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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


9.

Sie blieb plötzlich wie angewurzelt stehen, und auch die anderen Anwesenden schwiegen aufhorchend. Draußen gellte wiederholt das Aufschreien eines Kindes, so jammernd, so schmerzvoll, daß sich selbst der Freiherr erschreckt erhob und, auf Felix gestützt, mühsam nach dem Fenster schwankte, das sein Sohn bereits geöffnet hatte.

Das Gewitter schien sich mit dem gewaltigen Donnerschlage vorhin für eine Zeit erschöpft zu haben; es fiel kein Regentropfen mehr, aber ein feuchter, kühler Odem füllte die vor den Fenstern hinlaufende Säulenhalle, und der Himmel breitete sich sternlos, in drohender, tiefer Schwärze über die Stadt hin. Die Gascandelaber vor dem Säulenhause beleuchteten voll das Parterre mit seinen springenden Wassern und seinen riesigen Blumenbouquets auf dem Rasenteppich; kein blüthenbeschwerter Zweig der Gebüsche bewegte sich; kein Menschenfuß beschritt den Kies, aber draußen, jenseits des Eisengitters standen Leute, und über das Gemurmel von Männerstimmen hinweg hörte man das hier und da von einem Aufweinen unterbrochene Schelten einer Frau – das Kind schrie nicht mehr.

Während die Herren und Lucile hinaushorchten, ging die Baronin an den Theetisch zurück und nahm ihren Platz wieder ein. Der Freiherr hatte vorhin beim Aufstehen, ohne es zu wissen, das Seidenpapier mit seinem Inhalte von der Tischkante gestoßen – es war unbemerkt und lautlos auf den Teppich gefallen. Die Baronin ging hart daran vorüber; sie sah es liegen, aber sie rührte keinen Finger, es aufzuheben – das war unter ihrer Würde. Nun hielt sie ihre Arbeit wieder zwischen den wächsernen Fingern; in regelmäßigem Tempo wurde der weiße Faden aus- und eingezogen, und die Augen unter den langen, Lidern hafteten unverwandt auf der Stickerei. Nur einmal irrten sie seitwärts auf den Teppich nieder – Minka schlüpfte, nach vorheriger Recognoscirung, geräuschlos aus ihrem Versteck, raffte das Papier auf, drückte es zärtlich an ihre Brust und verschwand wieder hinter dem Vorhang.

Die junge Frau zuckte mit keiner Wimper; nicht ein Zug ihres Gesichts veränderte sich. Sie senkte nur den Kopf etwas tiefer und stickte still weiter. Sie ahnte nicht, daß dort hinter dem Rücken der Herren ein Paar Mädchenaugen durch den Spalt der Gardine lauschten – Lucile lachte zum Ersticken in sich hinein; die Frau mit ihrem eifersüchtigen Haß gegen alle Malerei war zu amüsant, und nebenbei war es kein Unglück, wenn dem Mädchen aus dem „Tropenlande“ das gelbe Gesicht ein wenig zerkratzt wurde.

Der Lärm draußen verstummte; man sah, wie sich der Menschenhaufe zertheilte, wie die Leute allmählich aus einander gingen, und beruhigte sich in dem Gedanken, irgend ein kleiner Ausreißer sei von der verfolgenden Mutter erwischt worden und habe sich geweigert, mit heimzugehen. Baron Schilling schloß das Fenster, während die Anderen an den Tisch zurückkehrten.

Beim Niederlassen in den Armstuhl ließ der Freiherr seine Blicke suchend über den Tisch hinschweifen; er schob ungestüm das umherstehende Geschirr zurück und nahm tastend und schüttelnd seine hingeworfene Serviette auf. „Zum Kukuk, wo ist denn das Bild hingekommen?“ fragte er ärgerlich. „Hast Du es weggelegt, Clementine?“

„Ich habe gestickt,“ sagte sie mit ihrer leisen, hohen, eintönigen Stimme, schnitt gelassen den Faden ab und legte die Scheere vor sich auf den Tisch, ohne auch nur aufzusehen.

Baron Schilling trat hinzu; er hatte die Lampe genommen und beleuchtete ringsum den Teppich, und Felix, wie auch Lucile, die sich die Lippen fast wund biß, um nicht laut aufzulachen, halfen ihm suchen.... Da scholl ein mehrmaliges leises, aber intensives Knirschen und Knacken, als ob dürres Holz zerbrochen würde, von dem einen Fenster her – Baron Schilling stellte hastig die Lampe nieder und schlug die Gardinen aus einander; mit einem Griffe packte er die zappelnde und kläglich schreiende Minka, trug sie durch das Zimmer und warf sie zur Thür hinaus.

„Wirst Du mir nie den berechtigten Wunsch erfüllen, das boshafte Thier wegzugeben, Clementine?“ fragte er finster und grollend. „Es fügt uns und unseren Leuten durch seine Zerstörungswuth den bittersten Schaden zu.“

Die junge Frau warf den Kopf zurück; zwischen ihren strohblonden Brauen vertieften sich zwei Linien, und jetzt waren selbst die schmalem geschlossenen Lippen graubleich wie das ganze Gesicht. Schweigend drückte sie auf die Tischglocke. „Die Kammerjungfer soll Minka in mein Schlafzimmer bringen und ihr dort das Abendbrod reichen,“ befahl sie dem eintretenden Diener und nahm ihre Arbeit wieder auf, als sei nichts vorgefallen.

Der Freiherr stampfte ergrimmt mit dem Fuße auf, und wüthend an seinem Schnurrbarte zerrend, zerdrückte er sichtlich einen Fluch zwischen den Lippen, indeß sein Sohn nach dem Fensterbogen zurückging und die Splitter der Elfenbeinplatte zusammenlas.

„Es hat ein glücklicher Zufall dabei gewaltet,“ sagte er froh zu Felix, der ihm gefolgt war; „das Gesicht ist unversehrt. Nur ein Theil der Haarwellen ist weggebrochen, aber was schadet das? Ich halte die Seele hier, den Aufblick der Augen, der mir zu denken geben wird, so lange ich künstlerisch schaffe. Uebrigens lassen sich die Splitter wieder an einander fügen – die Risse wird man freilich sehen, aber um so eher darf ich mir es auch aneignen – es ist mein; ich gebe es nicht wieder aus der Hand.“ Er legte die einzelnen Stücke behutsam zwischen das weiche Papier und schob sie in die Brusttasche.

Lucile machte ein bitterböses Gesicht. „Mein Gott, so viel Lärm um den dreizehnjährigen Backfisch!“ grollte sie. „Das fängt gut an! Wenn die kleine Bucklige mit ihren schwarzen Zigeuneraugen schon im Bilde so schrecklich dominirt und regiert, wie mag’s da erst in Natura sein! Hab’ Acht, Felix, das giebt schon in der ersten Stunde Zank und Streit; denn ich lasse mich nicht unterdrücken, à tout prix nicht! O, sie mags’s probiren!“ Sie machte halb drollig, halb böse so allerliebst und graciös die Geberde des Augenauskratzens, daß der Freiherr in ein enthusiastisches „Famos!“ ausbrach und Felix die agirenden rosigen, kleinen Hände erfing und sie in trunkener Zärtlichkeit gegen seine Brust zog.

„Ich werde ja bei Dir sein, Lucile,“ sagte er innig.

„Und Freund Lucian wird dem reizenden Puck da so wenig widerstehen, wie sein Sohn,“ lachte der Freiherr, und seine feurigen Augen verschlangen förmlich die geschmeidige Mädchengestalt in den Armen des jungen Mannes. „Und nun, wann wird marschirt, Felix?“

„Am liebsten sofort!“

„Gut – dann tapfer hinaus, gleich morgen Mittag! Die nöthigen Papiere besorgen wir früh,“ bestimmte der alte Herr. „Die Zofe, die noch lamentirend im Hôtel sitzt, geht selbstverständlich mit.“

„Und willst Du Deutschland wirklich auf diese Weise verlassen, Felix?“ fragte Baron Schilling ernst. „Ohne die Mutter Deiner Braut zu –“

„Um Gotteswillen, cher Baron, was fällt Ihnen ein?“ unterbrach ihn Lucile ganz entsetzt. „Sie kennen die Mama nicht. Wenn wir uns in Wien blicken lassen, so sind wir verloren, geschiedene Leute für immer, sag’ ich Ihnen! Mama schlägt sofort Lärm; sie bringt die ganze Polizei auf die Beine und ist im Stande, Felix hinter Schloß und Riegel setzen zu lassen. Sie giebt ihre Einwilligung nie – lieber steckt sie mich in’s Kloster – puh! Gräßlich! – Felix, ich bitte Dich fußfällig, lasse Dich nicht irre machen! Gelt, wir gehen direct auf’s Schiff?“

„Ohne Aufenthalt,“ bestätigte er fest und entschlossen. „Magst Du mich verurtheilen, Arnold! Es thut mir weh, aber ich muß es ertragen! Mein Glück lasse ich mir nicht entschlüpfen. Ich werde von drüben aus Alles aufbieten, um zu versöhnen und gutzumachen – darauf verlasse Dich!“ Er wandte sich unmuthig ab, denn der mißbilligende Ausdruck in den ernsten Augen des Freundes milderte sich nicht. „Du kannst mich freilich nicht verstehen, Du –“ er wollte sagen „Du liebst nicht“ – aber er verschluckte die Worte mit einem Blick nach der jungen Frau, die sich eben ziemlich geräuschvoll erhob, indem sie ihren Stuhl zurückstieß.

Sie hatte während der letzten Erörterungen sehr erstaunt und indignirt dreingeschauet. Nun ging sie nach einer Art Ruhebank, die, mit seidenen Kissen belegt, dicht an der Wand stand. Dort ließ sie sich nieder und lehnte den Kopf an das Schnitzwerk der Wandfläche. Dabei löste sich eine der lockergesteckten Flechten am Hinterkopf und fiel ihr über die Brust – selbst das verschönte sie nicht. Einem blühenden Gesicht hätte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_330.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)