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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

17.

Schon während Veit heulend im Dämmerdunkel des Treppenhauses verschwunden war, hatte sich die Gluth der Empörung auf dem Antlitz der Frau verflüchtigt; es wurde wieder starr und weiß wie von Stein. Sie nahm den Zipfel ihrer breiten, blauleinenen Schürze und wischte dem kleinen José den Schweiß von dem erhitzten Gesichtchen. Dabei vermied sie jedoch consequent, in seine verweinten Augen zu sehen; sie hatte auch kein beruhigendes Wort für das Kind, und als es, auf ihren Wink hin, mitzukommen, seine Hand vertrauensvoll in die ihre schob, da zuckten die hartgearbeiteten Finger zusammen, als sei diese weiche, warme Kinderhand eine zusammengeringelte Schlange.

Es war damals auch so eine Spätnachmittagsstunde gewesen, als die heimlich aus Königsberg abgereiste Officiersfrau den Vorsaal der Giebelwohnung betreten hatte. Da waren auch zögernde kleine Füße neben ihr hergetrippelt, und ein blondes Engelsköpfchen hatte sich ängstlich an die Mutter geschmiegt, die mit harter Entschlossenheit das Einsiedlerleben auf dem Klostergute gegen eine immerhin glänzende Stellung eintauschte, um ihren Mann grausam zu strafen, ihn geflissentlich vor der Welt zu brandmarken. Damals hatte sie gemeint, das Kind an ihrer Hand so leiten zu können, daß es nie nach dem „leichtsinnigen“ Vater zurückverlangen werde und für alle Zeit ihr ausschließliches Eigenthum bleibe – eine furchtbare Katastrophe hatte sie eines Andern belehrt. Ob das Alles in diesem Augenblicke durch den Frauenkopf flog, über dessen wachsweißer Stirn die stark gebleichte Flechte noch immer so glatt und elegant als Diadem geordnet lag, wie einst das glänzende, vielbewunderte Dunkelhaar?

Sie führte den kleinen José in das Giebelzimmer mit den braungebeizten Wandschränken, vor das altfränkische Tischchen, auf welchem das Waschzeug stand; genau auf dieselbe Stelle hatte sie damals ihren Knaben geführt, um ihm den Reisestaub vom Gesicht zu waschen und das von ihrem Bruder so sehr angefeindete blaue Sammetröckchen mit einem Hauskittel zu vertauschen....

Ihre großen, starren Augen blickten wie unter einem Schleier, während sie das Handtuch in frisches Wasser tauchte und die verschwollenen Lider des Kindes betupfte; die Fingerspitzen hüteten sich augenscheinlich, die rosige Wange selbst zu berühren.

„Sprich nicht!“ gebot sie mit harter Kürze, als er geängstigt mit weichen, sanften Tönen von Tante Mercedes, Jack und Deborah zu reden begann. Seine Augen hingen begehrlich an der Wasserflasche, und der kleine, heißathmende Mund war verdorrt vom Schreien, von der brütenden Sonnengluth und dem Staub der Dachkammer. So sanft fügsam war der Knabe auch gewesen, der vor fünfundzwanzig Jahren seinen Spielwinkel dort in der Fensterecke gehabt und dessen kleines Lager hinter dem grobwollenen Thürvorhang, dicht am Bett der geschiedenen Frau gestanden hatte....

Die Majorin schüttete etwas Wein, Fruchtsaft und Wasser in einem Trinkglas zusammen und hielt es mit weggewendetem Blicke dem Kinde an die Lippen. Das war eine Labung, wie sie auf dem Klostergute hier und da dem erschöpften armen Reisenden gereicht wurde, warum nicht auch dem – wildfremden Kinde, das der kleine Sohn des Hauses gemißhandelt hatte? Und es mochte furchtbar gelitten haben durch den Sonnenbrand und die innere Angsthitze; es entzog ihr mit beiden Händen das Glas und trank den Inhalt gierig bis auf den letzte Tropfen aus. Und dann hob sich der Kleine auf die Zehen und reckte die Arme empor, um – wie er stets mit Allen that, die ihm Liebes erwiesen – die fremde Frau dankbar zu umarmen, aber sie bemerkte es wohl nicht. Sie stellte das leere Glas weg und nahm eine Kleiderbürste vom Nagel, um das blaue Cachemirröckchen von Heu- und Strohhalmen und dem dicken Staub der Rumpelkammer zu säubern. Sie fuhr ihm auch noch einmal mit dem nassen, kühlen Handtuch über das Gesicht, aber sein Haar, dieses wundervolle, goldglänzende Gelock, das ihm schweißdurchnäßt auf der Stirn klebte, vermied sie zu berühren.

Wer von den Leuten hatte diese Frau je unsicher gesehen! Selbst in der dringendsten Arbeit verloren ihre kräftigen Bewegungen nie die überlegene, maßvolle Ruhe – und jetzt hatte ihre Hand unachtsam Wasser verschüttet und die Bürste war ihr zweimal entglitten und auf die Dielen gepoltert. Nun schob sie in schweigender Unruhe und Hast das Kind nach der Thür und trat mit ihm hinaus auf den Vorsaal.

Da kamen schwere Männertritte über ächzende Stufen, und der kurzgeschorene, graue Kopf des Rathes tauchte aus der dämmernden Tiefe der Treppe.

„Ei zum Kukuk, Du hast ja Besuch, wie ich sehe!“ rief er, noch ehe er die oberste Stufe erreicht hatte. Das Treppensteigen mochte ihm sauer geworden sein; denn er war athemlos. Wie er aber dann den Estrichfußboden des Vorsaales betrat, war er auch heute noch das unveränderte Bild zäher Kraft und einer fast wilden Energie. Nur am Gesicht hatte die Zeit gearbeitet; sei es, daß sich die buschigen Brauen zu stark überhängend entwickelt hatten, oder waren die Augen so tief eingesunken, den freien, hochmüthig trotzigen Blick dessen, der auf sein gutes Recht pocht, hatten sie nicht mehr – sie brannten wie versteckte Funken in den Höhlen.

Ein solch glimmender Blick fuhr über den kleinen José hin, der sich scheu vor dem Manne mit der starken schneidigen Stimme zurückzog und sich mit beiden Händen ängstlich der Rechten seiner Begleiterin bemächtigte, die sie beim Verlassen der Stube in die Kleiderfalten geschoben hatte, als bemerke sie nicht, daß er das Verlangen habe, geführt zu werden.

„Wem gehört der Junge?“ fragte der Rath seine Schwester kurz und rauh.

„Weiß ich’s?“ fragte sie unter Achselzucken zurück und starr in seine funkelnden Augen sehend – sie zuckte mit keiner Miene. „Ich ging in meine Stube, da hörte ich vom Boden her ein Kind schreien – Dein Veit hatte sich den Spaß gemacht, das Kind fremder Leute in unsere Rumpelkammer zu sperren –“

„Und dafür hast Du ihn gemißhandelt?“ brach er los, wie rasend vor Wuth und Erbitterung.

„,Gemißhandelt'?“ wiederholte sie mit kalter Ironie. „Ich habe ihm die wohlverdienten Fünfundzwanzig aufgezählt, die ihm von Rechtswegen gebührten,“ setzte sie in ihrer gewohnten energischen Ausdrucksweise hinzu.

Diese unerschrockene Ruhe wirkte ernüchternd; der Rath fühlte, daß er durch sein Aufbrausen an der zeitlebens behaupteten Ueberlegeheit einbüße. Er bezwang sich und sagte verbissen:

„Eine solche brutale Züchtigung meines Kindes gestatte ich mir selbst nicht –“

„Zu seinem Schaden – aus dem Jungen wird sein Lebtag nichts.“ Noch nie war ihr dem Bruder gegenüber eine solche unumwundene Kritik entschlüpft – sie war offenbar nicht ganz Herr ihrer selbst.

„So – meinst Du, Therese?“ fragte er beißend. Sein tiefgebräuntes Gesicht verfärbte sich vor zorniger Ueberraschung, aber er fuhr nicht wieder auf – um die Mundwinkel spielte ihm nur sein schlimmes, hämisches Lächeln. „Es wäre ja doch zu schrecklich, wenn dermaleinst auch mir mein Sohn mit einer Tanzmamsell bei Nacht und Nebel auf und davon liefe!“

Die Majorin schwieg. Sie biß die Zähne fest zusammen und entzog mit einem plötzlichen Ruck dem kleinen José ihre Hand.

Der Rath sah das; er strich sich mit höhnischer Miene über den dünnen Kinnbart.

„Ach ja, ich weiß es längst – mein Veit ist nicht nach Deinem Geschmack,“ fuhr er fort. „Er denkt für ein Kind seines Alters zu scharf; sein Wille ist zu kräftig, und als ein echter Wolfram verlegt er sich nicht auf’s Schmeicheln und Schönthun. Solch ein Hanswurst, wie der da,“ er zeigte auf den Knaben, „der gefällt Dir wohl besser – wie?... Hm, die Einbildungskraft der Weiber ist stets geschäftig – der Henker mag wissen, was Du Alles in ihm siehst –“

„Das, was er ist – das Kind fremder Leute,“ versetzte sie mit demselben starren Blick wie vorhin, aber ihr Athem ging tief, und in dieser sonoren Frauenstimme grollte ein Ton mit, wie der eines tiefgereizten Raubthieres.

„Ei, das versteht sich ja von selbst; freilich muß er fremder Leute Kind sein; wir Wolframs haben ja kein verwandtes Blut draußen in der Welt,“ sagte er leichthin. „Ich meinte nur, da Dir mein Veit nicht gefällt, Du hättest so eine Art Idealschablone, in die der Junge da mit seinem Flachskopf passe. Wie kommt er aber in mein Haus und hier herauf, wenn nicht durch Dich? Hereingeschneit ist der Junge doch nicht?“

„Veit hat ihn jedenfalls hereingebracht –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 431. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_431.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)