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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Dem jungen Mann quoll der Bissen im Munde vor Verdruß; zudem kreischte in diesem Augenblick die Amme laut auf vor Vergnügen. Er warf Messer und Gabel hin und sprang auf.

„Ist es Dir wirklich möglich, so viel Gemeinheit in Deiner Nähe zu dulden, Mama?“ rief er entrüstet.

„Wenn ich unverständig wäre, dann empörte ich mich wahrscheinlich auch dagegen,“ sagte sie, gelassen den Schrank schließend. „Das Kind ist schwach und elend; sein Leben liegt in der Hand der ungeschliffenen Person; da heißt es, schlucken und schweigen.“

Ihr Sohn fühlte, wie ihm das Blut nach dem Kopfe schoß – welche große innere Opfer brachte diese Frau dem Kinde ihres Bruders, und ihr eigenes hatte sie vaterlos gemacht, weil sie nicht schweigen wollte! Er erinnerte sich noch der Scenen zwischen seinen Eltern; er wußte noch, daß die Mutter dem aufbrausenden Manne gegenüber kalt und unerbittlich stets das letzte Wort behauptet hatte, bis er wie rasend vor Ungeduld aus dem Zimmer gestürmt war.

Sie hatte schwerlich eine Ahnung von der unsäglichen Bitterkeit, die augenblicklich in ihrem Sohne aufwogte, sonst wäre sie wohl nicht so gleichmüthigen Blickes an ihm vorüber in das anstoßende Zimmer gegangen.

„Wir wollen doch lieber das Fenster schließen, Trine,“ sagte sie mit ruhiger Freundlichkeit, „die Zugluft könnte dem Kinde schaden.“

„Ach bewahre, es zieht nicht. Da müßte ich doch auch was spüren,“ entgegnete Trine impertinent. „Ich bin die Amme, Frau Majorin; unsereins muß doch wohl am besten wissen, was es zu thun und zu lassen hat.“

Sie mußte übrigens doch schon ihre Erfahrungen bezüglich der Entschiedenheit der Dame gemacht haben, denn während die Majorin, die grobe Antwort völlig überhörend, unbeirrt die Fenstergriffe fester zudrehte, kehrte sie brummend an die Wiege zurück, legte das Kind ist die Kissen und nahm ihren Strickstrumpf wieder auf.

Indessen war auch Felix ist das Zimmer des Onkels getreten, zu seiner eigenen Verwunderung mit derselben beklemmenden Scheu, die er als Kind empfunden. Diese holzbekleideten Wände schlossen stets dieselbe widerlich dumpfe, mit dem Geruch alter, lederner Büchereinbände erfüllte Luft und einen abgesperrten, gleichmäßig häßlichen Dämmerschein des Tageslichtes in ihr langgestrecktes Viereck. Zur Zeit seiner Amtstätigkeit – der Rath hatte seit einigen Jahren sein Amt als Oberbürgermeister der Stadt niedergelegt – war das Zimmer die sogenannte Amtsstube und damit ein Gegenstand der Furcht für alle Hausgenossen gewesen. Da waren oft bitterböse Worte zwischen heftig streitenden Männern gefallen; die leidenschaftlich gesteigerten Stimmen hatten draußen von den Wänden der Hausflur widergehallt, und Mancher war mit zornrothem Kopf fortgestürzt und hatte die Thüren schmetternd hinter sich zugeschlagen, denn der Rath hatte nicht gut mit den Bürgern der Stadt gestanden, er war verhaßt gewesen seiner herrischen Willkür, seiner oft bis zur Härte gehenden Unbeugsamkeit, seines beißenden Hohnes wegen.

Felix hatte das Zimmer als Kind fast nur betreten dürfen, wenn die Mutter ihn schickte, einen Verweis des Onkels in Empfang zu nehmen, und doch blieb er meist wie mit magischer Gewalt festgebannt noch einige Augenblicke nach Beendigung der Strafpredigt an der Schwelle stehen, bis ihn der Rath barsch hinausscheuchte.

An der ganzen Südseite – derselben Wand, welche einst drüben im anstoßenden Zimmer der Verbindungsweg zwischen Kloster und Säulenhaus durchbrochen hatte – lief nämlich eine Gallerie hin; ein hölzernes Treppchen von wenigen Stufen führte hinauf und theilte ihr geschnitztes, vor Alter schwarz gewordenes Geländer ist zwei Hälften. Die Wand war bedeckt mit Holzschnitzereien, plumpen, unkünstlerischen, in Felder eingetheilten Darstellungen aus der biblischen Legende. Aber nicht diese Heiligengestalten mit ihren verrenkten Gliedmaßen und der plumpen Scheibe des Glorienscheins hinter den Köpfen zogen den sehnsüchtigen Blick des Knaben auf sich – die Orgel war es, zu der die Stufen direct führten.

Sie war uralt und von der primitivsten Art; sie hatte nur wenige zinnerne Pfeifen und sehr breite Tasten; ein vollstimmiger Choral hätte nicht darauf gespielt werden können. Auch sie sollte ein Mönch gebaut haben, und zwar der Abt selber, dessen „Klause“ dieses weite, saalartige Zimmer einst gewesen. – Die Wolframs hatten die ganze raumversperrende Einrichtung dennoch unberührt gelassen – sie hatte heiligem Gebrauche gedient, und die Besorgniß, mit der Profanirung den Segen von ihrem Besitzthume zu verscheuchen, beseelte sie Alle, wie sich ja nur zu oft die Gottesfurcht in der egoistischen Menschenseele mit der Furcht, weltliche Güter zu verlieren, verbindet – freilich niemals eingestandenermaßen.

Jetzt sah der junge Mann auf den ersten Blick, daß die Orgel verschwunden war. Stumm vor Ueberraschung zeigte er auf das neue, braungebeizte Feld, das sich an Stelle der Orgelpfeifen zwischen die Heiligen geschoben und mit seiner ungeschmückten, glatten Holztafel seltsam genug aussah inmitten der krausen Schnitzereien.

„Ja, Du wunderst Dich,“ sagte die Majorin, die sich eben vom Fenster wegwendete. „Das war ein heilloser Schrecken . . . . Die Pfeifen hatten freilich schon lange verschoben gestanden, aber wir hatten das nicht weiter beachtet, und da brach sie am Tage nach Veit’s Geburt mit einem furchtbaren Poltern in sich zusammen. Sie war freilich immer eine spukhafte Mäuseherberge; aber es ging uns doch nahe, denn in Ehren haben wir sie Alle gehalten. – Die Trümmer sind auch von keiner fremden Hand angerührt worden; der Onkel hat die Ordnung selbst wieder hergestellt; auch nicht das kleinste Brettchen ist in’s Küchenfeuer gekommen.“

Der junge Mann stieg auf die Gallerie und öffnete das neueingesetzte Feld, das sich als eine Thür auswies. In der ziemlich tiefen dunklen Maueröffnung, die einst die Orgel ausgefüllt, waren in der That die Ueberreste sorgsam aufgeschichtet. Da lagen die zinnernen Pfeifen, die dickbäuchigen Holzengel, welche sie umringt hatten, die aus einander gesprengten Theile der Tastatur – es schien allerdings jeder Splitter so ängstlich aufgelesen worden zu sein, als hänge Unsegen und Verderbniß für das ganze Klostergut an seiner Verschleppung.

Wenn der Rath ganz allein die Ordnung wieder hergestellt hatte, dann rührten auch die Reparaturen an den beschädigten Innenwänden von seiner Hand her. Felix bog sich tief in den dämmernden Raum und betrachtete ein neues Stück Bretterverschalung. „Der Onkel hat ja trotz einem Zimmermann gearbeitet,“ rief er lächelnd seiner Mutter zu, die eben hinausgehen wollte.

In diesem Momente wurde die nach der Hausflur führende Thür geöffnet und ein fester Fuß trat auf die Schwelle. „Nun, was hast denn Du da oben zu suchen?“ scholl es scharf, in hörbar unliebsamer Ueberraschung herein.

Felix fuhr empor – dieser Ton in des Onkels Stimme berührte stets sein ganzes Nervensystem wie das plötzliche Schrillen von Metall. Er sprang nichts desto weniger rasch die Stufen herab und reichte mit einer leichten, eleganten Verbeugung dem Eingetretenen die Hand hin.

„Willst Du nicht die Freundlichkeit haben, zuvor den Schrank wieder zu schließen, den Du so wißbegierig durchstöberst?“ fragte der Rath abermals mit finsterem Blick, ohne die dargebotene Hand zu ergreifen. „Und seit wann ist es denn Sitte bei uns, daß Du mich in meinem eigenen Zimmer bewillkommnest?“

Der junge Mann war mit einem Satze wieder zurückgesprungen und bemühte sich, die verquollene Schrankthür zuzudrücken. „Seit Deine Dienstboten den Weg frei gemacht haben, Onkel,“ entgegnete er, nicht ohne Schärfe, über die Schulter und zeigte durch die offene Thür nach der Amme, die sich grüßend vom Stuhl erhoben hatte.

„Veitchen schläft immer nur drüben ein – der Herr Rath wissen’s ja,“ sagte die Person, ihres angemaßten Rechtes sicher.

Der Rath warf schweigend seinen Hut auf den nächsten Tisch. Hochgebaut, nicht breit von Schultern, aber ein Bild zäher Kraft in der ganzen Haltung, war er ein Mann, der, auf dem Hintergrunde der alterthümlichen Wandbekleidung, in Koller, Spitzenkragen und Federhut eine prächtige Wallenstein-Figur abgegeben hätte. Das starke, kurz verschnittene, leicht übergraute Haar bog sich als scharfgezeichnete Schneppe tief in die Stirn des geistreichen, schmalen Gesichts, das Luft und Sonne mit der gesunden, braunen Haselnußfarbe angehaucht hatten.

Er ging, den Schall seiner Schritte möglichst dämpfend, sofort hinüber an das Wiegenbettchen, hob mit vorsichtigem Finger den Schleier auf und bog sich horchend über das Kind. „Was ist das, Trine? Der Kleine athmet aufgeregt – das Köpfchen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_247.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)