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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

jenen Tagen aber, die dem Siege der volksthümlichen Forderungen vorhergingen, hatte er die Massen aufgefordert, „die Straßen von Trafalgar Square bis zur ehrwürdigen Westminsterabtei mit einer Menschenmenge zu erfüllen“, um auf diese Weise gegen die widerwilligen Gesetzgeber einen heilsamen Druck zu üben. Seine brieflichen Rathschläge an die Arbeiter der Reformliga waren womöglich noch entschiedener. Ich spreche aus persönlicher Kenntniß dessen, was im engeren Kreise vorging.

Wer heute ganz unbefangen den Gang der Dinge überschaut, wird sich sagen müssen, daß die 1866 von Edmund Beales, dem Obmann der Reformliga, der jetzt ein geachteter Richter ist, von Bradlaugh, Cremer, Odger und anderen Volksführern gezeigte Entschlossenheit das einzige Mittel zur Verhütung einer gewaltsamen Lösung war, die in London zu den entsetzlichsten Auftritten geführt hätte. Kurzsichtige Reactionäre freilich wollten diese Gefahr frech herausfordern. Gern hätten sie John Bright das Ende gewünscht, das Herrn Gordon, dem liberalen Führer in Jamaica zu Theil ward, einem Farbigen von großer Tüchtigkeit und hoher Begabung. Ein bartloser Lieutenant ließ diesen Mann kurzer Hand „standrechtlich“ an einem Baume aufknüpfen. Mit solchen Mitteln – hätte ihre Anwendung je auch nur versucht werden können – wären freilich auf englischem Boden die Vertreter des stockigen Stillstandes nicht zu ihrem Ziele gelangt. Heute wissen auch sie, daß das Reformgesetz von 1868 dem Lande recht eigentlich den Frieden wiedergegeben, ihnen selbst sozusagen als Rettung wider Willen gedient hat.

Und doch sind kaum erst vier Jahrzehnte verflossen, seit die chartistische Bewegung anfing. Die „sechs Punkte“, die das Parteiband derselben gebildet hatten, hießen:

1) Allgemeines Stimmrecht. 2) Geheime Abstimmung bei den Wahlen. 3) Jährliche Erneuerung der Volksvertretung. 4) Gleichmäßige Vertheilung der Wahlbezirke. 5) Abschaffung der Vermögensbestimmung für die Wählbarkeit. 6) Tagegelder für die Abgeordneten.

Abgesehen von Punkt 3 sind alle diese Einrichtungen jetzt sogar in Deutschland, entweder für die Vertretung im Reichstag, oder in den einzelnen Landtagen errungen. Kaum irgend welchen Liberalen von Namen giebt es mehr in England, der nicht wenigstens grundsätzlich fast sämmtliche Punkte jener Volkscharte als berechtigt anerkennte, was auch seine Bedenken gegen die Möglichkeit der alsbaldigen Durchführung sein mögen.

Neben den „sechs Punkten“ liefen jedoch noch andere, bald rein humane und bürgerlich-freisinnige, bald demokratische und proletarisch-socialistische her, je nach der besondern Entwickelung in den einzelnen Städten und Landestheilen, oder innerhalb gewisser Gruppen mit besonderen Führern. Auch in Bezug auf die Methode der Durchsetzung waren die Ansichten innerhalb der Partei verschieden. Während man auf der einen Seite nur gesetzlich-friedliche Mittel wollte, gab es eine andere Gruppe, die für den äußersten Nothfall auch eine gewaltsame Erhebung in’s Auge faßte.

Trotz aller dieser inneren Verschiedenheiten aber blieb doch stets der rein politische Zweck, die auf staatliche Mündigkeitserklärung von Millionen abzielende Volks-Charte, das einigende Band und hochgehaltene Wahrzeichen der liberalen Gesammtheit, und den betreffenden Punkten hat man, wenn auch spät, endlich doch wieder Aufmerksamkeit schenken, ja, ihnen schon eine teilweise Erfüllung angedeihen lassen müssen. Haben dabei die besten Häupter des Chartismus neben jener rein politischen Reform auch die Hebung der tief vernachlässigten Massen in Stadt und Land erstrebt, so hatte das gleichfalls seine guten und gewichtigen Gründe. Ich führe nur ein Beispiel an. Wenn, bis in die letzten Jahre herein, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig, ja sechszig Procent der Bevölkerung in einzelnen Grafschaften Englands des Lesens und Schreibens unkundig waren, und erst in neuester Zeit ein bedeutender Schritt zur Herstellung des allgemeinen Volksunterrichts geschehen ist – kann man sich da über die leidenschaftliche Entrüstung der früheren Reformer wundern? Kann man sich wundern, daß aus solchen Zuständen, wenn einmal die Tiefen der Gesellschaft erregt waren, auch phantastische Gebilde emporschossen?

Das jüngere Geschlecht erfreut sich einer ganzen Reihe von Errungenschaften, die nunmehr im Nationalbewußtsein als ganz selbstverständlich gelten. Aber es weiß kaum mehr, wofür und mit welchen Opfern die Väter das zu erstreiten hatten. Selbst auf die Namen der einst in Liebe und Haß viel Genannten hat sich das Dunkel, wenn nicht der Schleier der Vergessenheit gelagert. Der spätere Geschichtsschreiber jedoch, der den Zusammenhang der Ereignisse überblickt, wird der muthigen Vorläufer einer erzielten oder noch zu bewirkenden Verbesserung in Staat und Gesellschaft nicht vergessen. Zu den hervorragendsten oder thätigsten Führern des Chartismus zählten das Unterhausmitglied Feargus O’Connor, Lovett, Hetherington, Harney, Ernst Jones und Bronterre O’Brien. Mit Ausnahme von Lovett, der, so viel ich weiß, noch als hochbetagter Greis im Norden Englands in stiller Abgeschiedenheit lebt, und von Georg Julian Harney, sind alle Genannten nicht mehr unter den Lebenden. Von dem Letzteren will ich in den nachfolgenden Zeilen sprechen, da er nach langjähriger Abwesenheit erst unlängst aus Amerika auf den Boden seiner Heimat zurückgekehrt ist.

Georg Julian Harney war der erste bedeutendere Mann der englischen Volkspartei, den ich nach dem Sturze unserer deutschen Erhebung von 1848 bis 1849 hier kennen lernte. Auf Englands schützenden Boden tretend, kam ich in näheren Verkehr mit dem chartistischen Führer, dessen ganze Geistesrichtung der Entwickelung der kämpfenden Freiheitsparteien auf dem Festlande mit Vorliebe zugeneigt war.

Die Jugend Harney’s, der sich aus den Reihen des Volkes emporhob, war bereits durch seine eifrige Theilnahme an den politischen Kämpfen bezeichnet. Im Jahre 1817 zu Deptford in Kent geboren, wirkte er im Alter von siebenzehn Jahren mit Hetherington zusammen in jener großen Bewegung, die schließlich zur völligen Befreiung der Presse führte.

Ein starker Funken des Feuers jener „Männer von Kent“, welche in der Vorhut Harald’s gegen Wilhelm den Eroberer bei Hastings und abermals bei Swanscombe fochten, loderte schon in der jugendlichen Brust Harney’s. Englische Aristokratensöhne, der Schule kaum entwachsen, treten in die politische Laufbahn, ja, in’s Parlament ein, um der Nation Gesetze geben zu helfen. Kein Wunder, daß zu einer Zeit, wo auf der Presse noch der Steuerdruck lag, wo die Rede- und Versammlungsfreiheit weitaus nicht so festgegründet war, wie heute, wo der Kreis der Wahlberechtigten eine ganz unverhältnißmäßig kleine Minderheit gegenüber der Zahl der Bevölkerung in sich schloß und der Whig- und Tory-Adel noch die engherzigsten Ueberlieferungen sogar gegenüber dem Bürgerstand pflegte – kein Wunder, daß unter solchen Verhältnissen auch ein feuriges Jünglings- oder Knabenherz tapfer für die Freiheit schlug.

Seine kleinen und großen Proben legte Harney bald genug ab. Wegen Verbreitung „ungesetzlicher und aufrührerischer Schriften“ – das heißt solcher, die des seitdem abgeschafften Regierungsstempels entbehrten – wurde er wiederholt gefänglich eingezogen. Bei der Nationalconvention der chartistischen Partei, die 1839 mehrere Monate lang in London tagte, erschien er, der Zweiundzwanzigjährige, als Vertreter für Newcastle am Tyne. Sein Muth, wie seine geistige Thätigkeit, erwarben ihm rasch Auszeichnung.

Die Verwerfung der mit 1,280,000 Unterschriften bedeckten Bittschrift im Unterhaus, wo nur 46 Stimmen für, 255 aber sich gegen den Inhalt derselben erklärten, erzeugte die tiefste Erbitterung. Die Partei der Ungestümeren wuchs gewaltig, namentlich unter den Bergleuten von Durham und Northumberland. Waren schon im Anfang der dreißiger Jahre die furchtbaren Vorgänge in Bristol und die Drohung, „hunderttausend Mann stark von Manchester nach London zu marschiren“, nöthig gewesen, um den Widerstand gegen eine Reformbill der damaligen Liberalen zu überwinden, so tauchten auch jetzt wieder Rathschläge für Anwendung ähnlicher Mittel auf. Nächtliche Versammlungen bei Feuerschein hielten die Erregung allüberall wach.

Eine zu Birmingham gehaltene Rede zog Harney abermals die Haft zu. Bereits war er so volksbeliebt geworden, daß seine Abführung in’s Gefängniß in verstohlener Weise betrieben und eine Abtheilung Dragoner aufgeboten werden mußte, um einen Befreiungsversuch auf dem Wege dorthin zu verhindern. Nach seiner Freilassung erschien er 1841 im West-Riding von Yorkshire bei einer Parlamentswahl, wo Lord Morpeth und Lord Milton als Whig- und die Herren Denison und Stuart Wortley als Tory-Candidaten auftraten, als dritter, chartistischer Bewerber. Wegen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 436. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_436.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)