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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Spatzenvolk kam von der Zinnenkrone des Oberbaues und rückte auf dem Geländersims attakirend gegen den Frühstückstisch vor, und jetzt schlüpfte auch Minka heraus, so verdächtig scheu und hastig, als sei sie durch eine offengelassene Thür desertirt.

Minka zerpflückte nach wie vor mit Passion jeden Brief, jede Photographie, alles Zerreißbare, was sie erwischen konnte, in Atome; sie zerbrach die Fächer und Sonnenschirme ihrer Herrin, bearbeitete leidenschaftlich mit ihren Nägeln die Rockschöße der Bedienten und verschleppte Schmuckstücke und Nippes in die unzugänglichsten Ecken. Aber mit demselben schweigenden, lächelnden Gleichmuth, wie Baron Schilling vor seinem emporsteigenden neuen Atelier, hatte die Frau Baronin allzeit schützend vor ihrer Minka gestanden. Sie kaufte sich mit unzerstörbarer Ruhe immer wieder neue Fächer und Schirme, bezahlte den klagenden Domestiken ohne eine Miene zu verziehen, den erlittenen Schaden und stieg selbst mit bis auf den Dachboden, wenn es galt, die versteckten Gegenstände zusammenzusuchen.

Das boshafte Thier war noch genau so behende und geschmeidig, wie vor acht Jahren. Es verjagte zunächst mit einem grotesken Sprung auf den Geländersims die aufschreienden Spatzen, stopfte sich zum Aerger der Aras die Backentaschen voll Kuchen, und schlüpfte, immer auf der Flucht, nach dem entgegensetzten Ende der Terrasse. Dort erhoben sich die Wipfel der dicht vorüberlaufenden Platanenallee hoch über der Balustrade, und ihre Laubmassen quollen wie eine grüne Fluth auf die Plattform herein; der Affe sprang auf das Geländer und begrub versinkend den kleinen, dunklen Leib in dem wohlig kühlen Geäst.

Gleich darauf kam die Baronin auf die Terrasse. Sie war nicht allein; eine Dame, noch jung, von imposanter, kräftiger Gestalt, mit brünettem Gesicht unter dicken, scharf aus der Stirn gestrichenen, schwarzen Haaren, folgte ihr auf dem Fuße. Sie hing einen weichen Plaid über einen Korbstuhl in der geschützten Ecke und breitete ein dickes, zottiges Fell auf die Steinfließen; das geschah fürsorglich geschäftig, aber nicht mit der Beflissenheit einer Kammerjungfer, sondern würdevoll und freundlich, in freiwilliger Pflege, wie sie eben eine Jugendfreundin der anderen angedeihen läßt – denn Jugendfreundinnen waren sie, die Baronin Schilling und Fräulein Adelheid von Riedt. Sie waren im Klosterpensionat zwei Unzertrennliche und später treue Correspondentinnen gewesen; es war demnach begreiflich, daß die Frau Baronin im Jahre 1866, zu derselben Stunde, wo ihr Gemahl seine Abreise nach dem Kriegsschauplatze unwiderruflich beschlossen, „die Langentbehrte“ aufgefordert hatte, zu ihr zu kommen, „weil sie nicht allein bleiben wolle“. Seitdem kam Adelheid öfter und blieb monatelang, um die kränkliche Freundin zu pflegen – sie konnte das, ohne andere Pflichten zu verletzen, denn sie war Stiftsdame in B. und stand verwaist, fast allein in der Welt.

„Ich bitte Dich, Adelheid, bringe die gefräßigen Schreier zur Ruhe!“ sagte die Baronin verdrießlich und zeigte nach den kreischenden Aras. „Arnold hat eine wahre Passion, mir Unvernünftiges und Unausstehliches zu schenken, und ich muß es dann aus Höflichkeitsrücksichten zu meiner Qual um mich dulden.“ Sie seufzte tief auf.

Ihre Stimme hatte eine tiefere Lage angenommen als früher; sie war gleichsam in Bitterkeit gesättigt; der Teint der Baronin war grauer als je, und unter den Augen, wie an den Schläfen hin liefen zahllose feine Runzelandeutungen, Spuren der rastlosen, inneren Arbeit verheimlichter Leidenschaft und eines allzu frühzeitigen Alters.

Ein weißer, mit breiten Stickereien und blauseidenen Schleifen garnirter Schlafrock fiel weitfaltig, in glänzender Frische und Eleganz an der hageren Gestalt nieder, und eine Brüsseler Barbe mit dicker blauer Bandcocarde lag auf dem lose gesteckten blonden Haar und vervollständigte die provisorische Morgentoilette, die seltsam abstach von dem schwarzen Seidenanzuge der Stiftsdame. Man sah, diese Dame hatte bereits Toilette gemacht für den ganzen Tag; an dem knappsitzenden Kleide wurde sicher keine Schleife verändert, aus dem spiegelnden Scheitel und dem festgeflochtenen Haarknoten am Hinterkopfe war Nachts keine Nadel gezogen – dieser ernsten, dunkeläugigen Erscheinung lagen Sichgehenlassen und Bequemlichkeit offenbar fern.

Während sie einige Biscuits für die Aras zerpflückte, trat ein junges Mädchen aus der Glasthür und brachte auf einer Platte einige verdeckte Schüsseln mit warmen Speisen und heißes Wasser im Theekessel.

Die Augen der Baronin verfinsterten sich. „Wo steckt die Birkner? Wie kommt es, daß Sie das Frühstück besorgen, Johanna?“ fragte sie verdrossen.

„Mamsell Birkner läßt sich für einige Stunden bei der gnädigen Frau entschuldigen – ihr schlimmes Kopfweh hat sich eingestellt,“ versetzte das junge Mädchen ruhig. Ihre ernsten Augen unter den dunklen, das jugendliche Gesicht stark verdüsternden Brauen senkten sich nicht vor dem kalten Blicke der Dame, und weder ihr Gesichtsausdruck noch irgend ein Farbenwechsel zeugten von verletzter Empfindlichkeit.

Sie erfüllte pünktlich ihre Obliegenheiten am gedeckten Tisch.

„Ich sehe nur zwei Couverts!“ schalt die Baronin.

„Der Herr Baron hat im Atelier gefrühstückt und ist schon vor zwei Stunden ausgeritten,“ lautete die Antwort.

Die Baronin biß sich auf die Lippen. Sie sank in den Lehnstuhl; den Ellenbogen auf den Geländersims stützend, und schweigend weggewendet, schob sie die Rechte unter das Kinn und blickte ziellos hinaus in’s Weite.

In diesem Augenblicke erhob sich ein klägliches Geschrei drunten im Vorgarten. Minka rannte wie besessen um den großen Rasenplatz und rieb sich unter fortwährendem Jammern den Rücken, und drüben auf der weinumsponnenen Klostermauer hüpfte und sprang ebenso toll ein zweites koboldartiges Wesen, dem das starrende Haar tief in die Stirn hing und dessen flinke, dürre Beine wie Holzstäbchen aus den kurzen weiten Sammethosen ragten. . . . Mosje Veit balancirte in der einen kleinen Faust ein Blasrohr, und mit der andern hielt er sich die Seite vor Lachen – er hätte sich am liebsten überschlagen mögen vor Vergnügen über den Effect seiner Thonkugel.

Die Domestiken kamen auf den Lärm hin aus dem Säulenhause gelaufen und nahmen, nach der Mauer hinauf scheltend, die völlig zerknirschte und gebeugte Minka in ihre Mitte. Aus dem Giebelfenster des Klostergutes bog sich die Majorin – von der Terrasse aus sah man deutlich ihr alterndes, aber immer noch schönes Profil. Ein starkes Gefühl des Aergers mochte in ihr aufwallen, denn sie drohte dem boshaften Burschen mit der gehobenen Hand und ertheilte ihm einen derben Verweis.

Da erschien auch der Rath Wolfram über der Mauer; er stieg auf der Leiter empor, die Veit im Klosterhofe angelegt hatte. „Bemühe Dich nicht, Therese! Ich glaube, das ist meine Sache,“ rief er seiner Schwester zu. „Uebrigens sehe ich nicht ein, weshalb Du Dich ereiferst. Wer solch gräuliches Geziefer um sich leiden mag, der soll’s thun, aber es gehört sich, daß er’s zwischen seinen vier Pfählen behält und nicht zum Skandal und Schreckniß Anderer frei herumlaufen läßt. Ich strafe meinen Sohn ganz gewiß nicht für die wohlverdiente Lection.“

Der Kopf der Majorin verschwand, und der Rath umschlang seinen zappelnden, langbeinigen Sprößling und trug ihn die Leiter hinab.

Man hatte jedes Wort der sonoren, impertinent geschärften Stimme des Raths klar und deutlich drüben auf der Terrasse gehört. „Der Unverschämte!“ klagte die Baronin ganz erschrocken und betreten. „Und ich kann Arnold nicht einmal um Genugthuung bitten, weil es sich um die arme Minka handelt!“

Sie zog sich tief hinter die Magnolie zurück.

„Das abscheuliche Thier,“ klagte sie und lehnte den Kopf alterirt an die Wand. „Minka ist wieder einmal desertirt – zum Gaudium der Domestiken – o, ich kenne diese kleinen, stillen Bosheiten sehr gut. Man hat, meinem stricten Befehl entgegen, die äußere Thür meiner Appartements offen gelassen,“ ein Seitenblick voll bitteren Grolles suchte die servirende Dienerin, die eben mit dem leeren Tablet die Terrasse verlassen wollte. „Ich vermuthe, Sie sind es gewesen, Johanne.“

Das Mädchen wandte sich auf der Schwelle um, und jetzt stieg ein lebhaftes Roth in ihr Gesicht.

„Dagegen muß ich mich entschieden verwahren, gnädige Frau,“ sagte sie bescheiden„ aber fest, „eine solche Pflichtwidrigkeit lasse ich mir ganz gewiß nicht zu Schulden kommen.“

Sie blieb noch einen Augenblick in Erwartung eines Befehles oder einer Bemerkung höflich auf der Schwelle stehen; dann verschwand sie geräuschlos im anstoßenden Salon.

„Mit diesem ‚Hannchen’ hat mir Arnold auch eine Pönitenz

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_347.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)