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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

mit den Augen der Wunderkinder tiefere Einblicke in die ihnen offen stehenden Regionen zu thun, den verweisen wir auf die Broschüren der theilweise schon genannten Marpinger Apologeten N. Thoemes, F. Düke, W. Cramer, Prinz E. Radziwill und Dr. Rebbert. Mit Ausnahme des Erstgenannten sind sie sämmtlich Geistliche. Aus der Schrift des Letzterwähnten, eines ehemaligen Privatsecretärs des Bischofs Martin und nunmehrigen Professors an der theologischen Facultät zu Paderborn erfahren wir auch, daß selbst die diabolischen Einflüsse in die Marpinger Offenbarungen nur ad majorem Dei gloriam dienten. „Daß der Teufel,“ schreibt Dr. Rebbert, „auch in Marpingen für sich zu profitiren suchen würde, war von vornherein so sicher anzunehmen, daß ein mir bekannter sehr tüchtiger Theologe eben auf Teufelserscheinungen wartete, als auf eine neue Bestätigung für die Wahrheit der Muttergotteserscheinungen. Auch in Dittrichswalde haben wir ja Beides zusammen. Solches verwundert den Unterrichteten nicht. Im Gegentheil würde es uns wundern und befremden, wenn der Feind Gottes und der heiligen Jungfrau hier ruhen würde. Er sucht bei solchen Gelegenheiten Verwirrung zu stiften und für sich Beute zu machen.“ Der Caplan und Redacteur W. Cramer seinerseits schlägt alle etwa aus dem läppischen Betragen des erschienenen Beelzebub in seinen Lesern aufsteigenden Bedenken nieder mit dem einen kräftigen Satze: „Der Teufel macht ja oft dumme Geschichten“.

Als die drei ursprünglich begnadigten Mädchen – außer der oftgenannten M. Kunz die Leist und die Hubertus – einmal im Härtelwalde die ihnen zu diesem Zwecke von einer Lehrerin in den Mund gegebene Frage an die Erscheinung richteten: warum nur gerade sie des Schauens gewürdigt seien, da referirte die Kunz als Antwort der Muttergottes: „Weil sie unschuldige Kinder sind.“ Es war deshalb gewissermaßen eine Inconsequenz der Madonna, daß sie auch einigen invaliden verheiratheten Bergleuten, wie diese behaupten, sichtbar geworden ist. Aber auch das lag gewiß so im Plane der göttlichen Heilsökonomie, denn diese Bergleute spielten theilweise auch die wunderbar Geheilten und legten als solche den Grundstein für die Reputation Marpingens als Curort.

Selbstverständlich ist von den wunderbaren Heilungen, welche zu Marpingen vor sich gegangen sein sollten, bei näherer Prüfung der vom Gerichte gehörten ärztlichen Sachverständigen so gut wie nichts übrig geblieben. Schon vor der großen Verhandlung zu Saarbrücken waren Einzelne, die plötzliche Heilung in Marpingen gefunden zu haben vorgaben, gerichtlich wegen Betrugs bestraft worden, indem das Lügenhafte ihres Vorgebens, wie die gewinnsüchtige Absicht ihnen nachgewiesen werden konnte. In anderen Fällen fanden die als Sachverständige gehörten Aerzte eine vielleicht eingetretene Besserung aus natürlichen Ursachen ganz erklärlich. Von Andern, wie z. B. von den Verwandten der Gräfin Spee, bekannte man freimüthig, daß nicht einmal momentane Besserung eingetreten sei, dem inbrünstigsten Glauben und Beten zum Trotze; noch Andere waren nach der vermeintlichen Heilung oder doch Linderung ihrer Leiden denselben wieder völlig verfallen oder gar daran gestorben. Im Uebrigen aber deckte bezüglich dieser Heilungswunder der Monstre-Proceß einen wahren Rattenkönig von Lug und Trug auf. In den ersten Monaten des Schwindels füllten die Erklärungen der angeblich Geheilten täglich die frommen Blätter; diese sämmtlichen Erklärungen – bis auf eine einzige – waren von Geistlichen fabricirt und von den betreffenden „Erklärern“ nur unterzeichnet worden, ohne daß diese oft auch nur recht wußten, was darin stand!

Es hatte bei dem Marpinger Schwindel auch nicht an einem Beispiel des Strafgerichts über die Ungläubigen gefehlt. Als solches hatte ein Unfall, der die Pferde des Kaufmanns Fischer zu Ottweiler ereilte, herhalten müssen. Kaufmann Fischer, so erzählte man seinerzeit der gläubigen Welt, habe seinem Knechte befohlen, Holz im Walde zu holen. Der Knecht erwiderte, die Fuhre sei zu schwer für die vorgespannten zwei Pferde. „Dann kann ihnen die Marei von Marpingen ziehen helfen!“ habe Fischer spottend erwidert. Der Knecht erfüllte des Herrn Geheiß, und ein Pferd stürzte und verendete nach dem andern. Nun habe Fischer seinen Leuten Strafe angedroht, wenn sie von der Sache als von einem „Strafgericht“ reden würden. Bei der Section der zwei Pferde sei bei keinem derselben eine Spur von Krankheit zu finden gewesen.

Pastor Neureuter vergaß, als er die Geschichte in sein Notizbuch eintrug, nicht, dabei zu bemerken, daß Fischer Protestant sei. Das ist zwar nicht wahr, aber es machte sich doch gut. Und was war nun der Kern der Sache, wie er sich bei der öffentlichen Verhandlung documentirte? Die Pferde sind in der That gefallen, eins nach dem andern. Die Geschichte passirte am 9. Juli; am 12. Juli erst erfuhr Fischer von den Marpinger Wundern, er konnte sie also nicht schon drei Tage vorher zum Gegenstande einer spöttischen Aeußerung gemacht haben. Den Tod der Thiere hatte der Knecht verschuldet, indem er sich willkürlich an einem Orte unterwegs aufhielt und dann das Gespann übermäßig antrieb, um einige voraufgefahrene Cameraden wieder einzuholen. Der Veterinärarzt fand die Magen der Pferde geplatzt und Rückstände von grobem Kleienfutter in denselben; die heftige Anstrengung nach dieser Fütterung, dabei unzeitiges Tränken hatten bei beiden Thieren dieselben Folgen: es entwickelten sich ungewöhnlich viel Gase in ihren Verdauungswerkzeugen und zerrissen dieselben.

Die Vorbereitung des Processes hat dritthalb Jahr in Anspruch genommen, Bände von Actenstücken und Verhörprotokollen thürmten sich auf; noch in den Tagen vom 3. zum 15. März wurden 170 Zeugen verhört, aber die Welt ist nun auch im Klaren aber den Kern der Erscheinung.

Die „Civiltà cattolica“, das am besten beglaubigte der kirchlichen Preßorgane, schrieb noch am 3. November 1877: „Gott kann ja nie zulassen, daß Millionen guter Katholiken ein ganzes Jahr lang durch falsche Wunder getäuscht werden sollten.“ Angesichts der Saarbrücker Enthüllungen wird die „Civiltà cattolica“, mag sie sich äußerlich gebehrden wie sie will, innerlich doch wünschen, sie hätte „unsern Herrgott aus dem Spiel gelassen“.

Auch die „Kreuzzeitung“ meinte (im Sommer 1876) freilich, „die Marpinger Affaire könne leicht den Minister Falk stürzen“, aber die Hoffnungen der „Civiltà“ gingen doch noch viel weiter. „Mächtiger als die Armeen des Kaiser Wilhelm," so las man in ihrer Nummer vom 19. August 1876, „wird die heilige Jungfrau den Ort, welchen sie sich zur Offenbarung ihrer übernatürlichen Kraft ausgewählt hat, zu vertheidigen wissen. Das katholische Deutschland jubelt, da es sieht, daß die von ihm so hochverehrte Jungfrau ihm die Gnade erweist, es zu besuchen. Die allerheiligste Jungfrau hat eine große Aufgabe unter den Deutschen zu erfüllen, nämlich die Ketzerei und den Unglauben der Protestanten zu überwinden. ‚Besiegerin der Irrlehre und der Glaubenslosigkeit’, das ist der richtige Name für unsere liebe Frau von Marpingen.“ Sie hat ihm wenig genug Ehre gemacht!

Die Urtheilsverkündung war am 15. März auf drei Wochen vertagt worden und erfolgte demgemäß am 5. April. Das Erkenntniß, dessen Verlesung wegen der ausführlichen Erwägungsgründe zwei Stunden in Anspruch nahm, lautet für sämmtliche Beschuldigte freisprechend; es charakterisirt die vorgeblichen Erscheinungen als „schändliche Täuschung“ und führt dann aus: an dieser Täuschung hätten die Eltern der Kinder und andere Beschuldigte Theil genommen und sie unterstützt, jedoch habe die zur Verurtheilung erforderliche böse Absicht, betrügerischen Gewinn aus dieser Täuschung zu ziehen, nicht nachgewiesen werden können. Das gerichtliche Urtheil ist in dieser Angelegenheit von keinem Gewicht mehr, nachdem die Untersuchung den moralischen Verdammungsspruch gegen die erwachsenen Theilnehmer derselben hundertfach hervorgerufen. Es war abermals ein Sieg des Lichts über die Finsterniß. Wie viel solcher Siege werden wir in Deutschland noch erringen müssen, ehe auch im Volke die Köpfe hell genug sind, um den Versuchen der Dunkelmänner widerstehen zu können? Leider ist es, wie bei den Höhen und Tiefen der Natur, so auch im Geistesleben der Menschen: die Höhen beleuchtet die Sonne bald – aber „die Nacht weicht langsam aus den Thälern“.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_286.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)