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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

und so zu sagen handgreiflichsten zeigen: Das ist die politische und gesellschaftliche Stellung des Arbeiters.

Im Alterthum war der Arbeiter Sclave, im Mittelalter kaum etwas Besseres. Leibeigener, Höriger, Fröhner. Sogar die Handwerker in den Städten waren anfangs unfrei. Heut ist der Arbeiter politisch den andern Ständen gleichgestellt; er sitzt im Reichstage vollkommen ebenbürtig neben Fürsten und Grafen, großen Grundbesitzern, reichen Handels- und Fabrikherren, Beamten und Gelehrten.

Kaum weniger bedeutend ist die Veränderung in der gesellschaftlichen Stellung des Arbeiters. Und dieses Ergebniß ist um so erfreulicher, als es zu einem sehr wesentlichen Theile sich als die Frucht der gegen früher außerordentlich gestiegenen Bildung der Arbeiter darstellt. Der Bildungsfortschritt der Arbeiter ist seit den letzten fünfzig Jahren ein so großer, daß er den Bildungsfortschritt der sogenannten höhern Classen (des Adels, des Gelehrten- und Bürgerthums) relativ überwiegt. Wenn wir den Handwerksburschen von vor vierzig oder fünfzig Jahren, der „fechtend“ durch die Lande zog, mit dem Gewerbsgehülfen von heut vergleichen, welch gewaltiger Unterschied! Wenn wir sehen, was der letztere nicht blos liest, sondern auch versteht, wenn wir wahrnehmen, mit welchem Eifer er die Gelegenheiten zu seiner allgemein menschlichen wie Berufsfortbildung, die ihm in Vereinen oder sonst geboten werden, ergreift und benutzt, wenn wir hören, welche Lieder er in seinen zahlreichen Gesangvereinen singt, und wie er sie singt, wenn wir den geselligen Zusammenkünften und Festlichkeiten der Arbeiter beiwohnen, so müssen wir uns sagen – und wir sagen es mit Freuden – daß die Empfänglichkeit, das Verständniß und das Interesse für die Bildungsfrüchte, deren Samen die besten Geister unserer Nation ausgestreut haben, in diesen Volksschichten, die früher kaum etwas davon kannten, in der erfreulichsten Weise gewachsen ist.

Es ist in der That höchst achtenswerth, wie die Arbeiter zu einem großen Theile, und nicht blos solche im jugendlichen Alter, sondern auch gereifte Männer von vierzig bis fünfzig Jahren, oft mehrere Abende in der Woche nach harter und erschöpfender Tagesarbeit eifrigst ihrer Fortbildung widmen, wie wir das in Leipzig an Hunderten und Hunderten, sowohl im „Volksverein“ wie im „Volksbildungsverein“ wahrnehmen; und es ist ein erhebendes Schauspiel, wie ebenda Männer und Frauen dieses Standes sich stundenlang in jeder Witterung vor den Thüren des Theaters drängen, in welchem classische Stücke in billigen Vorstellungen geboten werden, während bei der Darstellung derselben classischen Stücke auf der größeren Bühne oft genug die Plätze der vornehmen Welt leer bleiben!

Kommen wir auf eine andere Seite der Arbeiterverhältnisse, auf die privatrechtliche Stellung des Arbeiters und auf die Lage, welche die Gesetzgebung ihm bereitet. Vor Zeiten bestand für den ländlichen Arbeiter der sogenannte Dienstzwang, das heißt, er mußte bei der Grundherrschaft als Dienstbote, Knecht u. dergl. eintreten. Wollte er einen andern Beruf wählen, etwa ein Handwerk in der Stadt lernen, so bedurfte er dafür der Erlaubniß des „gnädigen Herrn“, einer Erlaubniß, die zuweilen mit Geld erkauft werden mußte. In den Städten gab es zwar eine solche directe Abhängigkeit nicht, aber das Verhältniß war thatsächlich kaum ein anderes.

Die obrigkeitlichen Lohntaxen, welche damals allgemein bestanden, hatten nicht etwa den Zweck, den Arbeiter vor Bedrückung durch den Arbeitgeber zu schützen, im Gegentheil, sie dienten nur dazu, dem Arbeitgeber möglichst billige Hände zu verschaffen. Das geht unter Anderem daraus hervor, daß die Leipziger Lohntaxe von 1763 unverändert aufrecht erhalten ward, obschon die Getreidepreise zwischen 1763 und 1770 von 2½ auf 8 Thaler stiegen. Bei länger andauernden niedrigen Lebensmittelpreisen dagegen wurde bisweilen die Taxe noch herabgesetzt. Als damals die Zimmer- und Maurergesellen sich mit einer bescheidenen Vorstellung an den Rath wandten und um eine Lohnerhöhung baten, weil sie bei den theuren Preisen mit dem taxmäßigen Lohne nicht auskommen könnten, ward ihnen dies wie eine Auflehnung zum Verbrechen gestempelt; sie wurden mit Verweisung aus der Stadt bedroht, ja die Urheber der Vorstellung wurden verhaftet.[1] Und als einige Arbeitgeber aus Billigkeitsgefühl freiwillig ihren Arbeitern etwas mehr als die Taxe zahlten, wurden sie vom Rath in eine Strafe von 20 Thaler genommen, „weil sie die Armuth drückten“, das heißt weil sie ihren ärmeren Mitmeistern die Löhne vertheuerten oder die Arbeiter entzögen. Der Arbeiter galt damals als keiner Rücksicht werth; er war ein bloßes Werkzeug: der Mensch fing erst beim Vollbürger oder „Meister“ an.

War endlich der Arbeiter arbeitsunfähig geworden oder stockte der Arbeitsverdienst, so war jener (abgesehen von den kargen Unterstützungen, welche etwa hier und da eine Innung gewährte) rein auf sich selbst, das heißt auf’s Betteln angewiesen; ein gesetzliches Recht auf öffentliche Unterstützung gab es so wenig, wie eine geordnete Armenpflege. So begreift es sich, daß in dem Nothjahr 1772 in Leipzig, das damals nur etwa 25,000 Einwohner zählte, 4000 Bettler sich fanden, daß ganze Schaaren von Bettlern und Vagabonden die Länder durchzogen und die Heerstraßen unsicher machten.

Wie anders steht in allen diesen Beziehungen der heutige Arbeiter da! Die vollkommenste gesetzliche Freizügigkeit gestattet ihm, seinen Erwerb da zu suchen, wo er ihn am besten zu finden meint: weder seinen Wegzug von einem Orte, noch seiner Ansiedelung an einem andern werden Schwierigkeiten bereitet. Das Recht der Vereinigung – auch zum Zweck der Erlangung eines höheren Lohnes, selbst durch das Mittel der gemeinsamen Arbeitseinstellung – ist ihm unverwehrt, so lange er sich nur bei dessen Ausübung der Gewaltthat und sonstiger ungesetzlicher Mittel enthält. Der Arbeiter hat kraft des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz, wenn er verarmt, ein gesetzliches Recht auf öffentliche Hülfe, bis er wieder erwerbsfähig wird. Durch die Reichsgewerbeordnung ist Fürsorge getroffen, daß der Arbeiter nicht durch ein Uebermaß von Arbeit oder durch eine der Gesundheit nachtheilige Beschaffenheit der Arbeitsräume geschädigt werde. Für Frauen und Kinder ist noch besondere Fürsorge getroffen. Durch das Haftpflichtgesetz soll dahin gewirkt werden, daß, wenn durch die Schuld der Arbeitgeber der Arbeiter an seiner Gesundheit, seiner Arbeitsfähigkeit ober gar seinem Leben Schaden leidet, ihm selbst oder den Seinen ein Ersatz dafür zu Theil werde. Durch die Anstellung von Fabrikinspectoren (siehe den Artikel „Bahnbrecher des socialen Friedens“ von Franz Mehring in Nr. 8) ist eine Controlle von Staatswegen eingerichtet worden, damit diese Vorkehrungen zu Gunsten der Arbeiter nicht ein todtes Papier bleiben, sondern wirksam werden. In den Gewerbeschiedsgerichten sitzt der Arbeiter gleichberechtigt neben dem Arbeitgeber und spricht öffentlich Recht über diesen wie über die eigenen Genossen.

Und nicht blos für das materielle Wohl des Arbeiters sorgt die Gesetzgebung, sondern auch für seine Bildung, dieses erste und wichtigste Instrument seines Fortkommens und seiner ökonomischen Besserstellung. Staat und Gemeinde bieten dem nachwachsenden Arbeitergeschlecht einen früher gänzlich entbehrten Unterricht, theils unentgeltlich, theils zu einem sehr ermäßigten Preise.

Wenn solchergestalt der Arbeiter in seinen Rechten und in Bezug auf die Rücksichten, welche Staat und Gemeinde auf ihn nehmen, gegen früher wesentlich besser gestellt ist, so ist er ebenso wesentlich erleichtert in Betreff der Pflichten, die er gegen beide zu erfüllen, der Lasten, die er als Staats- und Gemeindeangehöriger zu tragen hat.

Zwei Hauptarten solcher Pflichten oder Lasten giebt es: die Wehrpflicht und die Steuerlast. In beiden Beziehungen war der Arbeiter von sonst sehr übel daran. Als die sogenannte Conscription, die Zwangswerbung für das stehende Heer, in den deutschen Ländern eingeführt ward (was im Laufe des vorigen Jahrhunderts geschah), da ließ man die oberen Classen – Adel, Beamte, Gelehrte, Kaufleute etc. – fast völlig davon frei und wälzte so die ganze Last des Heerdienstes auf die unteren Classen. Das hatte die Folge, daß diese um so länger dienen mußten. In Sachsen bestand bis 1867 die sechsjährige Dienstzeit. Der Vermögendere konnte sich (nach dem System der Stellvertretung) loskaufen; der Arme mußte sechs Jahre lang, oder doch den größten Theil dieser Zeit, bei der Fahne ausharren und konnte

  1. Erst nach der französischen Revolution ward dies etwas anders. 1797 kommt ein Strike der Dresdner und Leipziger Schlossergesellen vor. Sie beschwerten sich, daß sie von früh 4 Uhr bis Abends spät arbeiten müßten und nur für 3 Pfennig Brod bis Mittags 12 Uhr erhielten. Alles, was sie erlangten, war: 1 Stunde Abkürzung der Arbeitszeit und für 6 Pfennig Brod statt für 3 Pfennig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 321. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_321.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)