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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

und zu verbreiten, sowie die Uebersetzung der besten Volksbücher aus fremden Sprachen zu veranlassen, überall, selbst in den kleinsten Orten, Volksbibliotheken zu unentgeltlichem Gebrauche einzurichten, den Volksgesang, die nationale Musik sowie endlich das vlamische Theater nach Kräften zu fördern, überhaupt alles zu thun, was irgend zur Hebung und Volksbildung beitragen kann.

Die ausführlichen Berichte der einzelnen Abtheilungen beweisen, daß nach allen hier bezeichneten Richtungen hin wirklich Bedeutendes geleistet wird. In Gent wurde, um nur ein Factum anzuführen, in einem Jahre aus den Volksbibliotheken gegen 70,000 Bücher ausgeliehen. Zahllose Petitionen, die natürlich der Unterschrift der Mitglieder, sowie ihrer politische Freunde sicher waren, sind aus dem Schooße des Vereins hervorgegangen, und Schritt für Schritt hat man die alten Rechte wieder zu gewinnen, drückende, das Volksthum Flanderns schädigende Mißbräuche abzustellen gewußt. Sein Hauptaugenmerk richtet gegenwärtig der Verein auf die Schulen, welche bisher entweder ganz französirt waren, oder in den Händen des römisch gesinnten Clerus das Gegentheil von dem anstrebten, was die Volksschule leisten soll.

Ist ein Gesetz zu Gunsten des germanischen Volksthums oder der religiösen Freiheit mit großer Mühe durchgebracht, so beginnt erst recht die Arbeit des Willemsfonds. So ist seit der endlichen Annahme der Sprachgesetznovelle, welche den berechtigten Ansprüchen der Vlamingen gerecht wird, mit der ganzen dem niederdeutschen Stamm eigenen Zähigkeit darauf hingewirkt worden, daß dies segensreiche Gesetz nicht blos auf dem Papier bleibt. So wurden gleich im vorigen Jahre an geeignete Persönlichkeiten jedes vlamischen Ortes Fragebogen gesandt, aus deren Beantwortung sich ein genaues statistisches Ergebniß ziehen läßt, wie viele Richter, Advocaten, Civilstandsbeamte oder sonstige Behörden und mit den Behörden in Berührung kommende Parteien im amtlichen Verkehr sich, den neuen Bestimmungen nach, der vlamischen Sprache wirklich bedient haben oder überhaupt sich derselben zu bedienen im Stande sind. Keine Verabsäumung der Pflichten gegen die geliebte, so lange gefährdete Muttersprache entgeht dem Scharfblick des thätigen und leistungsfähigen Vereins, der die bedeutendsten Geister des Stammes in sich vereinigt.

In ähnlicher Weise wirken auf das Segensreichste außer dem Willemsfonds noch die „Mertens-Vereeniging“, „de Olijftak“ (Oelzweig), der „Van Maerlants-Kring“, der Verein der „Geuzen“, sowie die zahlreichen „Tooneel- (Schauspiel-) Kringen“.

Die Clericalen, welche ja überall feine Fühlhörner haben, sind bald auf die Gefahr aufmerksam geworden, welche ihnen von dieser Seite droht. Als Kanzel, Beichtstuhl und Caplanpresse mit Himmel und Hölle, Fegefeuer und Bannstrahl nicht mehr ausreichten, der so naturgemäßen und deshalb stets wachsenden Bewegung einen Damm entgegenzusetzen, wurde im Schooß der schwarzen Alma mater von Löwen ein Verein gegründet, der dem „Willemsfonds“ entgegenwirken sollte: der „Davidsfonds“. Während nun die freisinnigen Vlamingen instinctiv alles aufbieten, die fast nur durch eine abweichende Orthographie gestörte Spracheinheit zwischen Nordniederländern (Holländern) und Südniederländern (Vlamingen) wieder herzustellen und das Unheil und Unrecht, welches die Revolution von 1830 über das belgische Germanenthum gebracht hat, wieder gut zu machen, sucht der „Davidsfonds“ mit allen Mitteln die Kluft zwischen dem katholischen Süden und dem protestantischen Norden zu vertiefen.

Was gelten der geschworenen Miliz Roms Dinge wie Abstammung und Stammverwandtschaft! Aber schon lange vermögen ihre papierenen Mauern dem frischen scharfen Hauche, der herüber und hinüber weht, nicht mehr Stand zu halten. Im Ganzen hat die schwarze Schaar sich die Organisation des „Willemsfonds“ zum Muster genommen, nur daß der Zweck überall der diametral entgegensetzte ist. Die Männer, welche im freisinnigen Lager als Heroen geehrt werden, von Breydel und Koningk und den Geusen an bis auf Willems, van Soust de Borckenfeldt, Hansen, Hoste Sabte, Hiel, Vuylsteke und wie sie alle heißen, die rührigen und beredten Stimmführer der vlamischen Bewegung, müssen natürlich von den Werkzeugen der bischöflichen Allmacht in den Staub gezogen, Menschenfeinde wie Philipp der Zweite und Alba in den Himmel gehoben und zahlreiche andere notorische Mohren hübsch weiß gewaschen werden.

Die Vorträge der Redner des „Davidsfonds“ pflegen erst einer Art von Censur unterworfen zu werden, in den Bibliotheken des Vereins schimmelt die literarische Klosterwaare, in den Schulen, wie er sie stiftet, sollen Männer wie Mainbode und Duchesne oder wie die berüchtigten Stokslagers der Genter Prügelprocessionen gezogen werden, die von ihm herausgegebenen und colportirten „Volksschriften“ verbreiten den plumpsten Aberglauben und predigen den giftigsten Fanatismus; selbst den „Rederijkkammern“, jenen altehrwürdigen Ueberbleibseln aus Zeiten regeren Geisteslebens, ward der Krieg erklärt, weil sie die Hüterinnen der Muttersprache waren. Allein alle diese Anstrengungen sind fruchtlos und werden es bleiben gegenüber der stätigen Geistesarbeit der Männer des „Willemsfonds“, von denen wir vielleicht für unser deutsches Parteileben manches lernen könnten.




Clotilde.

Novelle von L. Herbst.

(Fortsetzung.)


5.


Tagelang ging die alte Hanna sorgenvoll umher. So oft sie an das Bett ihrer Herrin trat, fand sie diese mit geschlossenen Augen theilnahmlos daliegend; mitunter flossen Thränen über die blassen Wangen. Aber Clotilde redete nicht, und nur auf viele Bitten nahm sie etwas Nahrung. Einen Arzt zu Rathe zu ziehen, verweigerte sie durchaus.

Als Hanna am Morgen des dritten Tages leise und mit kummervoller Miene in das Schlafgemach der Kranken trat, blieb sie überrascht auf der Schwelle stehen. Clotilde saß angekleidet am offenen Fenster und hielt lesend ein Buch in der Hand.

Die schönen dunklen Augen blickte noch matt und von Schwermuth auf; aber mit freundlichem Lächeln streckte sie Hanna die Hand entgegen.

„Ich habe Dir Sorge gemacht, Alte, doch nun ist’s überstanden. – Gieb mir zu essen; ich muß mich stärken, denn Du weißt, morgen beginne ich wieder den Unterricht.“

„Unmöglich, gnädige Frau!“

„Unmöglich? Und warum?“

„Nun, wir müssen doch erst wieder aus anderen Augen schaun. Mit so weißen Backen thut sich die schwere Arbeit nicht!“

„Sei unbesorgt, Hanna; Thätigkeit eben ist die beste Arznei für mich. Ich könnte lange müßig daliegen, ohne daß Du mich dabei gedeihen sähest. Aber heute darfst Du mich nach Herzenslust pflegen und dafür sorgen, daß mir Niemand meine Ruhe stört.“ –

So begann Clotilde mit Heldenmuth ihr altes Leben von Neuem. Ihre vielseitigen Talente und Kenntnisse benutzend, gab sie mannigfachen Unterricht, und eben die Abwechselung machte ihr diese anstrengende Thätigkeit interessant und angenehm. Wie Balsam auf ihr Herz wirkte zugleich die Liebe und Anhänglichkeit ihrer großen und kleinen Schülerinnen, die mit fast schwärmerischer Verehrung zu der holden, sanften Lehrerin aufsahen.

Nach einem besonders schweren Tage sank Clotilde erschöpft in ihren Lehnstuhl vor dem Arbeitstischchen und gönnte sich einen Augenblick der Ruhe. Doch einen kurzen nur; denn schon griffen ihre fleißigen Hände nach neuer Thätigkeit. Sie arbeitete ein warmes Tuch für ihre Hanna, die sich gegen jede Geldbelohnung für ihre treue Dienstleistungen unerbittlich wehrte.

Die Alte blickte in die Thür und meldete mit aufgeregten Augen den Besuch des Herrn Leonhard. Clotilde sprang überrascht auf.

„Er hier?“ fragte sie erschreckt. „Was kann er wollen? Führe ihn herein!“ sagte sie und seufzte.

In Leonhard’s kaltem Gesicht wechselte die Farbe, wie in dem ihren, als er vor sie trat.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_401.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)