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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


Mädchen gewesen. Im Schillingshofe hatte man das Nachbarkind wie eine eigene Tochter gehätschelt, und dort hatte sie auch den Major Lucian aus Königsberg kennen gelernt, mit welchem sie sich dann verheirathete, allen Ermahnungen des Bruders, ja, der eigenen inneren Warnstimme zum Trotz. Und sie hatten in der That zusammengepaßt, wie Wasser und Feuer, die herbe, in ihre Familientraditionen verbissene Wolfram’s-Natur und der elegante, leichtlebige Officier. Sie hatte darauf bestanden, ihn in ihre Lebensgewohnheiten zu zwingen, und er war dem „Spießbürgerthum“ mit scharfem Spott entschlüpft, wo er gekonnt. Das hatte zu bösen Conflicten geführt, und eines Abends war die Majorin, ihr fünfjähriges Söhnchen an der Hand, aus Königsberg zurückgekehrt – sie war heimlich abgereist, um fortan auf dem Klostergut zu bleiben.

Der kleine Felix hatte den Kopf ist ihren Reisemantel gedrückt, als sie ihn an jenem Abend durch ihr Vaterhaus geführt. Die Treppe, die in die verlassene Stille der oberen Stockwerke lief, mit ihrem fratzenhaft geschnitzten Geländer und ihren kreischenden Stufen voll ausgetretener Astknorren, die lagernde Dämmerung in den klaftertiefen Thürbogen, und in den Schiebefenstern die bleigefaßten, glanzlosen Scheiben, an denen aufgescheuchte Nachtmotten lautlos taumelten, und durch welche das Abendsonnenlicht gelb und träge wie Oel auf das zersprungene Estrich des Vorsaales floß – das war dem Knaben spukhaft erschienen, wie das Menschenfresserhaus im Wald. Und das schlanke, feingliederige Kind in seinem blassen Sammetröckchen, seinem glänzenden, goldgelben Gelock war auch wie verirrt gekommen – sie bringe ihm einen buntscheckigen Colibri in das alte Falkennest, hatte ihr Bruder, der Rath, finster mit scheelem Blick gesagt.

Fremden Blutes war und blieb der kleine Entführte auch. Die kühle Luft des Klostergutes blies ihm umsonst gegen die Idealgestalten in Kopf und Herzen – er war eine poetische, warmblütige Natur wie sein Vater. Der verlassene Mann in Königsberg hatte übrigens Alles aufgeboten, seinen Knaben wieder in die Hand zu bekommen; allein an der juristischen Meisterschaft des Herrn Rath Wolfram waren alle Versuche gescheitert – die geschiedene Frau war im Besitze des Kindes geblieben. In Folge dessen hatte Major Lucian seinen Abschied genommen; er war aus Königsberg verschwunden, und nie hatte man erfahren, wohin er sich gewendet.

Seitdem bewohnte die Majorin wieder, wie in ihren Mädchenjahren, das große, nach der Straße gelegene Giebelzimmer. Sie paßte mit Leib und Seele zwischen diese einfach gestrichenen Wände, vor deren tief eingelassenen Schränken breite, braungebeizte Flügelthüren lagen; sie saß wie vordem auf dem steiflehnigen Lederstuhl in der tiefen Fensterecke und schlief hinter dem dickfaltigen, härenen Thürvorhange der anstoßenden Kammer, zu welchem einst ihre Großmutter die groben Fäden eigenhändig gesponnen. Den Schillingshof aber hatte sie nie wieder betreten – sie floh jede Erinnerung an ihren geschiedenen Mann wie einen mörderischen Feind. Der kleine Felix dagegen war sehr bald heimisch drüben geworden; der einzige Sohn des Freiherrn Krafft von Schilling war sein Altersgenosse. Beide Knaben hatten sich vom ersten Augenblicke an zärtlich geliebt, und die Majorin war mit diesem Verkehre einverstanden gewesen, jedoch nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß ihr Kind nie mit einem Wort an seinen Vater erinnert werde.

Später waren die jungen Leute auch Studiengenossen in Berlin gewesen. Sie hatten Beide Jura studirt. Arnold von Schilling hatte die Staatscarriere in Aussicht genommen, und Felix Lucian sollte, ganz in die Fußstapfen seines Onkels tretend, anfänglich ein städtisches Amt bekleiden und später das Klostergut übernehmen; denn seit auch die letzte der kleinen, flachshaarigen Cousinen gestorben, hatte ihn der Rath zu seinem Erben und Nachfolger bestimmt, vorausgesetzt, daß er seinem väterlichen Namen den Namen Wolfram anfüge. Da änderte, wie bereits erwähnt, das Jahr 1860 alle Familienverhältnisse im Schillingshofe und Klostergut – Arnold von Schilling kam heim, um auf die Bitten seines kränkelnden Vaters hin mit der Hand seiner Cousine die Schilling’schen Güter wieder zu übernehmen, und auf dem Klostergute blies der Spätling, der kleine Veit Wolfram, mit seinem schwachen Lebensathem die Erbansprüche seines Vetters Felix über den Haufen.




2.

Die Frau Räthin Wolfram war an einem schneestöbernden Aprilmorgen im Familienbegräbnisse beigesetzt worden. An jenem Tage hatte Felix Lucian nur auf wenige Stunden in die Heimath eilen können, um der verstorbenen Tante das letzte Geleit zu geben. Heute nun, nach zwei Monaten, wo der Syringenduft der ersten Junitage die Lüfte erfüllte und der abgeschüttelte Schnee der Baumblüthe weiß auf dem Rasen lag, kam er wieder auf das Klostergut zu einer mehrtägigen Erholungszeit, wie er seiner Mutter geschrieben hatte.

In derselben weiten Hausflur, die er Nachmittags betrat, hatte die todte Hausfrau die letzte Rast gehalten. Noch war es ihm, als müsse Weihrauchsduft das Deckengebälk bläulich verschleiern und der Geruch der Buchsbaumguirlanden, zwischen denen die schlank hingestreckte Frau mit dem schlichten Flachshaar an den Schläfen so friedsam gelegen, ihm durchdringend entgegenschlagen. Aber es waren heute nur wirbelnde Stäubchen, die in einem Lichtreflex an der Decke spielten; aus der offenen Küche quoll der Duft schmorenden Geflügels, und am Milchschanktische stand seine Mutter und zählte Eier in den Korb der Magd, die nach altem Brauche wöchentlich zweimal mit Eiern und frischgeschlagener Butter die Runde bei bevorzugten Stadtkunden machen mußte.

Einen Moment erstrahlten die Augen der Majorin wie unbewacht in nicht verhehltem Mutterstolze, als der schöne, hochgewachsene Jüngling auf sie zuschritt, aber sie hielt in jeder Hand fünf Eier, und so reichte sie ihm behutsam über die Schulter hinweg die Wange zum Kusse. „Gehe einstweilen hinauf, Felix!“ sagte sie hastig, in der Besorgniß, sich zu verzählen oder ein Ei zu zerbrechen.

Er zog schleunig die Arme zurück, die er um ihre Schultern geschlungen, und stieg die Treppe hinauf. Von der Wohnstube her klang ihm plötzliches Kindergeschrei nach – der neue Erbherr des Klostergutes schrie häßlich und boshaft auf wie eine junge Katze. Dazu krähten die Hähne im Hühnerhofe, und oben über den Vorsaal schlich der riesige, fette Hauskater. Er kam vom Kornspeicher, von der Mäusejagd, und rieb und drückte sich behaglich an der eleganten Fußbekleidung des Heraufsteigenden hin – der junge Mann schleuderte ihn weit von sich; er stampfte voll Abscheu mit den attakirten Füßen, als schüttele er Schnee ab.

Im Zimmer der Majorin standen die Fenster offen, und die weiche Frühlingsluft strömte herein, aber nicht sie trug den köstlichen Veilchenduft im Athem, der die ganze Stube erfüllte – er kam aus den offenen Flügelthüren eines Wandschrankes. Wie Silberschein flimmerte es in diesen tiefen Fächern; so glänzend thürmte sich das Leinenzeug auf einander, und zwischen diesen Packeten dorrten Tausende von Veilchenleichen. Nie hatte der kleine Knabe der Majorin ein Veilchensträußchen zu seiner Augenweide in ein Glas Wasser stellen dürfen – es stand ja nur im Wege und konnte umgeschüttet werden –, wohl aber mußten er die kleinen Kelche zur Verherrlichung der Leinenschätze von den Stielen zupfen. Diese weißen Lagen, mit denen die Mutter immer einen förmlichen Cultus getrieben, waren ihm deshalb stets verhaßt gewesen; er warf auch jetzt einen finsteren Blick nach dem Schranke.

Die Majorin war augenscheinlich beim Revidiren gestört worden; da, auf dem breitbeinigen Ahorntische im Fensterbogen, lag das Buch, in welches sie ihre Notizen zu machen pflegte. Felix kannte diese Hefte voll der verschiedenartigsten Rubriken sehr gut, aber die aufgeschlagene Blattseite hier war ihm neu in ihrer Bezeichnung. „Mitgabe an Hauswäsche für meinen Sohn Felix“ stand obenan. Sein eigener künftiger Hausstand! Er wurde roth wie ein Mädchen bei dieser Vorstellung. Diese Dutzende von Gedecken, Handtüchern, Bettbezügen reihten sich breit und wichtig an einander, als seien sie die erste Grundbedingung des künftigen Familienglückes. Und dieses ernsthafte, langweilige Register sollte in dem übermüthigsten, tollsten Lockenkopfe haften, der je auf weißen Mädchenschultern gesessen? „O Lucile, wie würdest Du lachen!“ flüsterte er, und lachte selbst in sich hinein.

Mechanisch ließ er die Blätter durch die Finger laufen. Hier, in dieser „Zinsen-Einnahme“, summirten sich Tausende und Tausende. Welcher Reichthum! Und dabei dieses unbeirrte Sammeln und Sparen, diese Angst, daß mit einem zerschlagenen Ei ein paar Pfennige verloren gehen könnten! Der junge Mann stieß das Heft wie im Ekel fort, und mit beiden Händen ungeduldig

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_227.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)