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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Die beiden Culturträger in Centralasien.


Es ist nicht unsere Absicht, hier auf die Vorgänge in Afghanistan, wie sie in den letzten Monaten durch die Zeitungen bekannt geworden, abermals zurückzukommen. Nichts liegt uns ferner. Aber bei der fortdauernden hohen Bedeutsamkeit der Ereignisse wollen wir versuchen, einige Erscheinungen, die in Land und Leuten, in Natur und Geschichte Afghanistans tief begründet sind, hervorzuheben und damit zugleich auf den sich hier abspielenden unvermeidlichen Naturproceß – Darwinscher Kampf um’s Dasein möchte man sagen – andeutend hinzuweisen.

Wie zwei drohende Wetterwolken, die verderbenschwer mit elektrischer Materie überfüllt sind, nähern sich in Centralasien Rußland und England. Früher oder später – das ist klar – werden sie an einander stoßen und sich furchtbar entladen. Ob und wann diese Entladung einem neuen Völkerleben gedeihlich werden wird, wie ein Wettersturm, der Wohnstätten niederwirft, Wälder entwurzelt und weite Strecken verheert, aber die Luft reinigt vom Pesthauch einer verderblichen Stagnation, und ferner: welchen Verlauf und welche Folgen der russische und indobritische Zusammenstoß für Centralasien, für die turkestanischen, turanischen, für die indischen Länder und Völker haben wird – dies heute vorauszusagen, liegt außer der Fähigkeit menschlicher Beurtheilung. Aber es gewährt schon hohen Reiz, die Vorbereitung und Entwickelung dieser asiatischen Vorgänge zu belauschen und die Merkmale nahe bevorstehender Wandlungen wenigstens versuchsweise zu deuten.

Die Cultur, die Civilisation der Menschheit ging bekanntlich Jahrtausende in der Richtung des Sonnenlaufes, von dem Morgenlande Asien nach dem Abendlande Europa, von hier weiter nach Amerika und endlich in vollendetem Kreise wieder nach Asien zurück. Die Vereinigten Staaten trugen abendländische Cultur nach den ältesten Culturstaaten des Morgenlandes, nach Japan und China. So wird nunmehr das Wort von dem rückläufigen Culturgange vom Abendlande zum Morgenlande zur Wahrheit, und die Aufgabe Europas ist jetzt, das älteste Festland, die Heimath aller Religionen und Culturen zu europäisiren. Russen und Briten haben seit geraumer Zeit vom Norden und Süden diese Mission übernommen und stehen nunmehr in Centralasien als Rivalen einander gegenüber.

Wie sehr verschieden sind die Mittel, Wege und Werke dieser beiden Culturträger in diesem Erdgebiet! Rußland rückt auf großen, nur von Flüssen durchschnittenen Ebenen vor; das Mutterland wächst gleichsam gegen Asien hinaus; der Zusammenhang mit der Eroberung wird nie unterbrochen. Großbritannien hat keinen Zusammenhang mit seinen fernen Besitzungen, oder es bietet ihn nur das Meer und die Herrschaft über das Meer, das vergänglichste Moment politischer Kraft. – Die Russen dehnten sich bisher unter derselben Zone aus, die sie geboren hatte. Das Klima ist dasselbe in Sibirien und den turkestanischen Steppen, wie im südlichen Rußland. Wäre Rußland diesseits des Kaukasus geblieben, wäre es nicht hinabgestiegen in die Ebene des Kur und Araxes, wo der Wein wild seine Rebe um die Ulme spinnt, wo die Früchte der Citrusarten ungeschützt reifen, wo die Seidenzucht, ja sogar der Indigobau gelingt – man könnte behaupten, das russische Reich erfreue sich mit geringen Abweichungen einer meteorologischen, klimatischen Einheit. Die Briten dagegen haben sich aus einem vor Extremen völlig geschützten Seeklima der gemäßigten Zone in das Palmenklima gewagt, wo der Europäer die senkrechten Strahlen der Sonne nicht ungestraft auf seinen Scheitel fallen läßt.

Aus diesen Ursachen folgte einfach, daß die Engländer wohl asiatische Reiche erobern, beherrschen und ausbeuten, sie aber nie bevölkern konnten. Rußland dagegen hat nicht bloß die große sibirische Ebene entdeckt, es hat sie auch zuerst der Cultur gewonnen. Wenn heute Indien den Briten entrissen würde, so bliebe von der ehemaligen Herrschaft nichts übrig, als der Raum, den sie in den Jahrbüchern der beherrschten Völker einnehmen wird. Wenn heute dagegen Sibirien sich vom Mutterlande losreißt, so wird dieser Theil asiatischer Cultur immer seinen russischen Charakter behalten, wie Nord- und Südamerika ihre europäische Abkunft nie verleugnen können.

Die Russen haben sich ferner über eine beinahe unbewohnte Welt ausgebreitet. Die Völker, die sie fanden und sich unterwarfen, waren entweder Wilde oder Hirten oder Jägervölker. Sie brachten zuerst den Ackerbau nach dem Norden und Nordosten Asiens. Jedenfalls waren sie geistig unendlich jenen Wanderstämmen überlegen, und wie es immer geschieht, wo ein stärkeres und höher geartetes Volk andere Menschenstämme berührt, die physisch und geistig tief unter ihm stehen und in minder geschlossenem gesellschaftlichem Verband leben: die stärkere Race entzieht der schwächeren die Lebensbedingungen, und das eine Geschlecht stirbt unrettbar hinweg, wenn man auch nicht sagen kann, es sterbe eines gewaltsamen Todes.

Ganz anders sind die Briten in einem der dichtest bevölkerten Reiche vorgedrungen, wo nicht blos Ackerbau, sondern auch Gartenwirthschaft und Fruchtbaumpflege herrschte. Sie stießen auf hochcultivirte Völker, die ihre eigene originelle Entwickelung hinter sich hatten, welche wenig oder nichts von der fremden Civilisation brauchen mochten, welche nur durch ihres Gleichen, nicht durch den fremden Eroberer regiert werden konnten. Und so wenig hat sich durch die britische Herrschaft in den inneren gesellschaftlichen Verhältnissen Indiens geändert, daß dort noch wie vor länger als 2000 Jahren tatsächlich die höchste Kaste herrscht, die Brahminen.

So besteht denn auch zwischen der civilisirenden Thätigkeit der Russen und derjenigen der Briten ein großer Unterschied. Jene erwerben die Welt, die sie erobern, der abendländischen christlichen Cultur; die Eroberungen dieser haben wenig oder gar nichts mit der Ausbreitung unserer Cultur zu thun. Völkerschaften, die eine originelle geistige Entwickelung hinter sich haben, gehen ihren eigenen Weg, sie können beherrscht, unterdrückt und ausgerottet, sie können auch materiell erzogen, gehoben, administrativ gepflegt werden – sittlich vermag man nichts an ihnen zu ändern. In diesem Sinne darf man wohl sagen, daß die Ausbreitung der russischen Herrschaft dauerhaft, nicht episodisch sei, wie die britischen Eroberungen, die mit Hülfe der schwankenden See ihren Anfang nahmen und mit der Wellenbeherrschung ihr Ende erreichen werden. Es ist schwer zu sagen, wer von Beiden, Russen oder Briten, hier größere Eroberungen gemacht hat. Zählen wir die Bevölkerung, die unterworfen wurde, so haben die Briten den Löwenantheil, denn sie haben seit noch nicht anderthalb Jahrhunderten im Durchschnitt jährlich fast zwei Millionen Menschen dem britischen Reiche gewonnen. Nehmen wir dagegen den Raum als Maßstab, so übertrifft die Ausdehnung der russischen Eroberung alle bisherigen Erfahrungen der Geschichte.

Bis zum Jahre 1747 erstreckte sich das persische Reich vom Fuße des Kaukasus bis zum Indusdelta. Damals war Persien noch eine asiatische Großmacht, Indien ein noch im Wachsthum begriffenes Actiengeschäft von Engländern, Rußland von ehrgeizigen Vergrößerungsinstincten nach allen Seiten ergriffen und die Türkei noch nicht zum bloßen geographischen Begriffe hinabgesunken. Von eifersüchtigem Bewachen des beiderseitigen Vorgehens, von einem Rivalisiren konnte damals nicht die Rede sein. Heute ist das Sultanreich kaum mehr ein geographischer Begriff; Persien ist aus den activen Staaten gestrichen; Rußland steht in Mittelasien mit gesicherter Position und fester politischer Tendenz; Indien ist in natürliche Grenzen abgerundet und aus einer Kaufmannscolonie ein integrirender Theil des großbritannischen Reiches unter der gemeinsamen Königin als Kaiserin geworden; in unverhohlener Eifersucht stehen die beiden Rivalen an den Grenzen des letzten Bollwerks, das sie trennt, einander gegenüber – an den Grenzen Afghanistans.

Das erste französische Kaiserreich war es, welches zuerst das Gegenüberstehen beider Mächte in Mittelasien zu einem politischen Gegensatze zupitzte; und schon damals wurde Afghanistan mit in Rücksicht genommen. Napoleon’s Eroberung Aegyptens und seine abenteuerlichen phantastischen Pläne zu einem modernen Alexanderzuge nach Indien ließen die Regierung von Britisch-Indien mit Afghanistan und Persien ein Schutzbündniß schließen, während andrerseits Napoleon nach dem Frieden zu Tilsit mit Rußland sich verbündete, um England in Indien zu bekämpfen.

„Man sprach damals zu St. Petersburg,“ erzählt Thiers, „in vertraulichen Stunden viel und häufig von einem Zug gegen die Engländer in Indien. ‚Wenn nur die große Entfernung,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 287. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_287.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)