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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

während dessen nicht, oder doch nur in sehr beschränktem Maße, seinem Erwerbe nachgehen. Jetzt ist in Folge der allgemeinen Wehrpflicht die Dienstzeit auf die Hälfte, drei Jahre, thatsächlich sogar auf zwei ein viertel bis zwei ein halb Jahre, herabgemindert. Ein anderer Nachtheil des damaligen Heeresdienstes bestand darin, daß die Behandlung des Soldaten, weil man es dabei eben nur mit dem nichtbevorzugten, darum damals mißachteten Theile des Volkes zu thun hatte, meist eine sehr harte, ja entwürdigende war. Jetzt hat der Arbeiter nicht mehr die demüthigende Empfindung, einen Dienst leisten zu müssen, für den die Anderen sich zu gut halten und dem sie sich daher entziehen; er steht in Reihe und Glied neben dem Sohne des adligen Grundbesitzers oder des reichen Kaufmannes; ja er kann, wenn er sich auszeichnet, dessen militärischer Vorgesetzter werden.

Was die Besteuerung betrifft, so ist diese in Staat und Gemeinde heutzutage gegen den Arbeiter in demselben Maße eine vorwiegend humane, wie sie im vorigen Jahrhundert eine inhumane war. Der Einfluß und der Egoismus der herrschenden Classen bewirkte damals, daß die Steuerlast vielfach von diesen auf die ärmeren abgewälzt ward, während heutzutage der Zug unserer Steuergesetzgebung vorwiegend dahin geht, diese letzteren auf Kosten der Besitzenden zu erleichtern. Bei der indirecten Steuer, der sogenannten Accise, genossen die vornehmeren Stände, Adel, Beamte, Geistlichkeit, mancherlei Befreiungen, z. B. Tranksteuerfreiheit, das ist Freiheit von der Wein- und Bieraccise. Bei der directen Steuer spielte eine Hauptrolle die Kopfsteuer, die, ohne Rücksicht auf den Erwerb, lediglich auf die Person gelegt war, und zwar nicht blos auf die Person dessen, der Etwas verdiente, z. B. das Haupt einer Familie, sondern auch auf jedes weitere Familienglied über vierzehn Jahren. So kam es, daß arme Tagelöhnerfamilien mit zwei bis drei erwachsenen Kindern bis zu zwölf oder fünfzehn Mark Kopfsteuer zahlen mußten.

Heutzutage finden derartige Berücksichtigungen bei der Steuererhebung nicht mehr zu Gunsten der vermögenderen, wohl aber zu Gunsten der ärmeren Classen statt.

Bei der Einkommensteuer im Königreich Sachsen ist jeder Erwerb bis zu 300 Mark gänzlich frei; der von 300 bis 400 Mark zahlt als einfachen Satz 5 Pfennig, von da bis 650 Mark 15 Pfennig, bis 950 Mark 40 Pfennig, bis 1100 Mark 60 Pfennig. Dagegen zahlt das doppelte Einkommen (2200 Mark) nicht doppelt, sondern mehr als drei Mal so viel (über 2 Mark), das achtfache (8800 Mark) nicht acht Mal, sondern mehr als fünfundzwanzig Mal so viel (über 16 Mark). Die Steuerzahler mit einem Einkommen unter und bis 1100 Mark machen in Sachsen zusammen 84 Procent oder etwa 6/7 sämmtlicher Steuerzahler aus, zahlen aber nur 14 Procent oder etwa 1/7 der ganzen Steuersumme; die Steuerzahler mit einem höheren Einkommen, zusammen nur 16 Procent oder etwa 1/6 aller Steuerzahler, zahlen 86 Procent oder 6/7.

Noch viel günstiger ist der Arbeiter gestellt rücksichtlich der Gemeindesteuern, wenigstens überall da, wo (wie z. B. in Leipzig) die Gemeindesteuer als Procentzuschlag zur Staatssteuer erhoben wird. Während der Arbeiter hiernach zu den Gemeindeausgaben nur einen verhältnißmäßig sehr geringen Theil beiträgt, kommt von diesen Ausgaben selbst ein sehr großer Theil gerade ihm und seiner Familie zu gute; so die sehr bedeutenden Kosten für Erbauung und Unterhaltung von Volksschulen, Krankenanstalten etc.. Ein weiterer Vortheil des Arbeiters in den Städten gegen früher besteht in dem Wegfall der städtischen indirecten Steuern auf die in das städtische Weichbild von außen eingehenden Verbrauchsgegenstände, welche Steuern der Arbeiter von sonst in dem Preise seiner Lebensbedürfnisse ebenfalls mit bezahlen mußte.

Noch mancher andere Vortheil ließe sich namhaft machen, den die mehr entwickelten Culturverhältnisse gerade dem Arbeiter gebracht haben; so die größere Leichtigkeit, welche theils die Presse, theils auch besondere Arbeitsnachweisungsanstalten ihm gewähren, um Arbeitsgelegenheiten zu finden, während früher die mangelhaften Communicationsmittel dem Arbeiter die Erkundung solcher Gelegenheiten, sowie den raschen Ortswechsel zu rechtzeitiger Benutzung bedeutend erschwerten; so ferner die Möglichkeit, aus einem Arbeitszweig in einen andern überzugehen, was ihm früher durch die zunftmäßige Absperrung der verschiedenen Arbeitszweige gegen einander versagt war; so der minder erschwerte Uebertritt in die Stellung eines selbstständigen Gewerbtreibenden, was sonst von einer Menge von Voraussetzungen und Bedingungen abhing, und so noch vieles Andere, was auszuführen hier zu weitläufig sein würde. Es ist nicht zulässig, daß in den letzten 50 bis 60 Jahren so viele unserer größten Industriellen, wie Krupp, Nestler, Borsig, Hartmann und Andere, aus einfachen Arbeitern hervorgegangen sind. Die freiere Gestaltung des Industriebetriebes macht es dem strebsamen und intelligenten Arbeiter möglich, auch ohne Vermögen von Haus aus sich emporzuschwingen – ein Beweis, daß tüchtige Arbeitskraft nicht, wie sozial-demokratische Agitatoren fälschlich behaupten, dem „Capital“ wehrlos gegenübersteht.

Fassen wir jetzt speciell den Hauptpunkt, nämlich die eigentlichen Erwerbs- oder Lohnverhältnisse der Arbeiter in’s Auge; denn darauf beruht doch am Ende deren ganze ökonomische Lage.

Ein Handarbeiter in Leipzig erhielt 1763 taxmäßig 4 gute Groschen oder 50 Pfennig den Tag. Soviel verdient heute ein Dienstmann in Leipzig ohne große Anstrengung in höchstens 1 ½ Stunde. Der Lohn eines einfachen Tagelöhners in einer Großstadt dürfte jetzt selten unter 2 Mark für den Tag betragen. Sogar auf dem Lande ist der Tagelohn durchschnittlich in Sachsen im Sommer 1 Mark 60 Pfennig, im Winter 1 Mark 20 Pfennig, in Württemberg und am Rhein 1 Mark 80 Pfennig und 1 Mark 30 Pfennig. Die Taxe für Maurer- und Zimmergesellen betrug 1763 in Leipzig bei zwölfstündiger Arbeit 90 Pfennig bis 1 Mark; jetzt beträgt der Lohn dieser Gehülfen 23 bis 25 Pfennig pro Stunde, das ist für 12 Stunden 2 ¾ Mark bis 3 Mark auf den Tag. Eine Hausmagd erhielt 18 Mark Lohn für’s Jahr; jetzt ist eine solche mit 100 Mark kaum zufrieden, eine gute Köchin kaum mit 150 bis 180 Mark, während damals eine „excellente“ Köchin für 30 Mark zu haben war. Ein Schirrmeister auf dem Lande wurde 1750 mit 30 Mark ausgelohnt; auf dem jüngsten Gesindemarkte zu Dresden (Januar 1879) wurden Schirrmeister für 240 bis 270 Mark gedungen.

Bei den Dienstboten ist diese Steigerung um so frappanter, als ja hier der vertheuerte Lebensunterhalt nicht dem Dienstboten, sondern der Herrschaft zur Last fällt. Anders verhält es sich allerdings bei solchen Arbeitern, die für sich selbst sorgen müssen. Hier müssen wir, um zu einer richtigen Vergleichung ihrer jetzigen mit ihrer sonstigen Lage zu gelangen, zuvor sehen, wie sich die Erhöhung des Lohnes zu den Preisen der Lebensbedürfnis verhält.

Nehmen wir zuerst das allgemeinste Nahrungsmittel, das Getreide! Im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts kostete ein sächsischer Scheffel Roggen durchschnittlich 6 bis 7 Mark, Jetzt kann man denselben im Durchschnitt etwa der letzten 10 Jahre wohl mit 10 bis 12 Mark berechnen. Nun veranschlagen Statistiker für eine Arbeiterfamilie von 5 Köpfen, die vorzugsweise von Brod und andern Getreideproducten (Mehl, Graupen, Nudeln etc.) lebt, im Jahre 15 Scheffel Getreide. Das machte nach damaligen Preisen etwa 90 Mark. Der Arbeiter, der damals 50 Pfennig im Tage verdiente, mußte somit für Brod, Mehl etc. 3/5 seines Lohnes verausgaben; der, welcher sich auf 1 Mark stand, 3/10. Der erste behielt etwa 60 Mark, der zweite 210 Mark für andere Ausgaben übrig. Jetzt, wo 15 Scheffel Getreide 180 Mark kosten, behält der Tagearbeiter 420 Mark, der Gehülfe an 570 bis 720 Mark übrig, die er auf andere Ausgaben, insbesondere auf bessere Nahrung (Fleisch, Butter, Eier etc.) verwenden kann. Dies ist, beiläufig gesagt, der Grund, weshalb diese letzteren Lebensmittel (Fleisch, Butter, Eier) eine stärkere Steigerung im Preise gegen früher erfahren haben (auf das Doppelte bis Zweiundeinhalbfache), eine Steigerung, welche mit der Steigerung der Löhne ungefähr gleichen Schritt hält.

Die Wohnung des Arbeiters mag heutzutage etwa um ebenso viel theurer sein, wie sein Lohn höher ist, vielleicht noch um etwas mehr, aber dafür ist sie auch gewiß ganz unvergleichlich besser, menschenwürdiger, gesünder als ehemals. Heizung und Beleuchtung sind wegen der billigeren Surrogate für Holz und Oel – Kohlen und Petroleum – wohl kaum im Verhältniß zum Lohne gestiegen. Dagegen ist die Kleidung und überhaupt Alles, was menschliche Arbeit hervorbringt, gegen früher entschieden viel billiger geworden. Daher kommt es, daß die arbeitenden Classen jetzt in großen Massen Stoffe verbrauchen, die sie früher gar nicht trugen, z. B. baumwollene, von denen noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts kaum 1 Elle auf den Kopf der Bevölkerung kam, heutzutage mehr als 26 Ellen.

Nehmen wir dazu noch die vielen trefflichen Einrichtungen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 322. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_322.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)