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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

sich gekehrt vor dem Schreibtische im Fensterbogen. Ein Sturm ging durch ihre Seele.

Da kam die kleine Paula, ihre Puppe im Arme, aus der Kinderstube; sie sah mit großen, fragenden Augen zu ihr auf.... Das waren die glänzenden, schillernden Sterne, die Felix Lucian aus seiner Lebensbahn in einen frühen Tod gerissen hatten, die begehrlichen Augen Lucile’s.

Und dieses Kind, noch blickte es unschuldsvoll und lieblich, wie ein Seraph, unter dem wundervollen Goldgelock in die Welt hinein – sollte es der Mutter folgen in die Irrbahnen des Bühnenlebens? Niemals – niemals! – Donna Mercedes schlang die Arme um die Kleine und drückte sie in leidenschaftlicher Zärtlichkeit an sich.... Wie oft hatte Felix „seinen Augentrost“, „sein Prinzeßchen“ zu sich auf das Leidensbett heben lassen und sein blasses, schmerzverzogenes Gesicht tiefathmend in die blonde Haarfluth gedrückt!

„Hüte mir die Kinder, Mercedes, hüte sie!“ hatte er angstvoll immer wieder gebeten. „Ich glaube, ich kann nicht ruhig in der Erde bleiben, wenn sie irre gehen.“

Und mit der letzten Kraft hatte er eigenhändig alle Dispositionen und auch einen letzten Brief voll heißer Bitten an seine Mutter niedergeschrieben. Diese Schriftstücke waren ja in den Händen seiner Schwester; sie waren die Schranke, gegen welche die leichtfertige, pflichtvergessene, in die weite Welt entflohene Frau vergebens anstürmte.

Zu ihrer eigenen Beruhigung griff Donna Mercedes in das untere Schreibtischfach, wo der kleine silberne Rococokasten mit den Documenten stand; sie wußte, daß ein flüchtiger Blick in die Papiere ihr den letzten Rest von Besorgniß verscheuchen mußte – aber das Kästchen war nicht da....

Bestürzt sprang sie auf. Ihr erster schreckensvoller Gedanke, der ihr den Herzschlag stocken machte, war der, daß Lucile einen Raub begangen habe. Die kleine Frau wußte ja, daß der Rococokasten die schriftlichen Vollmachten für ihre Schwägerin enthielt – ohne diese Papiere war sie machtlos, und der Mutter fiel das uneingeschränkte Recht über die Kinder zu.

Mit fliegenden Händen rückte und schob Donna Mercedes an all den Utensilien und Bücherstößen, die den Schreibtisch und seine offenen Fächer füllten – vergebens!

Sie rief nach Deborah, die das Abstäuben des Tisches zu besorgen hatte. Die Schwarze erklärte sofort mit Bestimmtheit, daß das Kästchen bereits seit dem Morgen nach José’s Erkranken fehle. Es sei ihr wohl im ersten Augenblick aufgefallen, allein ihre Dame schließe ja häufig Dinge, die oft wochenlang auf dem Schreibtisch gelegen, wieder weg; zudem sei sie damals vor Jammer über das todkranke Goldkind in ihrem alten Kopf so müde gewesen und habe bis zur Stunde nicht wieder an den kleinen Kasten gedacht.

Also Lucile hatte die Documente nicht mit sich genommen. Nun fing auch Deborah an zu suchen; Hannchen kam aus dem Krankenzimmer, und Mamsell Birkner, die eben eine Assiette voll eingemachter Früchte für die Kinder gebracht hatte, sah mit langem Halse in den Salon und trat über die Schwelle, um zu helfen. Man durchsuchte alle Schubfächer und schob die Möbel geräuschlos von den Wänden; Donna Mercedes durchsuchte selbst die kleinen Lederkoffer, die sie stets in nächster Nähe, unter dem Schreibtisch stehen hatte – Alles vergeblich!

Mamsell Birkner fragte nach der Beschaffenheit des Kästchens, und Deborah versicherte, es sei von „fingerdickem“ Silber, und der Spitzbube, der es habe, könne sich gratuliren.

„Es enthielt unersetzliche Familienpapiere,“ warf Mercedes ein.

„Die Mäuse habe die Papiere geholt,“ sagte Hannchen mit bitterem Lächeln, und ihr Blick irrte mit jenem Ausdruck, den Lucile für notorisch verrückt erklärt hatte, über die holzgeschnitzte Wand. „Die Mäuse im Schillingshof haben ja auch Ohren für die Geheimnisse der Menschen.“

Deborah sah sie scheu von der Seite an, und Mamsell Birkner machte allerlei verlegene und lebhafte Gesten hinter ihrem Rücken – sie fuhr mitleidsvoll mit dem Finger über die Stirn, zum Zeichen, daß das junge Mädchen von einer fixen Idee beherrscht sei. Uebrigens war die gute, dicke Wirthschaftsmamsell ganz trostlos darüber, daß im lieben Schillingshofe einem Gaste „Etwas weggekommen“ sein sollte. Sie hatte nichts Eiligeres zu thun, als die deprimirende Neuigkeit im Souterrain zu verkünden. Da kam sie aber schön an – es gab einen wahren Sturm drunten in der Küche.

„So – es wird ja immer schöner!“ tobte der Bediente Robert. „Jetzt haben wir die pauvere Gesellschaft auch noch bestohlen, diese – daß Ihr’s nur wißt, Theaterleute sind’s – ja, ja, Theaterleute! Hab’ ich’s nicht immer gesagt, daß die blitzenden Steine und all das aufgetakelte Zeug in der Schlafstube Komödienkram ist? Und die zwei Mohrenfratzen! Herr Gott, wenn ich die nur einmal in’s Waschfaß stecken und gründlich abscheuern dürfte! Ich lasse mich gleich hängen, wenn da nicht die allerschönsten weißen Spitzbubengesichter zum Vorschein kommen.“ Er schnitt mit der flachen Hand energisch durch die Luft, als wolle er reinen Tisch machen. „Sie muß aus dem Hause, die Gesellschaft! Es ist eine Schande für den Schillingshof, daß solche Leute hier unterkriechen dürfen.“

Und der ganze Chor stimmte empört ein, während die Wirthschaftsmamsell bitterböse, aber schweigend in ihre Stube ging – sie wußte es ja besser, durfte aber nichts sagen; Baron Schilling hatte ihr unverbrüchliches Schweigen auferlegt.

Inzwischen durchsuchte Donna Mercedes in qualvoller Aufregung Zimmer um Zimmer. Sie hatte den Documentenkasten am Tage vor José’s Erkranken zum letzte Male in der Hand gehabt, alle Papiere herausgenommen und vor Baron Schilling hingebreitet, auch den letzten Willen ihres Bruders und das Schreiben an seine Mutter. Er war versiegelt, aber sie kannte seinen Inhalt genau und hatte ihn fast wörtlich Baron Schilling mitgetheilt. Sie erinnerte sich auch, daß er die köstliche Arbeit und den Silberwerth des kleinen Kastens bewundert und dann gemeinsam mit ihr die Papiere sorglich zusammengefaltet und wieder in den Kasten gelegt. Vor seinen Augen hatte sie den letzteren an seinen Platz in der dunklen Fachecke zurückgestellt – der Baron mußte ihr das bezeugen können. Jene Nachmittagsstunde stand ihr überhaupt noch klar vor Augen; auch der Moment, wo Lucile in ihrer kindischen Gespensterfurcht am hellen Tage geflohen war und sie mit dem Baron allein im Salon gelassen – die Mäuse hatten hinter den Wänden gespukt; die Mäuse schienen eine große Rolle im Schillingshofe und in – den Köpfen zu spielen.

Donna Mercedes blieb mitten im Salon stehen. „Haben Sie die Mäuse auch schon durch dieses Zimmer laufen sehen?“ fragte sie mit dem Ausdruck des Widerwillens Hannchen, die unter der offenen Krankenzimmertür stand.

„Ich höre nur das Knirschen und sehe kleine Staubwölkchen von der Wand fliegen,“ versetzte das Mädchen wie athemlos vor Spannung und mit hochgeröthetem Gesicht; den Arm ausstreckend, zeigte sie auf das Holzschnitzwerk, das sich wie Spitzengeflecht hinter der grünen Ruhebank erhob.

„Das mag bei jeder Erschütterung geschehen, die durch das Haus geht – das Holz ist ja uralt,“ sagte Donna Mercedes. „Bitte, sorgen Sie dafür, daß Fallen aufgestellt werden!“

Die Röthe auf den Wangen des Mädchens erlosch – sie senkte sichtlich enttäuscht den Kopf auf die Brust und ging hinaus.

Und als die Sonne untergegangen war und es kühler zu werden begann, trieb es Donna Mercedes wieder hinaus in’s Freie, in den Garten. Es war ihr, als könne sie nur draußen aufathmen von der unbeschreiblichen Angst und Unruhe, die ihr das Herz zusammenschnürte. Daheim hatte sie sich in solchen Momenten innerer Bedrängniß auf ihr treues Pferd geworfen und da waren sie, Reiterin und Thier, wie zusammengewachsen dahingerast, in die Wildniß hinein, an Schlünden, am jäh abstürzenden Wasserschwall vorüber – und die Brust hatte sich ihr geweitet, und sie hatte Himmel und Erde wieder heller werden sehen unter den Strahlen eigenen, neu hervorbrechenden Jugendmuthes. Hier nun engten Häuser und Mauern den grünen Gartenfleck klösterlich ein; an ein schrankenloses Hinausstürmen in die Weite war nicht zu denken, aber es kam doch harziger Tannenduft von den Berggipfeln herüber; man hörte das Rauschen des kleinen Baches; um die großen Wiesenflächen und die vollen Lindenwipfel schwebte der Hauch der freien Natur weit eher als im Vorgarten, den sie vom Fenster aus wie eine Gefangene überblickte und über dessen Eisengitter so oft neugierige Menschenaugen herüberschaueten.

Der Gärtner hatte im Wintergarten die Glaswände aufgeschoben, und auch der Eingang stand weit offen, damit der köstlich milde Strom der Abendlüfte hindurchziehe. Die Springbrunnen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 500. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_500.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)