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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Wassers wird übertönt von dem Geräusch der Eismassen, die an einander stoßen, sich aufrichten zusammensinken, an einander sich reiben, sich fester und fester verpacken. Wie im Kaleidoskop wechselt das Bild, das sich dem Auge darbietet, in jeder Minute: hier steigt ein Eisberg empor, dort bricht eine senkrecht in Hauses Höhe emporgerichtete Scholle; jede neu ankommende Scholle kämpft mit der festliegenden um ihren Platz. Immer stärker wird der Eiswall, der dem Strome Einhalt gebietet; langsamer fließt das Wasser heran, bis es ganz zum Stehen kommt. Mit jeder Stunde steigt der Strom, der in normalen Zeiten etwa 3000 Fuß breit ist, bei Hochwasser aber natürlich eine viel größere Breite hat; in wenigen Stunden ist das Wasser um mehrere Fuß gewachsen.

Bilder von der Weichselüberschwemmung. Nach der Natur gezeichnet von Robert Aßmus.
9. Dammdurchbruch bei Czarnowo.

In solcher Lage sind nur zwei Fälle möglich: entweder es gelingt dem Drucke des fortwährend steigenden Wassers, die Eisstopfung zu lösen und das Eis zum Weichen zu bewegen – dann nimmt der Eisgang seinen normalen weiteren Verlauf und die Gefahr ist beseitigt – oder die von oben herab kommenden Eis- und Wassermassen, denen die Stopfung den Weg verlegt, suchen sich einen Weg durch den Uferdamm – und dann ist das Besitzthum der Niederungsbewohner schutzlos dem wüthenden Elemente preisgegeben; der Strom hat seine Fesseln gebrochen und rächt sich für den ihm angethanen Zwang, indem er Meilen weit das von fleißiger Menschenhand bestellte Land verheert. Wohl ist der Niederunger nicht müßig gewesen; er kennt ja die Tücke des Stromes, der ihn bedroht, und sobald aus Warschau die Nachricht von dem Beginn des Eisganges eintrifft, eilt er seine Vorkehrungen zu treffen. Mit Spannung wird jeder Depesche entgegengesehen, welche das deutsche Generalconsulat in Warschau nach Thorn sendet und welche von dort aus nach allen Weichselstädten weiter telegraphirt wird; gilt es ja, aus den Wasserstandsnachrichten die Gefahr zu bemessen, welche droht. Schon haben die Eiswachen die Dämme bezogen, mit Pfählen, Strauchwerk, Dünger, Erde bemühen sie sich, die gefährdeten Stellen zu schützen und dem Durchdringen des Wassers durch den Damm vorzubeugen. Ueberall auf der ganzen Uferlinie herrscht Leben, Thätigkeit, Bewegung. Daheim wird das Vieh in Sicherheit gebracht, in weniger gefährdete Gehöfte oder auf die Heuschuppen; die ganze bewegliche Habe des Besitzers bringt man nach dem Boden des Hauses, und die Familie richtet sich dort oder in den höher gelegenen Kirchen, Schulen oder Gehöften häuslich ein, so gut es geht. Aber damit sind auch die Sicherheitsmaßregeln des Niederungers erschöpft; das Weitere muß er dem Elemente überlassen, dessen Walten er mit Bangen entgegensieht.

Das ist der Eisgang auf der Weichsel, wie er sich alljährlich, bald mehr, bald minder gefährlich abspielt, mit schlimmerem Ausgang als in diesem Frühjahr seit langer Zeit nicht. Das Eis war im Winter bei viel höherem Wasserstande als sonst zum Stehen gekommen; die verhältnißmäßig milde Witterung hatte die Eisschollen aufgeweicht und dadurch geeigneter gemacht an einander zu kleben und Stopfungen zu bilden. Wie verhängnißvoll diese Stopfungen zu werden vermögen, sollte sich bald zeigen.

In der Nacht zum 18. Februar begann bei Thorn der Eisgang. Eine Stopfung, welche sich unterhalb Thorns gebildet hatte, brachte das Eis bald wieder zum Stehen. Am 18. Februar Mittags setzte es sich in der vollen Breite des Stromes abermals in Bewegung, und nun nahm das Drama schnellen Fortgang. Ueberall, an den verschiedensten Stellen, waren Stopfungen eingetreten und führten Katastrophen herbei. Schon am Nachmittag brach der Damm der Thorner Niederung bei Schmolln; unaufhaltsam drang das Wasser in die Oeffnung und überschwemmte die rechts der Weichsel gelegene Niederung; weitere Dammbrüche bei Pensau und Czarnowo folgten; die häufigen Stopfungen unterhalb hinderten den Abfluß der Wassermengen, und der Morgen des 19. Februar beleuchtete eine einzige große Wasserfläche. Das Werner’sche Haus in Schmolln war von den Fluthen weggespült worden; bei Thorn war die hölzerne Brücke über einen Weichselarm fortgerissen, das Zollhaus mit dem Krahne am Weichselufer von den Eismassen zusammengedrückt; zwei Häuser in der Fischerei-Vorstadt waren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_273.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)