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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


jetzt meine Papiere ausliefert! In einem Jahr bin ich mündig; da würde er ohnehin die Verwaltung meines Vermögens Dir zu übertragen haben. Und nicht wahr, es wird ausreichen, um Dir das Schwerste zu ersparen –“

„Clotilde!“ rief er aus und drückte sie an die Brust „Clotilde! Du mein edles, hochherziges Weib – viel zu edel für mich Unwürdigen! Doch es wird mißlingen,“ setzte er zögernd hinzu. „Dein Wunsch, mir auf diese Weise zu helfen, wird bei dem alten Manne wenig Anklang finden.“

„O, gewiß, gewiß; zweifle nicht! Sein biederes Herz wird ihm schon sagen, daß mein Eigenthum auch das Deine ist; wie Dein Name der meine.“

„Doch es war seine Bedingung, als wir uns vermählten, daß zwischen uns keine Gütergemeinschaft bestehen solle –“

„Ja, das war damals – und sehr gegen meinen Willen – als er durch Leonhard’s Einfluß gegen Dich eingenommen war. Aber jetzt, wo er Dich so lieb gewonnen – und wo Leonhard fern ist –“

Rudolph schüttelte den Kopf und ging ruhelos auf und ab. Eine klagende Kinderstimme unterbrach diese bange Stille.

„Rudolph, wie gern ersparte ich Dir diesen schweren Schritt und ginge statt Deiner zum Oheim! Doch Du hörst, wie das arme Käthchen nach mir verlangt; sie ist krank, so sehr krank, und des Oheims Villa so weit vor der Stadt; ich habe nicht den Muth, das Kind auf drei bis vier Stunden zu verlassen.“

„Unmöglich,“ sagte er. „Es hülfe Dir auch wenig.“

„Aber Du darfst es nicht unversucht lassen. Du mußt zu ihm hinaus! Eine kurze schriftliche Bitte von mir wird unsern Wünschen Erfüllung bringen. … Bestelle nur inzwischen Deinen Wagen, und eile, eile! Du weißt, in später Abendstunde ist der alte Mann nicht mehr zu sprechen.“

Sie schellte, und während Rudolph – dem sie auf diese Weise keine Zeit zum Zaudern ließ – dem eintretenden Diener befahl, daß er den Wagen vorfahren lasse, eilte die entschlossene junge Frau an den Schreibtisch.

Nach wenigen Augenblicken falteten ihre feinen, weißen Finger ein zierliches Briefchen. Rudolph nahm unterdessen aus seinem Secretär Papiere und Briefe, die er zu sich steckte; dann trat er reisefertig wieder in ihr Zimmer.

„Laß Dich nur nicht einschüchtern,“ sagte sie bittend, „wenn der gute Alte im Anfang etwas unbeweglich und wortkarg dreinschaut! Ich kenne ihn so gut. Er wird eine Weile brauchen um sich in Etwas hinein zu finden, was er – verzeih’ mir, wenn ich es sage! – was er von seinem Standpunkt aus recht sehr mißbilligen wird. … Rede nur recht vom Herzen heraus ihm zu; und, nicht wahr? Du kannst ihm ja betheuern, daß diese traurige Lehre Dir für immer so gewagte Unternehmungen verleidet hat? O mein lieber Mann! wir werden arbeiten und schaffen, und noch viel glücklicher sein, als bisher!“

Er küßte sie auf die Stirn und richtete sich auf. Dann riß er sich los. Noch ein ermuthigender Blick, ein Händedruck, und sie sah ihren Gatten in seinem Wagen davonrollen.

Jetzt kam ihr das Gefühl ihres ganzen Elends. Ein schreckliches, nie gekanntes Empfinden übermannte sie. Es war ihr, als wälze sich ein ungeheurer Stein auf ihre Brust, und eine Stimme flüsterte ihr zu:

„Er ist fort; Du siehst ihn nicht wieder!“

Einen Augenblick noch starrte sie dem Wagen nach, die Hand auf das Herz gedrückt; dann eilte sie zu ihrem kranken Kinde.




3.

Rudolph kehrte an diesem Abend nicht zurück. Er schrieb ihr nur wenige Worte, die ihr eine kleine Hoffnung gaben.

Der neue Tag brach an; langsam schlich er vorüber – Rudolph kam nicht zurück. Wieder eine Nacht und dann wieder ein Tag – Rudolph kam nicht. Zwei Nächte und zwei Tage saß das junge Weib in doppelter Sorge an dem Krankenlager des Kindes. Endlich brachte man ihr einen Brief von seiner Hand. Auch das letzte mißlungen; keine Hülfe … Ein Lebewohl auf lange, lange Zeit!

Auf wie lange? – O Gott!

Clotilde drückte den Brief in bitterm Schmerz an ihre Brust; dann blickte sie mit thränenleeren Augen wieder angstvoll auf das Kind, das sterbend in seinen Kissen lag. Mit einem letzten tiefen Seufzer, einem letzten Blick aus den geliebten Augen floh auch dieses junge Leben aus ihren Armen.

Sie war allein. – Die Nacht brach herein, die öde, schaurige Nacht. –

Als die Morgensonne wieder über die Erde schien, über Gute und Böse, über Freud’ und Leid, drang auch ein Strahl in ein verhängtes, stilles Trauergemach.

Clotilde lag auf den Knieen vor einem weißen Bettchen und streichelte die weiße, kalte Hand ihres schlafenden Engels. Derselbe Sonnenstrahl, der ihren Scheitel so warm berührte, glitt auch über die kleine Hand, aber kalt blieb, was im Tode erstarrt war.

„O Kind, o Kind, wie bist Du still und stumm!“ flüsterte die Knieende. „Lässest mich so allein in meiner Qual!“ Unverwandt blickte sie auf das marmorweiße Gesichtchen, das so friedlich dalag. „Ja, schlafe nur, schlafe nur; ich will Dir Deine schmerzlose Ruhe nicht mißgönnen. O, das Leben ist schwer.“ –

Bei dem leisen Eintreten ihrer alten, treuen Wärterin erhob sich Clotilde aus ihrer Zerknirschung.

„Hast Du etwas für mich, Hanna? Einen Brief?“ rief sie der Eintretenden leise entgegen.

„Nein, gnädige Frau,“ sagte die Alte und schüttelte traurig den Kopf, während sie ihre leeren Hände zeigte.

„Ich Thörin! Ich habe auch noch keinen zu erwarten,“ seufzte Clotilde und strich mit der Hand über ihre bleiche Stirn. „Es müssen erst noch viele, viele Wochen vergehen …“

„Herr Leonhard ist da und wünscht die gnädige Frau zu sprechen,“ sagte die Alte.

„Ach, Hanna, ich wollte, Du hättest es mir ersparen können ihn zu sehen –“

„Ich habe es versucht, aber ganz vergebens. Er befahl mir kurz, ihn zu melden. Wollen gnädige Frau ihm vielleicht sagen lassen –“

„Nein, ich gehe. Es muß auch das überwunden werden.“

Sie blickte noch einmal mit gefalteten Händen auf ihr stilles Kind, dann begab sie sich in’s Empfangszimmer. Ernst und bleich, doch in edler Fassung, begrüßte sie ihren Vetter, der mit gemessenen Schritten ihr entgegen ging. Sie reichte ihm stumm die Hand, die er langsam an die schmalen Lippen drückte, während seine grauen Augen ihre Züge erforschten. Seine Enttäuschung war unverkennbar. Er hatte eine Trostlose, Gebrochene zu finden geglaubt. Die feste Haltung der jungen Frau verwirrte ihn einen Augenblick.

„Wir sehen uns unter traurigen Verhältnissen wieder,“ brachte er endlich mit seiner etwas scharfen Stimme hervor, in die er herzliche Theilnahme zu legen versuchte. „Ich bin zu keiner guten Stunde heimgekehrt.“

Sie blickte vor sich hin und nickte wie zustimmend mit dem Kopfe, aber sie erwiderte kein Wort.

„Ich verstehe Deine Gedanken,“ fuhr er fort, als sie noch immer schwieg. „Es wäre Dir lieber gewesen, wenn ich gerade jetzt fern geblieben wäre.“

Sie sah ihm voll in’s Gesicht und sagte mit edler Einfachheit: „Ich glaube wohl, daß mir dann viele schwere Tage, ach, vielleicht Jahre erspart geblieben wären!“

„Wenigstens ist es unzweifelhaft,“ versetzte er mit Bitterkeit, „daß Rudolph ohne mein energisches Dazwischentreten von dem schwachen, alten Manne selbst das Unglaublichste erreicht hätte.“

„Und warum denn, Leonhard, mußtest Du Dich meinem Wunsche so herbe und schonungslos entgegenstellen?“

„Warum? Weil mir Dein Wohl höher galt, als alle anderen Rücksichten.“

„Mein Wohl?“ fragte sie auf’s Höchste befremdet. „Du wußtest doch sicher, daß mir nur Kummer und Schmerz aus Deiner lieblosen Vermittlung erwachsen würden?“

Ihre Stimme bebte, indem sie das sprach.

„O Leonhard,“ fuhr sie fort, als er ihre Anklage mit kaltem Schweigen hinnahm. „Dein alter, unerklärlicher Haß gegen Rudolph ist Dir über alle diese Jahre hinaus treu geblieben, und der hat Dich geleitet.“

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_371.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)