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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

auch wurmzerfressene Stuhlgestelle übereinander, auf denen vielleicht noch die Tuchweberfamilie gesessen hatte, die vor drei Jahrhunderten aus dem engen Stadtgäßchen auf das Klostergut übergesiedelt, und in einer Ecke waren die Reste groben Kinderspielzeugs zusammengekehrt – auch die halbentkleideten, kopflosen Puppenbälge, die einst die jüngsten Töchter des Wolframschen Hauses, die flachshaarigen Mägdelein der armen Frau Räthin, gewiegt und geherzt hatten, lagen dort....

Der Sonnenschein verließ allmählich das kleine Dachfenster, und der Vogel auf dem Sims war schon beim ersten gellenden Aufschrei des Kindes erschreckt fortgeflogen. Die jungen Katzen waren jetzt auch still; sie lagen zusammengeduckt wie ein grauer Knäuel in dem Korbe und hoben nur schlaftrunken die Köpfe, wenn der kleine Eingesperrte auf der Thürschwelle in ein lauteres Jammern ausbrach.

So oft das Kind die verschwollenen Lider furchtsam hob, sah es auf die von Alter und Abnutzung entstellten und verzerrten Gegenstände. Alle Spukgeschichten, die ihm Deborah so fleißig erzählt, wurden in ihm lebendig – sie glotzten aus dem zeigerlosen Zifferblatt der hölzernen Uhr an der Fensterwand, aus dem übrig gebliebenen Menschenauge auf einem der Bilderfetzen; sie huschten aus den Truhen und durch das Conglomerat von auf einanderhockenden Stuhlbeinen und winkten und haschten mit den bleichen Lederarmen der Puppenbälge. Auch die Geschichte von fortgelaufenen Kindern, die sich zur Strafe verirrt, ging durch die gemarterte junge Seele.

„Ich will’s nie wieder thun, Tante. Ich will nie wieder fortlaufen,“ murmelte er schluchzend, als läge er, die kleinen Arme um ihren Hals schlingend, geborgen am Herzen der schönen Tante und flüsterte ihr, wie immer, seine Abbitte in’s Ohr.

Draußen herrschte fort und fort die tiefe, hoffnungslose Stille – nur selten klang ein Hahnenschrei wie aus weiter, weiter Ferne vom Hofe über das Dach her. Aber in der Kammer selbst machten sich jetzt Geräusche bemerklich – es tappte auf leisen Sohlen; Papier raschelte, und plötzlich klirrten die Porcellanscherben auf den Dielen – eine freche junge Ratte, die trotz der Katzennähe ihr Heimathsrecht in der Rumpelkammer behauptete, hatte offenbar Speisereste an dem Porcellan entdeckt; sie tummelte sich schnobernd zwischen den Scherben, und diese Erscheinung war noch viel schrecklicher als die vermeintlichen Spukgestalten. Der Knabe hatte eine Abneigung gegen Mäuse – nun lief da eine so entsetzlich große – sie konnte im nächsten Moment auf ihn zu huschen.

Unter furchtbarem Schreien schnellte er empor. Die Ratte verschwand unter dem Regale, aber der entsetzte Kleine rannte wie toll von Wand zu Wand, fast ohne Unterbrechung gellende Hülferufe ausstoßend; nicht einen Augenblick wagte er zu rasten, aus Furcht, das Thier könne wieder hervorkommen und an ihm emporspringen.... Er lief und lief, zuletzt athemlos, schweißbedeckt, lallend und kreischend – da wurde plötzlich draußen ein Riegel weggeschoben und die Thür aufgerissen.

Eine große Frau trat auf die Schwelle; das Kind taumelte mit ausgestreckten Armen auf sie zu und stammelte: „Ach, mache die Thür nicht wieder zu! . . . Ich will ein guter Junge sein! Ich will nie wieder fortlaufen.“

Es war ein todtenbleiches Gesicht, das sich über ihn bog, und durch den Körper der Frau ging es wie ein Schaudern, als die Kinderarme sich um ihre Hüften schlangen – aber sie ergriff den Knaben und führte ihn hinaus auf den Gang.

Und da war ja auch mit einem Male der lange Junge. Er kam hinter einem Schornstein hervor und trampelte vor Vergnügen mit seinen Hufeisen wie ein ausgelassenes Füllen. „Gelt, es ist schön in der Rumpelkammer? Hast Du nun lange genug mit den Katzen gespielt?“ schrie er und lachte aus vollem Halse.

Du hast ihn heraufgelockt und eingesperrt?“ fragte die Frau kurz und mit seltsam tonloser Stimme.

„Freilich – wer denn sonst?“ Er hieb mit der Reitpeitsche durch die Luft, und seine schiefgestellten, verschmitzten Augen schielten impertinent an der Frau empor. „Aber was hast denn Du darnach zu fragen? Dich geht es ja gar nichts an.... Ich kann den Zierbengel nicht ausstehen – er ist noch schrecklich dumm und läuft einem nach wie ein junger Hund. Einen Spitzenkragen hat er um, der Affe, und seine Schuhe sind –“

Er kam nicht weiter. Mit einem raschen festen Griff hatte die Frau ihn gepackt und züchtigte ihn weidlich mit ihren großen, kräftigen Händen – dann stellte sie ihn auf die Beine und stieß ihn nach der offenen Thür, die vom Gange in das Klosterhaus führte. Zuerst hatte er, stumm vor Ueberraschung, keinen Laut von sich gegeben. Er war in seinem ganzen jungen Leben noch nicht geschlagen worden – wer von den Leuten hätte sich auch je an dem vergötterten Rathssöhnchen aus dem Klostergute vergreifen mögen? – Er wußte nur, daß andere Geschöpfe unter seinen Gerten- und Peitschenhieben aufschrieen – und nun schrie er selber, aber erst in dem Moment, wo ihn die unerbittliche Hand auf die Füße stellte.... Nun rannte er wie besessen durch den Gang und die Treppe hinab; die eisenbeschlagenen Absätze tosten über die Stufen; er kreischte wie ein Thier – je tiefer er hinab kam, desto durchdringender. Das gellte von den Treppenwänden und hallte aufschreckend durch den weiten Flur des alten Klosterhauses. Das Gesinde lief zusammen, und der Rath kam entsetzt aus dem Amtszimmer und fing seinen auf ihn zustürzenden Sprößling in den Armen auf.

Kreideweiß vor Schrecken trug er ihn in seine Stube, und die Hand, die das magere, braune Gesicht des Knaben beruhigend streichelte, zitterte sichtlich.

Mosje Veit wußte, daß er an Krämpfen litt – die Mägde hatten in seiner Gegenwart davon gesprochen und die Zuckungen nachgeahmt. Seitdem traten diese Erscheinungen sehr häufig auf; er warf sich hintenüber und zuckte mit Armen und Beinen, wenn irgend einer seiner Wünsche auf Widerstand stieß.... In diesem Augenblick nun durchschütterte eine wirkliche Aufregung, eine grenzenlose Wuth, den dürren schmächtigen Körper – er schlug um sich und wühlte, immer noch schreiend, den Kopf convulsivisch in die dicken Federkissen des Sophas, auf das der Rath ihn gelegt hatte. Dieser Zustand erschien allerdings beängstigend, aber die kleinen, zwinkernde Augen des Patienten schielten sehr bewußt und beobachtend dem Vater nach, der angsterfüllt nach einem Schranke eilte, um das gewohnte, krampfstillende Mittel herbeizuholen.

Da riß das Geschrei jäh ab, und das Schlagen auf dem Sopha verstummte. Diese plötzlich eintretende Stille hinter seinem Rücken machte den Rath erschreckt umsehen – Veit hatte sich aufgerichtet und starrte bestürzt nach der gegenüberliegenden Wand. Dem einen en relief geschnitzten Heiligen dort war der segnend ausgestreckte Arm abgerissen – ein breiter, dunkler Spalt trennte ihn weit vom Rumpfe.

„Papa, die Wand geht entzwei – sie fällt ein,“ schrie er erschrocken auf.

Mit einem fast wilden Satze sprang der Rath auf die Gallerie; er bückte sich, und unter seinen schiebenden Händen schloß sich der Spalt geräuschlos.

„Närrchen Du!“ sagte er, die Stufen wieder herabkommend. „Die dicke Wand wird doch nicht einfallen. Aber das vermorschte Holz hat allenthalben Risse – da muß der Tischler her und wieder einmal zusammenflicken.“

Mosje Veit war ein kleiner Skeptiker. Sein scharfer Verstand und sein Lauern und Horchen in allen Ecken hatten ihm bereits jenen Kinderglauben geraubt, der Alles für baare Münze nimmt, was Erwachsene sagen. Er schielte ungläubig nach dem Heiligen, der wieder scheinbar unverletzt das Weib zu seinen Füßen segnete – aber er schwieg und fing dann wieder an zu jammern, während der Rath an einen Tisch trat und das Medicament in einen Löffel voll Wasser schüttete.

„Die Tante hat mich halb todt geschlagen, Papa!“

Der Rath fuhr herum, als traue er seinen Ohren nicht.

„Ja, furchtbar geschlagen und gestoßen hat sie mich. – Was kann ich denn dazu, wenn der dumme Bengel mir überall nachläuft, wie ein kleiner Hund?“

„Wer? – Von wem sprichst Du denn, mein Kind?“ fragte der Rath bebend – er glaubte, der Knabe beginne zu deliriren.

„Ich meine den fremden Jungen aus dem Schillingshofe,“ versetzte Veit, sich ungeduldig herumwerfend, „den blauen Bengel, der immer mit seinem großen Hund drüben im Garten spielt. Er ist mitgelaufen bis in unsere Rumpelkammer –“

„Er ist hier im Hause? – Oben bei der Tante Therese?“

Veit nickte, und der halbe Inhalt des Löffels, den sein Vater ist der Hand hielt, flog verschüttet auf die Dielen.



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