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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Die Senner.
Ein Bild aus dem Thierleben.


Nun strecke, mein Senner, nun strecke dich aus –
Nur dies Mal, ein einzig Mal halt nur noch aus
Und laß mich nicht werden zu Schanden!
Lang streckt der Senner sich aus und fleucht.
Den Nachtthau streicht
Die Sohle des Reiters vom Grase.
Der Stachel der Ferse, der Schrecken des Rufs
Verdoppeln den Donner-Galoppschlag des Hufs.
Verdoppeln die Stürme der Nase – –

Nicht um eine der ewigen Alpenschilderungen, bei denen Sennhirten, Kuhglocken und Alpenhörner eine Rolle spielen, handelt es sich hier; die Senner, von denen wir erzählen wollen, haben nichts, nicht einmal die Wortabstammung für diesen Namen mit den Alpenbewohnern gemein. Weitab von jenen gletschertragenden Gebirgen nach dem niederdeutschen Lande wolle uns der Leser begleiten, wo die letzten Vorposten des Hochlands, die Berge des Teutoburger Waldes, in die Haiden der norddeutschen Tiefebene hinabsteigen; am westlichen Fuße dieses Waldgebirges, in der sogenannten Senne, haben wir unsere Senner zu suchen, wilde Rosse, wie man sie wohl in der Pußta, nicht aber im Herzen des cultivirten Deutschlands, im stillen Ländchen an der Lippe suchen würde.

Das Sennergestüt ist eines der originellsten Producte auf diesem Gebiete. Ein kurzer Ueberblick mag es beweisen. Ist schon die ganze Scenerie – Gebirg und Haide – als Weideterrain eines ungewöhnlich edlen Thieres Stoff genug zu einer romantischen Schilderung, so tritt noch die imposante Geschichte dieses eigenthümlichen Thiergeschlechts hinzu, eine Geschichte von wohl siebenhundert Jahren, in welcher sich das Leben des Senners, alle seine Eigenthümlichkeiten, seine Heerdenbildung u. dergl. auf das Interessanteste entwickelt hat. Und doch ist dies noch immer nicht das Bemerkenswertheste; dies beruht vielmehr darin, daß das Gestüt im Kampf um’s Dasein eine höchst originelle Vereinigung von künstlicher und natürlicher Zuchtwahl darbietet.

Die Senne ist eine mächtige öde Haide, die sich von Süden gesehen bis zum Horizont erstreckt und dort, dem Meere gleich, im Aether verschwindet. Den Namen hat sie von Sand, der hier und dort in verwehten Dünen zu Tage tritt; in alten Urkunden Sinithi, Seneto (von Sant, Sente) genannt, gab sie zugleich unseren Rossen den Namen. Das Haidekraut bot diesen, namentlich im Winter, eine willkommene Nahrung; noch in unserem Jahrhundert wuchs das Kraut der Senne zu einer solchen Höhe, daß ein Hirsch sich bis zum Rücken darin verbergen konnte; erst als einzelne Niederlassungen an dem Rande der Senne entstanden, welche zur Erlangung von Dünger das sogenannte Plaggen des Haidebodens begannen, wurde diesem üppigen Wachsthum Einhalt gethan.

Wie die Dichtung vielfach den Senner als den Typus eines ausdauernden Pferdes verherrlicht, so hat sich auch die Sage seiner Geschichte, speciell seines Ursprungs bemächtigt, indem sie denselben mit jener großen welthistorischen Katastrophe, dem Untergange der Legionen im Teutoburger Walde, in Verbindung brachte: die Senner sollten, der Ueberlieferung zufolge, die Nachkommen der den Römern abgenommenen Pferde sein – eine Angabe, die natürlich den Charakter der Fabel an der Stirn trägt. Dagegen erscheint der Senner mit dem Jahre 1160 auf historisch beglaubigtem Boden. Um diese Zeit schenkte der Bischof Bernhard von Paderborn, aus lippischem Geschlecht, dem Abte zu Hardeshausen Ländereien mit wilden Stuten, auf dem Terrain, wo auch in der späteren Zeit die Senner weideten. Ende des fünfzehnten Jahrhunderts werden die lippischen Herren als Eigenthümer des Gestüts in den Urkunden genannt. Entstanden war diese Pferdezucht so, daß man tragende Stuten durch Hirten in Wald und Haide hatte weiden lassen; nachdem sie mit ihrem Weidegrund mehr und mehr vertraut geworden, waren sie völlig frei gegeben worden, worauf man später die Hengstfüllen eingefangen und nur die besten auserlesenen wieder in Freiheit gesetzt hatte, ihnen die Fortpflanzung überlassend; später wurde die Züchtung eine methodische, wie wir noch schildern werden. Da man von dem jungen Nachwuchs keine Stuten, oder wenigstens nur selten eine solche einfing, vermehrte sich die Zahl der Thiere bedeutend, sodaß das Gestüt vor Beginn des dreißigjährigen Krieges gegen dreihundert Mutterstuten aufwies.

Leider wurden während dieser verheerenden Kriegszeit, welche von den prächtigen Thieren infolge wiederholter Plünderung nur wenig übrig ließ, alle Urkunden, die uns detaillirte Auskunft über die ältere Geschichte des Sennergestüts hätten geben können, vernichtet. Doch wissen wir aus indirecten Quellen, daß schon Ende des fünfzehnten Jahrhunderts der Ruhm des Senners ein weit verbreiteter und die Nachfrage eine große war; noch jetzt liegen Briefe von Fürsten und Grafen aus jener, sowie späterer Zeit zahlreich vor, in welchen diese um Ueberlassung eines edlen Thieres nachsuchen. Gegen Ende des sechszehnten Jahrhunderts schenkte Graf Simon der Sechste, der Oberst des niederrheinisch-westfälischen Kreises, dem Kaiser Rudolf dem Zweiten zwölf auserlesene Thiere für seine kaiserliche Hülfe bei Herstellung der Ordnung in der Grafschaft und speciell noch für die Sanction jenes Testamentes, welches die Quelle der noch heute dauernden Streitigkeiten mit der lippischen Regierung wurde.

Im Jahre 1655 begann der damals regierende Graf Hermann Adolf mit der Wiederherstellung des Gestüts; die in jener Zeit am Donkerteiche (jetzt Donoger Teiche) liegenden Gestütsgebäude wurden ausgebessert und weiter der Art für das Gestüt gesorgt, daß es sich um 1666 schon wieder bedeutend vermehrt hatte. 1680 wurden die Gestütsgebäude nach Lopshorn, mehr in die Mitte der Weidegründe an der Senne, heran verlegt; nur war hier der Wassermangel ein empfindlicher Nachtheil, wie überhaupt der unregelmäßige Wasserbestand des Waldes, der außer dem Donoger Teiche kein größeres Reservoir besitzt, dem Gestüte Schwierigkeiten bereitete. Es wurde deshalb hier ein Brunnen von 230 Fuß Tiefe in den Felsen gehauen; später wurden noch einige Cisternen angelegt, in welchen das Regenwasser gesammelt wird. Dies ist aber, obwohl man den berühmten Quellenfinder Abbé Richard consultirt hat, das einzige Wasser daselbst, und überdies ist dasselbe so hart, daß es, ehe es den Pferden gegeben werden darf, ein paar Tage an der Luft stehen muß.

Gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts wurde fremdes Blut, namentlich orientalisches eingeführt, die Stuten jedoch stammen in ununterbrochener Reihenfolge von den ältesten des Gestütes ab. Die Zuführung fremder Hengste wurde bis auf unsere Zeit beibehalten. Als Curiosum sei hier hervorgehoben, wie die historischen Verhältnisse sich in den im Gestütsbuch sorgfältig verzeichneten Namen der Hengste widerspiegeln. Vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts bis zur Mitte hatten sie deutsche Namen: „Rothschimmel“, „Alter Türke“, „Landgraf“ – dann kommen französische Namen: „l’Espérance“, „Resolu“, „Petit-maître“ – dann eine classische Zeit: „Apollo“, „Vulcan“, „Agamemnon“ – hierauf in der Zeit der nationalen Erhebung: „Wodan“, „Thor“, „Horst“ – endlich die englische Periode: „Darling“, „Lightning“, „Redriver“. Mit Anfang dieses Jahrhunderts ist vorzugsweise englisches Vollblut zugeführt worden.

In den letzten Jahrzehnten ist das Sennergestüt in Verfall gerathen, und gegenwärtig scheint das Schicksal desselben besiegelt zu sein – ein Grund mehr, das interessante Bild der Senner nicht der Vergessenheit anheim fallen zu lassen.

Bei näherem Eingehen auf die Lebensweise der Senner tritt zunächst jene charakteristische Seite des Gestütes, die natürliche Zuchtwahl im Kampf um’s Dasein, in den Vordergrund – und zwar ein ganz ernstlich gemeinter Kampf um’s Dasein, wie ihn jedes andere wilde Thier sowohl in Bezug auf den Nahrungsspielraum, wie auf die klimatischen Verhältnisse auszufechten hat, ein Kampf, in welchen der Mensch nur in ganz geringem Maße ab und zu unterstützend eingriff, denn wir müssen uns immer gegenwärtig halten, daß wir es hier mit einem wilden Pferde zu thun haben, so wild wie die Thiere der Steppen und Prairien.

Die Senner zogen Sommer und Winter ihr Futter suchend in Wald und Haide herum; im Sommer wurde es ihnen zwischen den duftigen Waldkräutern gar wohl – wenn aber der Winter herankam und den Nahrungsspielraum immer mehr verengte, waren sie schließlich nur auf das Haidekraut der Senne angewiesen, von dem sie den Schnee mit den Hufen hinwegscharrten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_239.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)