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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Obschon dieser eine Erfolg genügte, um die Entdeckung des Blutstroms für unschätzbar zu erklären, so haben sich doch an sie andere und weit größere angereiht, seitdem die fortschreitende Wissenschaft tiefer und tiefer in die Eigenthümlichkeiten des lebendigen Blutlaufs eingedrungen. Wenn gegenwärtig zahlreiche Herzkrankheiten erkannt und geheilt, gefahrdrohende Entzündungen gehoben werden, wenn heute das Blut, statt daß man es in unnützem Aderlaß stromweise vergießt, nach Kräften gespart und hierdurch dem kranken Körper die Kraft zur Ueberwindung des Siechthums gesichert wird, so verdankt dies die menschliche Gesellschaft nur der durch die Vivisection gewonnenen Erkenntniß.

2) So lange der Arzt die Einsicht in den Organismus nur aus der Zergliederung der Leiche gewann, mußte er, getäuscht von dem äußeren Anschein, zwei ihren Leistungen nach so grundverschiedene Gebilde, wie die Nerven und Sehnen, mit einander verwechseln. Erst der Versuch am lebenden Thier bewies ihm, daß die Sehne ein träger Strang, der Nerv aber zu der Erfüllung der Aufgaben befähigt sei, denen nach der Ueberzeugung unserer Vorfahren nur beseelte Wesen gewachsen waren. Die unablässige Arbeit der Physiologen hat endlich auch die Nerven als mechanische Apparate erwiesen, und noch mehr, sie hat uns gezeigt, daß, statt einer einzigen, zahlreiche Gattungen von Nerven bestehen, welche, dem trüglichen Augenschein zuwider, ihrem inneren Wesen nach durchaus verschieden sind. Wie wäre es möglich gewesen, an todten Nerven zu erfahren, daß dieser empfinde, jener aus den Drüsen den Speichel oder Thränen hervorlocke, und ein anderer nach den Befehlen unseres Willens die Glieder bewege, den Blutstrom hemme und beschleunige, und wie könnte ohne die Hülfe des lebendigen Thieres der Einblick in die wundervolle Mechanik der Nerven gelingen? Nur durch den Versuch konnten wir erfahren, daß sich die Nerven von einem zum andern Orte unseres Körpers erstrecken, daß sie sich im Gehirne und im Rückenmarke kunstvoll verflechten und alle Werkzeuge unseres Körpers zu gemeinsamer Arbeit verknüpfen. Naturgemäß erwuchs aus der Kenntniß dieses Baues und seiner Verrichtungen in der Hand des denkenden Arztes die Einsicht in das Wesen einer unabsehbaren Schaar von schweren Erkrankungen, und durch sie gelang die Linderung zahlloser Schmerzen. So lange man nicht wußte, daß die Nerven des Herzens und der Athmung nach anderen Gesetzen wirken, als die, welche unserer Seele den Schmerz zutragen, wäre es ein Verbrechen gewesen, auf die Anwendung von Mitteln zu denken, welche die Empfindung lähmen. Daß wir jetzt kein Bedenken tragen, durch diese Lähmung den unerträglichen Schmerz zu stillen, ist allein die Frucht der Vivisection. Aber ihre Erfolge reichen noch weit hierüber hinaus; man denke nur an die erquickende Kraft der Elektricität – dieser neue, um nicht zu sagen neueste Zweig der Heilkunst wurzelt allein in dem physiologischen Experiment.

3) Wer vor vierzig Jahren seine Studien begann, der fragte seine Lehrer vergebens, aus welchen Stoffen die Nahrung bestehen müsse, um den Menschen gesund zu erhalten, und man wagte nicht einmal die Frage, weshalb die Nahrung dem Körper Kräfte verleihe. Daß bei einem solchen Stande der Wissenschaft die Einsicht in die Verdauung und in die Bildung des Blutes fehlen mußte, bedarf keiner Erwähnung. Wäre es untersagt gewesen, den Aufschlüssen, welche uns die Chemie geschenkt, den Versuch am lebenden Thiere zu gesellen, so würde das Dunkel niemals gewichen sein, und zahlreiche Erfolge, deren sich die ärztliche Kunst rühmen darf, wären nie errungen worden. Die Mutter, welche ihr sieches Kind unter einer vernünftigen Regelung der Diät aufblühen sieht, und der Hypochonder, welchem der physiologisch geschulte Arzt mit der geregelten Verdauung die Lebenslust zurückgegeben, sind dem Experimente zum Danke verpflichtet.

4) Einer groben Fahrlässigkeit würde sich gegenwärtig der Arzt schuldig machen, welcher die Temperatur des Kranken, in dessen Adern das Fieber wüthet, nicht bis auf das Zehntel eines Grades messen würde. Daß kein Vorwurf dem zu machen war, welcher vor zwanzig Jahre den Gebrauch des Thermometers am Krankenbett verschmähte, leuchtet ein, wenn man erfährt, seit wie kurzer Zeit man erst weiß, daß bei einer Wärme des Blutes, die nahe über 42° Celsius liegt, das Leben augenblicklich erlischt. Die Aufdeckung des merkwürdige Gesetzes, daß die Erhöhung der normalen Körperwärme um wenige Grade schon für sich allein den Tod bringe, konnte selbstverständlich nur am lebenden Thiere gefunden werden. Seitdem man in den physiologischen Laboratorien die allmähliche Steigerung der Körperwärme bewirkte und ihre Folgen erkannte, hat die Heilkunde durch kühne Anwendung der Kälte Tausende von Kranken gerettet, die vormals dem hitzigen Fieber zum sichern Opfer fielen.

5) Längst war es durch die einfachste Beobachtung bekannt, daß Pflanzen und Thiere im Menschen keimen, wachsen und seine Gesundheit erschüttern. Doch der ganze Umfang, in dem dies geschah, daß auch kleinste, mit den besten Mikroskopen kaum erkennbare Schmarotzer sich das Fleisch und das Blut zum Aufenthalte erwählen, daß sie auf jeder Wunde nisten, daß sie Gifte und damit Qualen in uns führen, die an Grausamkeit alle übertreffen, welche jemals der Haß und die Bosheit erdacht, das lehrte erst die Vivisection. Als eine gütige Fügung muß es dem menschlichen Bewußtsein erscheinen, daß mit der Erkenntniß, welche Leiden die höchste Organisation zu Gunsten der niedrigsten erdulden muß, auch die Hülfe gegen sie entdeckt ward. Durch den Gebrauch des Carbols, welches die Parasiten tödtet, die sich in der Wunde niederlassen, gelang die Heilung größter Verletzungen so schmerzlos und in so kurzer Zeit, daß von nun an auch der vorsichtigste Operateur zu einem Gebrauche des heilenden Messers schritt, vor dem sonst auch der tollkühnste zurückschreckte. In die Seele des Kranken, der verzweifelnd in die nächste Zukunft sah, ist Ruhe und Zuversicht eingekehrt, denn warum sollte er die Operation fürchten, seitdem ihn das Chloroform vor dem Schmerze schützt, die antiseptische Behandlung das zehrende Wundfieber fernhält und die klaffende Wunde in wenigen Tage zuschließt?

Diese Thatsachen dürften genügen, um den Werth des Experimentes am lebenden Thiere darzuthun und die heutige Physiologie gegen die Anschuldigungen zu vertheidigen, die ihr gemacht werden. Wären wir der Vergehen schuldig, deren uns die Gegner anzuklagen nicht ermüden, längst wäre uns von den vorgesetzten Stellen aus Einhalt gethan, denn das Gesetz bedroht jetzt schon Denjenigen, „der in Aergerniß erregender Weise Thiere boshaft quält oder roh mißhandelt“, mit Geldstrafe und Gefängniß, und nicht in der Stille, nein vor den Augen Vieler vollführen wir unsere Werke. Und wie es uns selber alle Gründe des Gemüthes und des Verstandes nahe legen, jeden Makel zu verhüten und zu tilgen, der sich an den Name unserer Kunst heften könnte, so ist wirklich Niemand mehr, als wir bestrebt, auf alle gerechten Klagen zu hören und allen Ausschreitungen entgegenzutreten, welche unter dem Deckmantel ärztlicher Bestrebung an dem Thiere geübt werden; in diesem Sinne stimmen wir unsern Gegnern aus voller Ueberzeugung bei. Nur unter Aufsicht der vom Staate ernannten Vertreter der Wissenschaft soll das Experiment am lebenden Thiere geübt, und die strengsten Strafen sollen über denjenigen verhängt werden, der diese Experimente vornimmt, ohne seinen Beruf dazu nachweisen zu können. Aber wenn die Anschuldigungen frivoler Ausübung des Experiments sich gegen längst Verstorbene richten, wenn sie zudem den Stempel der Unwahrheit an der Stirn tragen, mit einem Worte, wenn sie den Angriffen gleichen, welche sich in den gegenwärtig verbreiteten Schriften befinden, so werden wir die Verfasser, je nach ihren Motiven, beklagen oder verdammen müssen, der Sache aber, die wir vertreten, wird hoffentlich eine in ihren Voraussetzungen und Zielpunkten so hinfällige Agitation, wie es die in Rede stehende ist, nicht schaden.

Ob auch der englische Klerus die Bücher, welche auf seine Bestellung geschrieben, bis in die kleinsten Schulen verbreitet, seine Verbindungen sich bis in die höchsten Kreise erstrecken – seine Mühe ist vergebens. An dem weltgeschichtlichen Berufe des deutschen Geistes, die Forderungen des Gemüths mit denen des Verstandes in Einklang zu bringen, sind größere Agitationen als die heutige gegen die Physiologie gescheitert, und man kann nur das Aergerniß beklagen, das mancher warmen Empfindung durch die Verpflanzung des Angriffs nach Deutschland bereitet wurde und noch bereitet wird.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 419. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_419.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)