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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

die Hausthür möglichst vor der Nase zugeschlagen wird. Unterdeß war von innen die Thür geöffnet worden, an welcher der Bräutigam, Brautjungfern und Brautführer immer dringender um Einlaß gebettelt hatten, und jetzt strömte mit lautem Jauchzen die angeheiterte Schaar hinein, an der Spitze der Brautvater, ein älterer Mann, der sich nun zu der in ihrer Kammer befindlichen Braut begab und sie laut zum Verlassen derselben aufforderte. Die Braut hingegen, die sich den ganzen Tag hindurch nicht sehen lassen, ihre Kammer auch nicht verlassen darf, weigerte sich dessen nach herkömmlicher Sitte unter lautem Jammergeschrei auf’s Entschiedenste. Abermals wiederholte der Alte sein Gesuch, und als es wiederum erfolglos blieb, stürmten beim dritten Male einige alte Frauen in die Kammer hinein und zerrten die Widerstrebende hinaus. Nun war großer Jubel; ein Tisch ward in die Mitte gerückt und reichlich mit Kuchen, Wurst und Schnaps besetzt. Alle sprachen mit lachendem Gesichte dem Dargebotenen zu, besonders den Spirituosen. Unterdeß spielte die Musik einen Choral; Alles sang nach Kräften mit; darauf wurden einige Tänze abgespielt, und nun beeilte sich Jeder, auf die bereitstehenden Leiterwagen zu kommen, die das Brautpaar und die Gäste zur Kirche bringen sollten. Auf dem ersten Wagen nahmen die Musikanten und einige Hochzeitsgäste Platz, deren Aufgabe es ist, durch laute Jauchzer auf das Herannahen eines Hochzeitszuges aufmerksam zu machen. Auf dem zweiten Wagen saß die Braut, die während der ganzen Fahrt still und betrübt vor sich hinsehen muß, ferner der Bräutigam, die Brauteltern und der Brautführer im Schmucke seiner bunten Tücher und Blumensträuße. Auf den anderen Wagen placirten sich die Brautjungfern, jede einen Strauß in der Hand für ihren „Kerl“, das heißt ihren nachherigen Tänzer, für dessen ordentliche Verpflegung sie sorgen muß. Lärmend und kreischend fuhr so der Hochzeitszug zur Trauung. Nach vollzogener Feierlichkeit geht die Fahrt zurück, aber in jedem am Wege liegenden Wirtshause wird eingekehrt und getanzt, sodaß manchmal erst spät Nachmittags die Hochzeiter das Haus der Brauteltern erreichen, wo bei Speise und Trank die Feierlichkeit weiter gesponnen wird. Während der Mahlzeit geht die Frau, welche das Essen angerichtet, mit einem Teller herum und sammelt ein; jeder Gast muß also sein Essen bezahlen, eine Sitte, die auch bei deutschen Völkern gang und gäbe ist. Nach aufgehobener Tafel wird im Gasthause (Kretscham) getanzt und dort auch um Mitternacht der Braut der Kranz vom Kopfe gerissen und ihr dafür eine mächtige Haube aufgesetzt. Von nun an darf sie nicht mehr unter den Mädchen sitzen. – Zwei Tage lang dauert das Treiben im Wirthshause fort; sind die alten Leute müde, so ist eine Strohschütte gleich zur Stelle, das junge Blut aber tanzt weiter, Tag und Nacht, und erst am Abende des zweiten Tages hat das riesige Vergnügen ein Ende.

Mittag war vorüber, als wir auf dem „Ring“ (Marktplatz) der Judenstadt Kempen hielten, mitten im Gewühl einer zahlreichen Judenmenge, welche die ganze Stufenleiter von der abscheulichsten Häßlichkeit an bis zur vollkommenen plastischen Schönheit repräsentirte. Eigenthümlich berührt es, eine ganze Stadtbevölkerung zu sehen, von welcher die Männer das sonst im westlicheren Deutschland nur vereinzelt angetroffene charakteristische Aeußere des polnischen Juden zeigen: in Verbindung mit der scharf jüdischen Physiognomie die „Peies“, die langen Schmachtlöcklein, welche zu beiden Seiten des Gesichts bis auf die Schultern herniederfallen, ferner die „Schibbeze“, das lange kaftanähnliche Gewand, und die langen Stiefeln.

Unser Weg führte am Kirchhof der Juden vorbei, welcher draußen vor der Stadt auf einer Anhöhe liegt. Wie das Leben der Hebräer in bestimmte, vorgeschriebene Formen geschlossen ist, so sind auch die Leichensteine überall von derselben feststehenden, tafelförmigen Gestalt, nur mehr oder minder verziert durch einfache Arabesken und Ornamente. In dichtgedrängten Reihen, wie die Halme des Feldes, standen hier die Hunderte von Grabsteinen hinter einander, umschlossen von Disteln und Kieferngezweig, durch dessen düsteres Grün die verwischten Schriftzeichen Palästinas geheimnißvoll uns entgegenblickten. Auf einer Anzahl der Tafeln waren die Zeichen des Stammes angebracht, dem die unter ihnen ruhenden Todten im Leben angehörten. Zwei aufrechtstehende Hände bezeichnen die Aaroniten, ein Kelch den Stamm Levi u. s. f.

Wir hatten den Kirchhof wieder verlassen und schickten uns eben zur Weiterreise an, da sahen wir einen Leichenzug längs des Angers sich bewegen. Ernste Männer waren es, die bleichen Gesichter umrahmt von dunkelschwarzen Bärten – Juden, die einen ihrer Todten hinaustrugen. – Umdrängt von neugierigem Volke, zogen sie, ihre eigenthümlichen Gebete murmelnd, hinaus zum „guten Ort“, zum „Hause des Lebens“, um dort die arme leblose Hülle zu betten. Eine Weile verfolgten wir die dunklen Gestalten mit den Augen, bis sie in dem auswirbelnden, sonnendurchglühten Staube verschwanden.

Die Grenzstation, wo die Prosna Deutschland von Rußland scheidet, heißt auf deutscher Seite Podzamce, ein armseliges Dorf, und es war Abend, als wir vor derselben anlangten.

Nur fern im Westen zeigte sich noch ein breiter goldiger Streif, im Osten aber, wo sich die ungemessenen Weiten des russischen Reiches dehnten, wurde es finsterer und finsterer – dort schien alles Leben erstorben, und aus dem Dunkel, vom rechten Ufer der Prosna herüber, tönten nur die seltsam weichen, langgezogenen Weisen einer Hirtenflöte.

Rudolf Cronau.




Der Arbeiter sonst und jetzt.
Zeitgemäße Betrachtungen von Professor Karl Biedermann.


Seit mehr als fünfzehn Jahren, seit der von Lassalle angeregten Arbeiterbewegung, ist von gewissen Seiten her den Arbeitern fort und fort in zahllosen Zeit- und Flugschriften, wie in ebenso zahllosen Versammlungen, schriftlich und mündlich, vorgepredigt worden: in dem Loose der arbeitenden Classen sei nicht nur keine Besserung gegen früher eingetreten, sondern es sei auch eine solche überhaupt unmöglich; der Arbeiter sei dazu verdammt, immerfort denselben untersten Rang in der Gesellschaft einzunehmen, in derselben traurigen, kaum menschenwürdigen Lage sich fortzuschleppen; er vermöge sich nie über die knappste Nothdurft des Lebens zu erheben, und von allen Fortschritten der Cultur habe nur er keine Vortheile zu erwarten.

Eine solche Lebensansicht, wenn sie zu einer allgemeinen würde (wie sie es leider schon vielfach geworden ist), wäre trostlos für die Arbeiter selbst, gefahrdrohend für die Gesellschaft. Woher sollte dem Arbeiter die Freudigkeit des Arbeitens, des Sparens, des Strebens nach Verbesserung seiner Lage, nach Bildung seiner selbst und nach tüchtiger Erziehung seiner Kinder kommen, wenn er sich sagen müßte, daß doch Alles fruchtlos sei, daß er doch nie weiter und wirklich vorwärts kommen könne? Was bliebe ihm dann anders übrig, als eben das, wozu ja in der That gewissenlose socialdemokratische Agitatoren es gern bringen möchten: die Verzweiflung an seiner Gegenwart wie an seiner Zukunft und der daraus sich erzeugende ungestüme Trieb, diese gegenwärtige bestehende Gesellschaftsordnung sobald wie möglich in Stücke zu schlagen?

Es ist ein schweres Unrecht – nicht blos an der Gesellschaft und dem allgemeine Culturfortschritt, sondern vor Allem an dem Arbeiter selbst – wenn man diesem letzteren eine solche trostlose Ansicht einzureden sucht, ohne die Wahrheit der Behauptung, auf welche man dieselbe stützt, geschichtlich erhärten zu können. Daß man dies aber nicht kann, daß im Gegentheil eine gründliche und unbefangene Vergleichung des Sonst und des Jetzt in den Zuständen der arbeitenden Classen eine wesentliche und fortschreitende Verbesserung dieser Zustände nach allen Seiten hin außer Zweifel stellt, das hoffen wir mittelst der nachstehenden Betrachtungen zu beweisen. Wir knüpfen dabei, wo es specielle Verhältnisse gilt, namentlich an das uns zunächst liegende Beispiel Leipzigs an und werden überall, fern, jeder Schönmalerei, nur genau ermittelte und feststehende Thatsachen sprechen lassen.

Wir beginnen unsere Vergleichung mit denjenigen Seiten der Arbeiterzustände, welche den Fortschritt zum Besseren am zweifellosesten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 320. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_320.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)