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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

„Veit, und immer wieder Veit! Der arme Kerl muß es stets gewesen sein; er kriegt die Prügel, und der Bursche da ist natürlicher Weise das unschuldige Lamm. – Wie bist Du in das Haus gekommen?“ fuhr er, seiner nicht mehr mächtig, das Kind an, das entsetzt zurückwich und keinen Laut herausbrachte. „Wirst Du wohl antworten?“ knirschte er und griff in gesteigertem Grimm nach dem Knaben, um dessen willen sein Sohn gestraft worden war.

Bei dieser drohenden Bewegung fuhr die Majorin empor, als habe sie selbst einen Schlag erhalten, und streckte den Arm zwischen ihren Bruder und den kleinen José – ihre Augen funkelten, und unter der krampfhaft emporgezogenen Oberlippe erschien eine schöne, feste, weiße Zahnreihe. Die Frau mit dem kräftigen, und doch so elastisch schlanken Gliederbaue hatte in diesem Augenblicke etwas von einer Tigermutter, die ihr Junges vertheidigt, aber nur secundenlang; der Rath trat unwillkürlich zurück und sie sagte scheinbar gelassen, wenn auch mit verschleierter Stimme: „Du wirst Dich nicht an einem fremden Kinde vergreifen, das ohnehin alterirt ist durch den Streich, den Veit ihm gespielt hat.“

Sie beugte sich zu José herab, um nun selbst die gestellte Frage zu wiederholen; allein es war, als gäbe es für die seltsame Frau keine Sprache der Welt, in der sie mit diesem Kinde reden könne – es sah mit seinen wunderschönen, blauen, beredten Augen zu ihr auf, und da schlossen sich ihre bleichen Lippen nur noch fester auf einander.

Der Kleine gab jetzt die Antwort von selbst – er fühlte sich durch die Frau beschützt. „Ich bin mit dem großen Jungen durch den Zaun gekrochen,“ sagte er mit seiner sanften, treuherzigen Stimme. „Er kriecht immer durch den Zaun und wirft mit Steinen nach den Enten, die auf dem Teiche schwimmen. Nachher wollte er mir seine Lapins zeigen –“

„So“ – sagte der Rath; er drehte und zerrte wie zerstreut an seinem grauen Lippenbart; der frappante, wenn auch unglaublich rasch wieder niedergekämpfte Gesichtsausdruck seiner Schwester gab ihm offenbar zu denken. „Durch den Zaun also, und wir haben nur den, der uns vom Schillingshof trennt – das ist ja eine schöne Entdeckung. Mein Veit auf Schilling’schem Grund und Boden! – Ich werde die ganze Zaunlinie sofort mit Dornen verbarricadiren lassen.... Hm ja, nun weiß ich’s auch – ich sehe manchmal einen blauen Irrwisch drüben umhertollen – das ist der Bursche da. Er gehört zu der amerikanischen Familie, ‚von Valmaseda’ schreibt sie sich, wie ich höre – mag auch eine nette Gesellschaft sein! Der Mann soll sich in irgend einem Spielbad herumtreiben, und hat unterdessen seine Familie, zum Skandal der Dienstleute drüben, ohne einen Groschen Geld in den Schillingshof geschickt, wo sie auf Regimentsunkosten herrlich und in Freuden leben sollen.“ Wie verwunderlich kamen diese Mittheilungen, die einer Klatschbase Ehre machen konnten, aus diesem bärtigen Munde, und wie heiser gedämpft klang die stets so barsche Stimme!...

„Die Schilling’s waren von jeher Narren und Verschwender!“ fuhr er nach einem befreienden Aufathmen lauter fort. „Theaterleute und Abenteurer finden da stets eine gute Stätte. Der stolzen Baronin aber paßt das nicht – sie ist der sauberen spanischen Gesellschaft aus dem Wege gegangen.“

Der Rath hielt inne. Seine Schwester stand da wie eine Statue; sie sah seitwärts unbeweglich zu den erblindeten Vorsaalfenstern hinüber, durch welche ein paar dicke Brummfliegen und eine verirrte Wespe vergebens den Weg in’s Freie suchten, und erst, als der Rath schwieg, heftete sie diesen starren Blick durchdringend auf sein Gesicht.

„Was gehen die Gäste da drüben uns an?“ fragte sie trocken. „Haben wir uns je darum gekümmert, wen der Schillingshof beherbergt?“

„Einst wohl, Therese, als der ‚in des Königs Rock’ drüben nach dem schönen, bethörten Wolfram’schen Goldfisch angelte. Doch darüber ist längst Gras gewachsen; ich habe die Schande ziemlich verwunden. Jetzt aber bin ich auf’s Neue verpflichtet, mich darum zu kümmern, da Veit den Streich gemacht hat, sich einen Cameraden von dorther zu holen – das wäre mir ja eine schöne Bekanntschaft. Und Du – Du solltest doch nie vergessen, daß Du dem Schilling’schen Hause alle Schmach, die Dir widerfahren ist, und Deinen total verunglückten Lebenslauf verdankst. Ich sollte meinen, schon die Luft, die Dich von drüben her anhaucht, müsse Dich beleidigen. Ich für meinen Theil habe während der letzten acht Jahre – lediglich um Deinetwillen – consequent verhindert, daß auch nur eine Spur Erde an den Sohlen von dem verhaßten Grund und Boden in mein Haus getragen worden ist, und nun nimmst Du diesen hereingeflogenen Unglücksvogel da auf, führst ihn direct in Deine Stube und tröstest und liebkosest ihn –“

„Liebkosen?“ lachte sie wild auf und strich hart und wiederholt mit der inneren Handfläche über die blauleinene Schürze, als wolle sie jede Spur der Berührung wegreiben, welche das Kinderhändchen hinterlassen. „Du solltest wissen, daß Deine Appellation an die Vergangenheit eine ganz überflüssige war,“ setzte sie schneidend hinzu. „Nenne mir einen Moment in meinem Leben, in welchem ich je vergessen hätte, daß ich eine Wolfram bin, das Kind meines Vaters und die Urenkelin derer, die vor ihm da waren! Sie haben wohl auch geirrt, aber dann – nach der Erkenntniß – sind sie auf dem Wege geblieben, der ihnen als der rechte gegolten hat, und wenn er durch Höllenqualen gegangen wäre.“

Sie drückte die weiße, kräftige Hand fest auf die Brust und ging mit hartgeschlossenem Munde an ihm vorüber nach der Treppe. „Um mich kümmere Dich nicht!“ sagte sie, noch einmal stehenbleibend. „Ich werde mit meiner Aufgabe fertig. Aber Du sei auf Deiner Hut! Du bist nur noch der Schatten Deiner selbst. Hat Eines heiß gewünscht, daß unser alles, braves, hochangesehenes Geschlecht nicht erlöschen möchte, so bin ich’s – ich dachte ja nicht, daß sich das Blut ändern könnte; ich habe es nie für möglich gehalten. Aber das weiß ich nun – so viel Söhne auch auf dem Klostergute geboren worden sind, nie ist ein solch heimtückischer, zerstörungswüthiger Bube zur Welt gekommen, wie Veit ist – wir wären sonst nicht da, wo wir stehen; es wäre längst Alles in alle vier Winde verflogen. Und diesen Burschen lässest Du hausen, wie er Lust hat; er macht mit Dir, was er will. Du zitterst wie Espenlaub vor jeder Zuckung, die Dir der verlogene Junge vormacht. Und in seine Hand soll Alles kommen, Alles – Franz, ich glaube, Du verschriebest Deine Seele dem Bösen um dieses einen Kindes willen“ – sie hielt inne, als erschrecke sie selbst vor dem leidenschaftlich gesteigerten Ausspruch, der ihren Bruder wüthend emporfahren machte und ihm eine jähe Gluth in das Gesicht trieb, allein sie widerrief oder beschönigte das Gesagte mit keinem Wort. „Willst Du, daß die Wolfram’s in Ehren weiter existiren sollen,“ fügte sie mit um so festerem Nachdruck hinzu, „so greife nach dem Zuchtmittel unserer braven Väter, nach dem Stock in der Ecke!“

Damit winkte sie dem kleinen José; er folgte ihr – sie ging die Treppe hinab.

Es war gerade sechs Uhr; auf dem Schanktische standen bereits die gefüllten Milchtöpfe, und die Leute kamen in die Hausflur geströmt.

„Der Kleine gehört in den Schillingshof,“ sagte die Majorin zu der wartenden Stallmagd. „Führe ihn hinüber und mache ihm die Gartenthür auf – hinein gehst Du nicht.“

Sie trat an den Schanktisch; kein Blick fiel mehr auf das von den Leuten angestaunte schöne, vornehme Kind, das folgsam neben der Magd herging. An der Flurthür wandte es noch einmal das dunkelroth erhitzte Gesichtchen zurück und rief treuherzig: „Schlaf wohl, gute Frau!“

Auch dieser Abschiedsgruß wurde überhört; denn die Milch schoß bereits aus dem großen Steintopf in das Blechnösel, und dabei geschah das Unerhörte, daß sie in breiter Straße die Tischplatte überströmte – das auf dem Klostergute, wo jeder Tropfen mehr oder weniger sorgsam bemessen wurde!

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 432. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_432.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)