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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Donna Mercedes sah befremdet nach der Uhr – der Zeiger stand nahe bei Acht; so lange war Lucile noch nie ausgeblieben. Ein unbestimmtes Bangen überschlich sie, eine leise Furcht vor jener geheimnißvollen Gewalt, die strafbare Wünsche, zu unserer eigenen Qual und Reue, oft blitzschnell verwirklicht.

Sie trat in eines der Fenster des großen Salons und sah über den Garten hinweg. Noch war es tageshell; der Blüthenschmuck der Rosenbäume, die Teppichbeete schimmerten farbenprächtig herüber; auf den Platanen lag ein letzter Goldhauch des Sonnenuntergangs; die weißen Steinfiguren des Brunnenmonuments hoben sich in scharfen Contouren von dem Sammet des Rasenteppichs, und jenseits des Eisengitters, auf der Promenade, drängte sich ein reger Verkehr. Equipagen rollten ab und zu, und Schaaren von Spaziergängern strömten aus den benachbarten engen und heißen Straßen, um sich an der beginnenden Abendkühle in der Kastanienallee zu erquicken.

Wie thöricht war es doch, sich zu ängstigen! Wäre irgend ein Unfall vorgekommen, es hätte längst Nachricht da sein müssen – die kleine Frau hatte sich offenbar in der Conditorei beim Naschen und Eisessen verspätet.

Der Theetisch stand noch unberührt inmitten des Salons. Paula hatte ihr Abendbrod eingenommen und war zu Bett gebracht worden; Donna Mercedes aber durchmaß schweigend und ruhelos den Salon. Dann und wann hemmte sie in gespanntem Aufhorchen ihre Schritte, oder sie trat zu dem kleinen Kranken, der sich in unruhigem Schlummer hin- und herwarf. Inzwischen war auch Jack wieder heimgekommen. Er hatte Lucile in den letzten Tagen einige Mal in die Stadt begleiten müssen, und nun war er auf Befehl seiner Herrin durch die Hauptstraßen gewandert; er hatte die gashellen Verkaufslocale durchforscht, in welchen die kleine Frau zu kaufen pflegte, und war in allen Conditoreien gewesen, aber Niemand wollte die schöne amerikanische Dame aus dem Schillingshofe gesehen haben.

So war Viertelstunde um Viertelstunde in peinvoller Langsamkeit vorübergeschlichen, nun aber schlug es zehn auf dem nahen Benediktinerthurm – diese hallenden Schläge fielen wie mit niederschmetternder Wucht in das Ohr der angstvoll Wartenden – sie ergriff die Lampe und ging in Lucile’s Räume. Es war ihr, als müsse sie dort das kleine, launenhafte Wesen finden.

Im Wohnzimmer sah es so unordentlich aus, wie es stets bei Lucile auszusehen pflegte. Man sah, die kleine Frau hatte hier, vor dem großen Pfeilerspiegel, Toilette gemacht. Auf dem Boden lagen noch die winzigen Pantöffelchen, wie sie im Uebermuth von den Füßen geschleudert worden waren; nicht weit davon breitete sich der weiße Frisirmantel über das Parquet; verschiedene Schleier, Bandschleifen und neue Handschuhe lagen, sichtlich die Spuren der Anprobe tragend, auf Tischen und Stühlen, und beim Umherleuchten trat Donna Mercedes auf die Puderquaste, die nach ihrem verschönernden Dienste den Pantoffeln und dem Frisirmantel gefolgt war.

Und jetzt schrak die Suchende zusammen, als weiche der Boden plötzlich unter ihren Füßen; mit bebender Hand stellte sie die Lampe auf den Sophatisch; ihre Kniee wankten; sie sank in den nächsten Lehnstuhl und starrte auf das weiße Couvert, das, an sie selbst adressirt, mit Ostentation auf der kirschrothen Tischdecke placirt lag.... Nun wußte sie, was geschehen war. War sie denn blind gewesen heute Nachmittag? – Lucile war heimlich abgereist.

Sie zog das Briefblatt aus dem Couvert, das nicht einmal verschlossen war. „José ist wieder gesund“ – schrieb die kleine Frau in ihrer legèren Art – „und nun trete ich meinen Urlaub an – das heißt, meinen mir selbst genommenen Urlaub – denn von Dir erhielte ich doch bis in alle Ewigkeit keinen.... Gott sei Dank, daß mein Junge endlich Ernst machte mit dem Gesundwerden – noch einen Tag länger, und ich wäre verrückt geworden.... Hast Du denn wirklich gemeint, ich könnte es so und so viele Wochen auf deutschen Boden aushalten, ohne den Ort wieder zu sehen, wo man mich einst als neuaufgehenden Stern bewundert und bis in den Himmel gehoben hat, wo man mich auch heute wieder mit Jubel, mit offenen Armen empfangen wird? – Endlich, endlich! Jeder Tag, den ich in dem tödtlich langweiligen Neste, dem Schillingshofe, verleben mußte, war ein unersetzlicher Verlust für mich, ein Raub an meiner goldenen Jugendzeit, von der ich leider schon allzu viel geopfert.... Ich gehe also nach Berlin – auf mehrere Tage. Paula nehme ich mit; das Kind soll auch einmal in die Wunderwelt blicken, aus der ihre Mutter stammt und in welcher man wirklich lebt und genießt – Alles, was außerhalb des Bühnenlebens liegt, ist fade und nüchtern, ein abgeblaßtes Einerlei –“

Donna Mercedes warf den Brief hin, ohne die letzten Zeilen zu lesen. Aber bei allem Schrecken, bei aller Entrüstung, die ihr die Thränen in die Augen trieb, war ihr Herz doch voll Frohlocken – die Entführung des Kindes war nicht geglückt, Paula war ihr geblieben. Nun begriff sie Lucile’s Zorn über „die kleine Schlafmütze“ und das ganze räthselhafte Gebahren der kleinen Frau.... Welch ein bodenlos leichtsinniger, perfider Streich! Welch häßlicher Egoismus!.... Noch trug die junge Wittwe Trauer um den Gatten; noch lag ihr kaum dem Tode entrissenes Kind schwach und erschöpft im Bette – sie hatte bei José’s Erkranken gezeigt, daß sie ein warmes Muttergefühl für den Knaben hege, sie hatte ihren Mann geliebt und ihm in den letzten Lebensstunden heilig versprochen, daß sie sich nicht von Mercedes und den beiden Waisen trennen wolle – und doch warf sie das Alles als Fessel ab, von der wahnsinnigen Sucht, zu glänzen, zu genießen, fortgerissen, wie der Vogel dem unbezähmbaren Wandertrieb in seiner Brust blindlings folgt.

Donna Mercedes erhob sich und steckte den Brief in die Tasche. Eine tiefe Gluth bedeckte plötzlich ihr Gesicht – nun war sie während Lucile’s Abwesenheit allein Baron Schilling’s Gast – wie peinvoll! –

Sie ergriff die Lampe und kehrte in ihre Zimmer zurück.

„Meine Schwägerin ist nach Berlin gereist und wird in einigen Tagen zurückkehren,“ sagte sie kalt zu Hannchen, Jack und Deborah, die im Krankenzimmer standen.

Deborah riß ihre runden Augen weit auf vor Verblüfftheit, und ein erschrockener Seitenblick fuhr durch die offene Thür hinüber nach Paula’s Bettchen – um ein Haar hätte ihr die schlaue Mama das Goldkindchen mit fortgenommen. Sie wagte sonst dann und wann eine Frage, aber diesmal verschluckte sie jeden Laut, denn ihre Dame winkte stolz und gebieterisch mit der Hand.... Jack sagte unterwürfig „gute Nacht!“ und Deborah machte sich in der Kinderstube zu schaffen – sie wußten Beide, daß sie die Stunden der Angst und Besorgniß vollkommen vergessen und nichts Anderes wissen mußten, als daß „die kleine, gnädige Frau“ auf einige Tage verreist sei.

(Fortsetzung folgt.)




Peter von Cornelius.
Von Fr. Pecht.

In diesen Tagen – spät genug! – ist endlich der nationalen Pflicht genügt worden, demjenigen Meister ein Denkmal zu setzen, welchen einheimische und fremde Kunstgeschichte als den gewaltigsten Genius auf dem Gebiete der neueren deutschen Malerei preist. Peter von Cornelius heißt er, und der Ort, welcher jüngst in glanzvoll festlicher Weise sein Gedächtniß feierte, ist Düsseldorf. (Vergl. „Blätter und Blüthen“ dieser Nummer.)

Wenn man die Bedeutung des Mannes, dessen tiefsinnig großartige Schöpfungen dem populären Verständniß mehr oder weniger fremd geblieben sind, zu kurzem Ausdruck bringen will, so drängt sich zuerst die Bemerkung auf: daran, daß es eine wahrhaft nationale Kunst bei uns giebt, hat Cornelius einen mindestens ebenso großen Antheil, wie jeder Einzelne des Dreigestirns Lessing-Goethe-Schiller an der Schaffung einer deutschen Nationalliteratur.

Hierzu kommt noch ein zweiter Punkt.

Jeder wahrhaft große Mann wirkt in zweierlei Weise auf die Nachwelt: zunächst durch das was er geschaffen, nicht minder aber auch durch das Bild seines Charakters, seines Ringens. Das aber, was Cornelius von so vielen Anderen unterscheidet,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 484. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_484.jpg&oldid=- (Version vom 1.5.2018)