aenderung erhoffen. Und zum Zweiten will wohl nur ein Junger über so geringe Sach’ klagen, weil er noch kein wirklich Leid kennt; im Weiteren kommt dann schon die Geduld und das Schweigen, selbst über ein größer Weh.“

Ich philosophire sehr ungern mit schöngeistigen Damen und Herren, aber mit so einem Stück ursprünglicher Menschheit thu’ ich’s gern.

„Das scheint mir nicht so,“ erwiderte ich also. „Denn zum Ersten ist es der Menschen Art, auch über das zu klagen, was sich nicht ändern läßt, wobei auch zu bemerken ist, daß die Cigarren zwar gewöhnlich, aber doch nicht immer schlecht sind – “

„Cigarren,“ fiel mir der Greis in’s Wort, „rauche ich nicht, aber der Pfeifentobak ist immer schlecht, und es ist nur der Thoren Art, über das Unabänderliche groß’ Geklage zu machen. Aber redet nur weiter!“

„Und zum Zweiten,“ fuhr ich fort, „erträgt Mancher ein großes Leid schweigend, aber bei kleinem Verdruß macht Jeder gern Lärm.“

„Sehet,“ erwiderte der Blinde, „solches verstehe ich nicht. Möglich, weil Ihr ein Städtischer seid und ich ein Holzknecht. Glaub’s aber nicht, daß dort die Menschen anders sind. Fleisch und Blut sind sie dort und gleich so im Dorf. Und wen man in’s Fleisch ritzet, der schreit nur ein wenig, wer aber tief geschnitten wird, schreit stark. Versteh’ also nicht, was Ihr meint mit dem kleinen Verdruß und großen Lärm.“

Ich suchte es ihm klar zu machen, so gut ich vermochte, und ließ mich auch durch das spöttische Lächeln des Schönbärtigen nicht stören. Denn er, der gebildetste Mann von Unterach, welcher täglich im Wiener „Neuigkeits-Weltblatt“ las, hätte allerdings nicht mit einem alten Holzknecht philosophirt, höchstens mit dem Wundarzt Angelis oder dem Kaufmann Solterer. Nicht an diesem Lächeln also lag es, wenn mir meine Absicht nicht glückte, sondern weil wir da wirklich an die Kluft gerathen waren, welche den gezähmten Culturmenschen von dem Naturmenschen scheidet, der sein Herz nicht hehlen kann und ohne viel Gegenkampf seinen Instincten folgt.

„Versteh’ Euch nicht, Herre,“ erwiderte also der Blinde bedächtig, aber entschieden auf meine Rede. „Kein Mensch ist Holz, und er schreit um so stärker, je tiefer er geschnitten wird. Nun kommt aber das Weitere, dessen ich gedacht: beim ersten Schnitt schreit man fürchterlich, aber beim zweiten und dritten schon gelinder, und endlich seufzt man nur leise. Sehet – als sie mir meinen Hans auf der Bahre entgegenbrachten, hab’ ich noch laut geschrieen, aber als ich vor drei Jahren blind geworden, hab’ ich kaum mehr geklagt.“

„Ueber Euch ist Vieles gekommen?“ fragte ich mitleidig.

„Sehr Vieles, Herre. Aber,“ fügte er dann hinzu und nicht etwa feierlich, sondern unter mildem, fast fröhlichem Lächeln. „was Gott tut, das ist wohlgetan, und wer klagt, klagt ihn an und ist ein sündiger Thor.“

Darauf fand ich kein Wort der Gegenrede, wohl aber der stolze Rothbart.

„Erwäget wohl, Ebenhiesel,“ sagte er mit überlegenem Wohlwollen, „daß nicht jeder Mensch ein so frommes Gemüt hat, wie Ihr! Ihr heißet nicht umsonst unser Hiob.“

Aber das Lob schien den Greis zu verstimmen. Er streckte wie abwehrend seine Hand vor, und aus dem bleichen Antlitz glomm eine sanfte Röthe auf.

„Hiob!“ rief er. „Wer mir diesen Uebernamen aufgebracht, hat es schlimm mit mir gemeint.“

„Aber wie denn?“ fragte der Krämer erstaunt. „Hiob hat ja der fromme Dulder geheißen in dem heiligen Buch.“

„War aber nicht fromm,“ sagte der alte Mann fast heftig. „Sehet, ich bin katholisch, und bei uns lesen Wenige die heiligen Bücher, und gar nur Einige trauen sich an die jüdische Schrift. Ich aber hab’s getan und mich oft daran erbauet, obwohl der Pfarrer mir einmal gesagt hat: ‚Ebenhiesel, lasset ab vom Alten Testament, denn dieses ist nur den verdammten Juden geoffenbaret, und einen Christen fliegen dabei oft böse Gedanken an – er weiß kaum wie.’ Ich aber hab’ doch oft meine rechte Andacht und Erhebung dabei gehabt, bis ich auf zwei Bücher gerathen bin, Herre, auf zwei, die mir gar nicht gefallen haben. Zum Ersten das Hohelied. Sehet, ich weiß gar wohl, daß unter dem Bräutigam unser Herr und Erlöser zu verstehen ist, und unter der Braut die heilige christkatholische Kirche, aber dieses sollte sich doch auch in ehrbaren Reden offenbaren. Solches jedoch, wie dort geschrieben steht, habe ich nicht einmal zu meiner Katrein gesagt, als ich zu ihr fensterln gegangen bin. Sehet, jungen Leuten muß ja gar heiß dabei werden, wenn sie solches lesen, und dann vergessen sie wohl am End’ dabei auch die Kirche und den Herrn.“

„Eben darum,“ meinte der Krämer, „sollten es nur die Juden lesen, und von Christen nur die hochwürdigen Herren.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_210.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)