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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


Blondkopf des Knaben verschlingend, drückte sie ihn an sich in leidenschaftlicher Zärtlichkeit, aber auch voll des ausgesprochensten beleidigten Hochmuthes. „Ich kenne die Vergangenheit meines Vaters,“ fuhr sie nach einem tiefen Athemzuge mit tonlos fallender Stimme fort, „und doch ist mir jetzt, als sähe ich eine verleugnete dunkle Stelle seines Lebens, weil er sich aus dem obscuren Winkel die Vorgängerin meiner stolzen Mutter geholt hat.“

Lucile hatte sich anfänglich mit lächelndem Behagen wieder zurückgelehnt und ließ die Silberquaste des Kissens, auf welches sie den Arm stützte, durch die Finger laufen. Ihr pikantes Gesichtchen mit den boshaften Augen strahlte förmlich – „Dame Mercedes“ blamirte sich ja gleich in der ersten Stunde gründlich mit ihrem spanischen Dünkel vor dem deutschen Edelmann. Schon jetzt mußte es ihm klar werden, was man unter diesem Zuchtmeister zu leiden hatte. Aber sie fand plötzlich, daß er gar nicht mehr der nette Baron Schilling sei, dem man einst gut sein mußte wie einem wackeren, verträglichen Cameraden. Sie fand ihn impertinent in seiner Haltung, impertinent in seinem Wesen – was brauchte er denn so andächtig auf die erbitterte Philippika der gelben Spanierin gegen Deutschland zu lauschen, als sei sie ein Evangelium? Und sie, die Hauptperson, Lucile Fournier, Lucian’s Wittwe, die er beschützen sollte als das hinterlassene Kleinod des Freundes, sie ließ er unbeachtet in ihrem Sophawinkel sitzen, wie die hölzerne Ankleidepuppe in seinem Atelier – der Unmensch!

Die Silberquaste in ihrer Hand schwirrte an der langen Schnur wie ein toller Kreisel in der Luft, und der kleine Fuß trommelte in beschleunigtem Tempo gegen das Ruhebett. „Armseligkeit, Gemeinheit, obscurer Winkel!“ wiederholte sie mit Pathos; dann lachte sie laut auf. „Das Klostergut hat sich ja ganz nett präsentirt – ich bin gerächt, furchtbar gerächt! – Ach, wie muß ich an den Abend denken, wo wir – der arme Felix und ich – aus der schauderhaften, dunklen Höhle flüchteten! Dann kamen wir hierher wie ein paar verirrter Kinder, und da war lauter Licht und Glanz. Ihre Frau, cher Baron, saß dort auf dem Lehnstuhle und stickte – sie stickt wohl immer noch? – und – ach, da fällt mir ein: existirt denn die kleine Bestie, die Minka, noch, die eine so besondere Liebhaberei für Miniaturportraits hatte?“

Jetzt wandte er ihr mit einer jähen Bewegung das Gesicht zu.

„Aber ich bitte Sie, wollen Sie mich denn mit Ihrem Blicke aufspießen?“ fuhr sie mit einer drolligen Entsetzensgeberde zurück. „Mein Gott, was hab’ ich denn nun wieder verbrochen? – Es scheint, man wird hier stumm sein müssen wie ein Karthäuser, wenn es schon Sünde ist, nach dem Affen Ihrer Frau zu fragen. Sagen Sie mir, weshalb alteriren Sie sich denn eigentlich, cher Baron? Mercedes’ wegen? Da können Sie ganz ruhig sein – ich habe ihr die amüsante Geschichte längst erzählt. Sie nimmt zwar stets eine gelangweilte Miene an, wenn man ihr vorplaudert – wissen Sie, so eine Art Grandenmiene, die furchtbar imponirt – aber die Geschichte mit der Elfenbeinplatte hat sie doch ohne Gnade zweimal hören müssen.... Ah bah – Sie werden doch nicht dafür büßen wollen, daß Ihre Frau damals Minka’s Amüsement in der Fensterecke stillschweigend begünstigt hat, weil sie das Bild in Ihrem Besitz nicht dulden wollte?“

Sie hatte Recht, wenn sie meinte, der Baron alterire sich – bei ihren letzten Worten wurde er ganz blaß. „Ihr lebhaftes Naturell schafft sich einen weiten Spielraum bezüglich der Auffassung, Frau Lucian,“ sagte er gereizt.

„Wie, Sie wollen doch nicht sagen, das Alles sei nicht wahr?“ fuhr sie auf und stand mit einem Rucke auf ihren beiden kleinen Füßen. „Gehen Sie doch!“ setzte sie erbittert hinzu. „Haben Sie nicht selbst die Splitter aufgelesen? Und wollten Sie nicht das Elfenbein wieder zusammenleimen für den alten Freiherrn, oder für“ – sie zuckte die Achseln – „nun meinetwegen – was weiß ich!“

„Für mich selbst,“ fiel er ruhig ein.

Sie lachte gezwungen auf. „Ach ja, ich erinnere mich – und es existirt wirklich noch?“

„Ja.“

Bei dieser lakonisch gegebenen Antwort trat Donna Mercedes rasch näher. Die boshafte Schilderungsweise der kleinen Frau hatte ihr im stürmischen Wechsel Glut und Blässe über das Gesicht gejagt. Mit einem kalten Lächeln, aber stolz, trat sie auf den Baron zu.

„Ich darf mir wohl gelegentlich das Portrait zurückerbitten,“ sagte sie mit gedämpfter Stimme.

Er griff in die Brusttasche und überreichte ihr schweigend ein kleines, schmuckloses Etui. Fast sah es aus, als weiche sie zurück vor dieser raschen, kühlen Art der Erfüllung. Sie schlug die Augen bestürzt, aber auch pikirt zu ihm auf, und ein feiner Zug von Caprice flog um ihren kleinen Mund, während sie das Etui nachlässig in die Tasche gleiten ließ.

In diesem Augenblicke trat der Bediente mit einem vollbesetzten Kaffeebrete in den Salon. Mamsell Birkner kam auch nach – sie trug ein Körbchen, das mit Beerenobst gefüllt war. Zugleich ließ sich draußen in der Flurhalle die mächtige Stimme eines Hundes hören.

„Pirat ist endlich da, Tante,“ rief der kleine José jubelnd und rannte hinaus in den Corridor. Gleich darauf kam er wieder herein – die Arme um die breite Brust der riesenhaften Dogge geschlungen, ließ er sich von dem Thier förmlich in das Zimmer schleifen. Hinter dieser Gruppe trat ein großer, breitschulteriger Neger auf die Schwelle; er verbeugte sich tief vor Donna Mercedes und entschuldigte sein verspätetes Nachkommen vom Bahnhof mit der Umständlichkeit, welche die Bahnbeamten wegen des Hundes und einiger zurückgebliebener große Gepäckstücke gemacht hätten. José war plötzlich wie umgewandelt. Nun Pirat’s Stimme in dem fremden Hause laut geworden und seine Riesengestalt in plumper Wiedersehensfreude genau so zuversichtlich durch den Salon trabte, wie im Familienzimmer weit drüben über dem großen Wasser, nun fühlte er sich auch heimisch.

„Ach, ich hatte schreckliche Angst um Pirat!“ sagte er sichtlich erleichterten Herzens zum Baron, der mit der Rechten schmeichelnd über den Kopf des schönen Thieres strich. „Er heulte so furchtbar im Hundewagen, und da bellten alle anderen Hunde auch wie wüthend; ich dachte, sie würden sich alle todtbeißen. Pirat ist sehr wild, mußt Du wissen; Jak sagt“ – er zeigte nach dem Farbigen, der Mercedes eben einen mitgebrachten kleinen Handkoffer übergab – „er bekäme zu viel Fleisch, immer eine ganze Schüssel voll. Wird er das hier auch bekommen, Onkel? Und wo ist denn sein Haus? Bei Tante Mercedes war sein Haus so groß, daß ich mich auch mit hineinsetzen konnte.“

Baron Schilling lachte. „Sorgen Sie dafür, daß drüben aufgeschlossen und frisches Stroh eingestreut wird!“ befahl er dem Bedienten, der bei Erwähnung der vollen Fleischschüssel höhnisch unter den gesenkten Lidern hervor nach dem Hunde geschielt und schon einige Mal mit entschiedener Indignation seine Beine in Sicherheit zu bringen gesucht hatte, wenn das Thier ihm zu nahe gekommen war.

„Zu Befehl!“ sagte er unterwürfig. „Aber verzeihen der gnädige Herr – es ist nur von wegen der gnädige Frau Baronin – der kleine Stall ist zu nahe beim Hause; die Leda, die der gnädige Herr vom Herrn Grafen Rainer bekommen hatten, bellte nicht halb so laut wie der Hund da, und mußte doch fort, weil die gnädige Frau den Spectakel nicht vertragen konnte.“

„O, muß Pirat auch fort, Onkel?“ rief José in athemlosem Schrecken.

„Ei was denkst Du, mein Junge?! Dein Spielcamerad bleibt im Schillingshof so gut wie Du selbst. – Komm! Wir wollen ihm drüben bei mir ein behagliches Absteigequartier zurecht machen.“

Er nahm das Kind bei der Hand, winkte dem Neger, ihm zu folgen, und verabschiedete sich mit einer Verbeugung von den Damen, während der Hund mit einem betäubenden Freudengebell voraussprang.


(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 380. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_380.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)