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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

wird. Er ist ein „aparter“ Dichter und hat eine originelle Physiognomie. Die blaue Blume der Romantik trägt er im Knopfloch, aber wenn ihr Duft auch seine Phantasie anregt, so umnebelt er doch nicht seinen Geist; er entlehnt der Romantik das Colorit, aber nicht die Gedankengänge; er geht gern in der „mondbeglänzten Zaubernacht“ spazieren, aber seine Ritter sind Ritter des Geistes. Gleichwohl besteht seine Eigenthümlichkeit in dieser Vorliebe für die romantische Darstellungsweise bei einem Gedankeninhalt, welcher der Neuzeit angehört; etwas Phantastisches, Verschwommenes oder traumhaft Verworrenes zieht sich durch seine Dichtungen; bisweilen sind sie gespenstig, wie die Erzählungen von Amadeus Hoffmann, oder grotesk schauerlich, wie diejenigen von Clemens Brentano, oder märchenhaft und verträumt, wie die von Achim von Arnim, aber aus diesem Phantasiegespinst flattert ein Falter hervor, der kein Nacht- und Dämmerungsfalter, sondern ein Tagfalter ist und seine Flügel im geistigen Sonnenlicht unseres Jahrhunderts regt.

Wilhelm Jensen hat viel geschaffen; eine reiche Phantasie ist immer schaffensfreudig. Sie fragen mich, verehrte Freundin, welche seiner Dichtungen Sie zuerst lesen sollen?

Sein Hauptwerk bleibt immer die große Revolutionssymphonie: „Nirwana“; hier finden Sie die bedeutendsten Leitmotive des Gedankens, hier die glänzendste Instrumentation. Auch tritt die Eigenart des Dichters hier am meisten hervor. Denken Sie sich ein Gemälde der Schreckensscenen der französischen Revolution, aber getaucht in das traumhaft visionäre Licht der romantischen Dichtung, eine Welt blutiger Gräuel, die sich vor uns entrollt, aber darin aufleuchtend die edle Begeisterung der Menschheitsapostel, bis sie der hochgehende Wogenschlag der Massenbewegung begräbt, und vor allem das Bild schöner Weiblichkeit, welches mit idealer Hoheit mitten in einer Bewegung steht, der sie volle Sympathie entgegenbringt, alles aber beleuchtet wie vom Dämmer einer Mondnacht, durch welche im Ost traumhaft der rothe Schein des Morgens aufzuckt – das ist Jensen’s „Nirwana“.

Die Heldin Diana, ein französisches Edelfräulein, erinnert an George Sand’s „Lelia“, und auch eine Pulcheria fehlt in dem Roman nicht, doch im Ganzen treten die Herzensgeschicke zurück hinter der großen Volksbewegung. Nur hin und wieder führt uns der Dichter nach Paris und läßt ein Streiflicht fallen auf die weltbewegenden Ereignisse, deren Echo das Gebirgsthal der obern Loire, den Schauplatz der Haupthandlung, erschüttert. Hier verleben wir den raschen Wechsel der Zeiten: am Anfang herrscht noch die Blüthe der Rococozeit in dem herrschaftlichen Schloß und Park. Diese Bilder sind meisterhaft ausgeführt; die Stimmung der leichtlebigen, frivolen, mit tiefen Gedanken spielenden Zeit und ihrer Lebensgewohnheiten ist vorzüglich getroffen; wir halten das erste Buch der „Nirwana“ für das Beste, was Jensen geschaffen. Schon gährt es in den Tiefen; im Keller des Pfarrhauses wachen die Propheten der Zukunft, der Pfarrer Guéraud, einer jener Alten vom Berge, wie sie Zacharias Werner zu schildern liebt, verkündet hier das Evangelium der Zukunft, der Freiheit, während er auf seiner Kanzel die Lehren des blindesten Gehorsams vorträgt. Die Heldin, Diana von Hautefort, ist seine Schülerin, doch als sie, in Gemeinschaft mit ihrem Bruder, ihre Ideale in’s Leben führen will, dem Volke, das von den Banden der Unterthänigkeit befreit ist, ihre menschenfreundlichste Fürsorge zuwendet, da tritt der furchtbare Rückschlag ein; nur die Rohheit der Menge wird entfesselt; sie wendet sich gegen ihre Wohlthäter, aufgehetzt von abtrünnigen Priestern und verkommenen Adligen. Das Schloß von Hautefort wird gestürmt und in Brand gesteckt; in Le Puy, der Hauptstadt des Velay, herrscht der Schrecken; die Hefe des Volkes gewinnt die Oberhand, Carrier’s Noyaden finden ihr Widerspiel an der obern Loire, Diana und die andern Hauptgestalten des Romans einen gewaltsamen Tod: grelle Bilder von intensiver Farbengluth, wie von Makart’s Pinsel gemalt.

Jensen hat eine gewisse Aehnlichkeit mit Jean Paul: die eigentlich stützenden Motive, die Tragpfeiler der Handlung, sind so überkleidet mit phantastischen Arabesken, daß die Architektur des Ganzen schwer zu überschauen ist. Darum behält auch die Heldin, deren innere Entwickelung nirgends in durchsichtigem Zusammenhang uns vorgeführt wird, etwas Mystisches, Sphinxartiges. Dafür entschädigt Jensen durch eine Fülle von Geist und Phantasie, durch berauschende, hinreißende Naturschilderungen, ebenfalls im Stile Jean Paul’s. Die Begegnung Diana’s und Urbain’s auf dem Felsblock des Hochgebirges ist stimmungsvoll und hochpoetisch. Freilich, das Ende ist „Nirwana“: der Untergang des Edeln und Gemeinen, des Schönen und Häßlichen, der Ideen und ihrer Träger und Trägerinnen, die allgemeine Vernichtung. Kann uns über die Orgien des Saturnus, der seine eigenen Kinder verschlingt, das Alpenglühn der Schweizer Berge trösten, welches der Dichter Salis am Schluß des Romans als die verheißungsvolle Glorie der reinen Freiheit begrüßt?

Gleichen Stil, gleiche Vorzüge und Schattenseiten hat Jensen’s kürzerer historischer Roman „Um den Kaiserstuhl“, der im dreißigjährigen Kriege spielt und dessen Held Herzog Bernhard ist. Auf die Katastrophe von Breisach und den Untergang des deutschen Heerführers steuert dieser Roman von Anfang an hin; doch erscheint es uns als ein Fehler im Bau desselben, daß der geschichtliche Hauptheld so spät auf die Bühne tritt, daß unsere Pfade so lange durch romantische Dämmerungen führen, ehe der geschichtliche Tag uns aufleuchtet. Auch ist Bernhard nicht in seiner ganzen geschichtlichen Größe aufgefaßt; es fehlt uns der Einblick in sein inneres Leben und Streben, der imperatorische Zug, er ist nur ein frischer Reiterheld mit Kriegs- und Herzensabenteuern; aber die Zeit des dreißigjährigen Krieges, die Epoche des Simplicius mit ihrer grenzenlosen Verwilderung, das Marodeur- und Brandstiftertreiben, diese Zeit der Auflösung mit ihren tumultuarischen Volks- und Heereszügen ist mit echt poetischer Intuition geschildert. Auch hier fehlen die geistigen Apostel nicht, die Söhne der Zukunft im Kloster von Thennenbach. Der Brand dieses Klosters, die Belagerung der Hochburg, der Hexenproceß bei Beginn des Romans, die Mord- und Schreckensscenen im Verlauf desselben: das sind alles Pracht- und Meisterstücke einer glühenden Phantasie, die oft eine erdrückende Gestaltenfülle vor uns hinzaubert; doch es fehlt die klare Gliederung, der schlank sich emporgipfelnde Bau des Ganzen.

Schon des Contrastes wegen, verehrte Freundin, erinnere ich Sie an den neuesten Band der Gustav Freytag’schen „Ahnen“; ich weiß nicht, ob Sie sich durch die Jahrhunderte deutscher Geschichte bis zu diesem Bande durchgearbeitet haben, doch wird Ihnen diese Arbeit nicht erspart werden; denn Sie müssen im Salon über die „Ahnen“ Rede stehen, und ich weiß, Sie haben ein gutes Gedächtniß und werden Ingo, Immo und Ivo nicht mit einander verwechseln, so groß diese Gefahr auch ist bei der durch den Atavismus erklärbaren Familienähnlichkeit der Helden. In diesem neuesten Bande „Die Geschwister“ hat die Erzählung denselben geschichtlichen Hintergrund wie in Jensen’s „Um den Kaiserstuhl“; sie spielt in der gleichen Epoche des dreißigjährigen Krieges. Herzog Bernhard ist todt; ein Theil seiner Truppen entzieht sich den Fesseln der französischen Allianz, und die Abenteuer dieser herrenlosen Soldateska, die sich in Deutschland einen Kriegsherrn sucht, bilden den Hauptinhalt der Erzählung; auch ein Hexenproceß fehlt nicht. Doch welcher Gegensatz zwischen den beiden Autoren! Jensen erscheint als ein Maler von glühendem Colorit, Freytag als ein feiner, sauberer Kupferstecher; bei Jensen wildbewegte Gruppenbilder à la Tintoretto, bei Freytag Schlacht- und Lagerbilder à la Wouverman. Der Inhalt seiner Erzählung ist kaum bedeutender als derjenige einer beliebigen Geschichte von Tromlitz, deren Stoff der Zeit des dreißigjährigen Krieges entnommen ist; doch Tromlitz ist ein anspruchsloser Erzähler, Freytag spielt sich auf die Classicität hinaus; die knappe Manier seines vielsagenden Stils tastet nach der Lapidarschrift der Unsterblichen. Der poetische Hauch, der einzelne Scenen durchweht, der feine Humor in andern, die saubere Ciselirarbeit der Detailmalerei werden die Leser stets freundlich anmuthen, doch die kühle Haltung bewirkt keine warme Theilnahme, und wo er sich auf das Gebiet des Phantastischen begiebt, wie bei den Abenteuern seiner Sibylle, da wirkt seine Nüchternheit geradezu befremdend. Wenn Jensen einen Hexenproceß darstellt, so fühlt jeder Leser Schauder und Grauen; bei Freytag ruft eine solche Darstellung gar keine Spannung hervor, stört kaum das Behagen, das dieser ganzen Genremalerei eigen ist. Die zweite Erzählung ist ein Rattenkönig von Genrebildern und Anekdoten aus der Zeit Friedrich Wilhelm’s des Ersten; vieles ist recht ergötzlich und charakteristisch; nur fehlt die Einheit der Stimmung, und die tragischen Episoden und Abschlüsse lassen uns durchaus gleichgültig.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 387. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_387.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)