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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Thätigkeit schrieben schon ältere Beobachter den „Vibrionen“ in der Cholera zu; neuere Forscher erklären auf diese Weise die zerstörenden Wirkungen der Wundkrankheiten. Die zweite Erklärungsart, welche die Pilze als Gifterzeuger ansieht, faßt sie entweder als mikroskopische Giftpilze auf oder mißt ihnen diejenigen zersetzenden Eigenschaften bei, welche die Gährungspilze in den gährenden Stoffen entfalten.

Hinsichtlich der Wege, auf denen die Krankheitskeime sich in den menschlichen Körper schleichen sind einzelne uns wohlbekannt, so die absichtlich gemachte kleine Hautwunde für die Schutzblattern, die größeren Wunden für das Eiterfieber, die Schleimhäute des Mundes und der Athemorgane wie die Bindehaut des Auges für die Diphtherie, die zarteren Stellen der anscheinend unverletzten Oberhaut für den Milzbrand. Vieles spricht dafür, daß auch der Pestkeim diesen letzteren Weg zu wählen im Stande ist; so die Erfahrungen über die Carbunkel der verschiedenen Hautstellen, so die Thatsache, daß bei Erwachsenen, welche ohne Fußbekleidung gehen, die Drüsen der Leistengegend – bei kleinen Kindern, welche Alles in den Mund stecken die Drüsen am Halse zuerst durch ihre Verhärtung und Anschwellung als sichtbare Bezeuger der Erkrankung auftreten. Die ältere Erfahrung maß der Einathmung der Luft im Dunstkreise des Kranken die größte Bedeutung bei und ersann hauptsächlich Schutzmaßregeln gegen diese. Einen schauerlich-grotesken Eindruck machen die dieser Vorstellung angepaßten Costüme der Pestärzte früherer Zeit: die Abbildung eines Marseiller Quarantänearztes aus dem achtzehnten Jahrhundert zeigt ihn in einem bis auf den Boden reichenden faltenlosen rothen Rock, über den am Halse ein Lederkoller mit daran sitzender gelblederner Gesichtsmaske geknöpft ist. In dem schnabelartigen Fortsatz dieser letzteren befinden sich desinficirende Stoffe, welche die Athemluft reinigen sollen. In gleicher Absicht hält der Insasse der Maske eine glimmende Lunte in der Höhe des Mundes und der Nase vor sich hin. Dieser Räucherapparat fehlt auch dem Arzte aus dem Jahre 1819 nicht, welcher aber in einem langen schwarzen Talar mit daran sitzender Kapuze, die nur zwei runde Ausschnitte für die Augen aufweist, uns entgegentritt. – Alle diese Schutzkleider wurden auch reichlich eingefettet, da man, in der Türkei sowohl wie in Aegypten, die Erfahrung gemacht hatte, daß die Oelverkäufer, deren Kleidung von Fettstoffen starrte, fast nie von der Pest ergriffen wurden.

Die Annahme, daß die Luft die Pestkeime in besonders reichlicher Menge enthalte, sie uns entgegenwehe, ist einigermaßen dadurch erschüttert worden, daß ein besonders schädlicher Einfluß der Winde sich niemals mit Sicherheit hat beweisen lassen, vielmehr von Alters her die Thatsachen nicht sowohl aus eine Verwehung, als auf Verschleppung hinweisen. Auch die diesjährige Epidemie führte sich mit einer Anekdote ein, nach welcher ein junger Kosak, am 9. November, vom Regiment nach seiner Heimath Wetljanka entlassen, seiner Braut einen mitgebrachten türkischen Shawl schenkte, der die erste Erkrankung in jenem Orte veranlaßte. Vor allen anderen Transportmitteln schien stets der Mensch am geeignetsten, die Krankheit zu verschleppen, sei es daß sie an ihm selbst zum Ausbruch kam, sei es daß er gesund blieb und nur Anderen den entwickelungsfähigen Keim mittheilte. Hören wir die rührende Klage des Italieners de Mussis, welcher mit einem aus der Levante kommenden Schiff im Jahre 1346 in Genua landete: „Nun war es aber wunderbar, daß, wo auch die Schiffer landeten, überall Alle, die mit ihnen in Berührung traten, rasch dahin starben, gleich als ob Jene von einem verderblichen Hauche begleitet gewesen wären. Weh des Jammers! Wir betraten, nachdem wir gelandet, unsere Häuser. Da schwere Krankheit uns befallen, und von Tausend, die mit uns gereist, kaum noch Zehn übrig waren, so eilten Verwandte, Freunde und Nachbarn herbei, uns zu begrüßen. Wehe uns, die wir die Todesgeschosse mit uns brachten, daß wir durch den Hauch unseres Wortes das tödtliche Gift ausstreuten!“

Gegen die durch ähnliche sich stets wiederholende Berichte wohl zur Genüge constatirte Verschleppbarkeit durch den Verkehr richten sich nun alle diejenigen Vorsichtsmaßregeln welche man richtiger unter dem Namen der Verkehrssperre, als dem viel gemißbrauchten der „Quarantäne“ zusammenfaßt, wenigstens thut man wohl, zwischen beiden Begriffen zu unterscheiden.

Es liegt nun allerdings eine Reihe von Gründen vor, nach welchen über den Nutzen wirklicher Absperrungen kaum ein Zweifel übrig bleiben kann. Das Erlöschen der Pest in Europa war, wie bereits gezeigt, ein allmähliches und hielt mit der Entwickelung und Vervollkommnung der Sperrvorrichtungen gleichen Schritt. Doch handelte es sich in den meisten Fällen um Maßregeln gegen verdächtigen Seeverkehr, um die durchführbare Ausschließung verpesteter Schiffe von der Berührung mit dem Lande. Eine Sperre aber, welche nicht blos die ganze Küste, sondern auch die ganze Landgrenze von der Ostsee bis an das schwarze Meer schließen soll, ist einfach undurchführbar. Selbst die Absperrung einzelner Ortschaften ist ohne die strengsten Maßregeln – wie Virchow neulich schlagend ausführte, ohne Erschießen – eine Illusion. So faßt man denn Paßwesen und Quarantänen in’s Auge als halbe Maßregeln, welche sich der Theorie anpassen und zugleich innerhalb der praktischen Ausführbarkeit liege sollen. Nur werden leider die Pässe und Gesundheitsatteste in Rußland häufig nach anderen Rücksichten, als denen des wahren Sachverhaltes ausgestellt, und Landquarantänen – wenn sie auch bei der Pest nicht auf vierzig, sondern höchstens auf zehn bis fünfzehn Tage anzuordnen wären – sind ein zweifelhaftes Schutzmittel. Vor allem hat ja eine mehrtägige Beobachtung, welche die Quarantäne leisten soll, nur den Menschen gegenüber einen Sinn; die Frage, ob an einem leblosen Gegenstande, an Waaren etc. lebensfähige Pestkeime haften, läßt sie gänzlich ungelöst, da keine andere Probe auf dieselbe existirt, als die Ansteckung eines Menschen. So gipfelt denn unser Bestreben und unsere Hoffnung auf Abwehr der Gefahr in der Tödtung der Keime, in den Versuchen einer absoluten Desinfection.

Sicher besitzen wir Mittel, welche die gefährlichsten Bacterienkeime tödten und zur weiteren Fortpflanzung ungeeignet machen. Die Wirkungen der Carbolsäure, der Benzoesäure, des Thymols, des Chlors sind allgemein bekannt. Doch beginnt immermehr die Auffassung sich Geltung zu verschaffen, daß die Lebensbedingungen der verschiedenen Bakterienarten sehr abweichende sind, daß manche z. B. unter Hitzegraden noch weiterleben, welche für andere tödtlich sind, daß einige ihre Fortpflanzungsfähigkeit wieder erlangten nach Behandlungsmethoden, welche für viele die sichere Abtödtung zur Folge hatten. Hiernach tritt die Aufgabe in ihr volles Recht, für jede Gattung dieser Organismen eine Vernichtungsmethode experimentell zu suchen. Von diesem Gesichtspunkt versteht sich auch das Urtheil Pettenkofer’s: „Es sei erst dann auf eine sichere Wirksamkeit der Desinfection zu rechnen, wenn man den Infectionsstoff und die Mittel, ihn unschädlich zu machen, näher kenne.“

Einstweilen hat man sich auf den Rath des eben genannten berühmten Epidemiologen mit einem Mittel zu helfen gewußt, welches vielleicht der älteste Desinfectionsstoff ist, den wir besitzen. Wenigstens benutzt Odysseus die schweflige Säure bereits (nach dem 22. Buche der „Odyssee“) und Ovid lehrt sie zur Desinfection der Schafe benutzen. Ihr neuerdings sehr gehobenes Ansehen besteht auf ihrer ebenfalls durch Versuche festgestellten Macht über die Bakterien des Milzbrandes. Auch soll nach Berichten schwedischer Aerzte die Cholera stets die in der Nähe von Schwefelbergwerken gelegenen Districte auffallend verschont haben. Die Entwickelung der schwefligen Säure aus verbrennendem Schwefel ist nicht bis zu dem Maße erforderlich, daß dadurch eine bleichende Wirkung (bei gefärbten Kleiderstoffen etc.) zu Stande kommt. Von anderer Seite ist eine trockene Hitze von über 120 Grad, wie sie in besonders dazu construirten eisernen Behältern hervorgebracht werden kann, als das beste Mittel, um Krankheitsstoffe in Betten, Decken, Kleidungsstücken zu zerstören, empfohlen worden. Trotz ihrer größeren Sicherheit wird im gewöhnlichen Grenzverkehr die trockne Hitze, zu deren Erzeugung stets besondere Apparate nothwendig sind, der schwefligen Säure ihrer leichteren Anwendbarkeit wegen nachstehen. Jeder etwas dicht gebaute Schuppen kann durch Abbrennen einer genügenden Schwefelmenge in eine Desinfectionsanstalt verwandelt werden, welche Tausende todbringender Pestkeime zerstört. Eine ältere französische Angabe behauptet, daß dieses Ergebniß auch durch das mehrstündige Eintauchen verdächtiger Gegenstände in Wasser erzielt werden könne; so erwünscht die Wirksamkeit eines so einfachen Verfahrens auch wäre, zweifelhaft erscheint sie der Thatsache gegenüber, daß auf die meisten Bakterienkeime das Wasser eher eine belebende als eine tödtende Wirkung ausübt. Wo es sich um dringende Maßregeln handelt, wird wohl stets das alte Radicalmittel des Hippokrates, das Feuer, seinen souverainen Rang behaupten. – –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_216.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)