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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Zeugungsgeschäft unter dem Schutze der Pilzrasen ausüben. Unsere Fig. 1 giebt in 250,000facher Flächenvergrößerung ein naturgetreues mikroskopisches Bild von dem organischen Treiben, wie es dem Forscher bei derartigen Untersuchungen der Mundflüssigkeit sich erschließt. Wir sehen vor Allem auf der linken Seite des runden Sehfeldes einen Büschel, der wie ausgerissenes farbloses Gras aussieht. Es ist eine Partie der in jedem menschlichen Munde vorkommenden niederen Pflanze, des Mundpilzes, Leptothrix buccalis, dessen feindliche Wirkung für die menschlichen Zähne wir später noch näher kennen lernen werden.

Außerdem entdecken wir in dem gleichen Raume eine Anzahl von kleineren und größeren, theils rundlichen, theils ovalen Gebilden, welche sich, bei dem Einblicke in das Mikroskop mit großer Schnelligkeit vor dem Auge des Beschauers hin- und herbewegen, infusorienartige Geschöpfe, Denticolae oder Zahnthierchen genannt, denen sich eine große Zahl beweglicher Mikrokokken und Bakterien beigesellen.


Fig. 1. Zahnschleim.
(Vergr. 500 = 250,000malige Flächenvergrößerung.)


Weiter wird das Bild von einer andern Gattung von Organismen belebt, den Mundspirillen. Solche haben eine große Aehnlichkeit mit den in dem Aufsatze „Mikrokokken und Bakterien“ („Gartenlaube“ Nr. 4, 1879) erwähnten gefährlichen Spirochäten, die als Krankheitsursache des Rückfalltyphus bezeichnet wurden. Dagegen sind unsere heutigen, spiralförmig sich lebhaft durch das Sehfeld schlängelnden Gebilde äußerst harmlose Geschöpfe, die, ohne Schaden anzurichten, fast in jedem menschlichen Munde angetroffen werden. Die in dem Bilde zerstreut liegenden, verhältnißmäßig großen Kugeln, welche ein bis drei kleinere Kügelchen sowie eine große Menge selbst bei den stärksten Vergrößerungen nur als Punkte erscheinender Körnchen in sich schließen, sind lebende Zellen. Die Pünktchen in denselben befinden sich in einer beständigen kreisenden Bewegung. Wir haben hier ein Gebilde vor uns, welches man früher als ein kugelartiges Infusorium (Volvox) angesehen, auch wohl mit dem Namen Protococcus dentalis oder zu deutsch „Zahnurthierchen“ bezeichnet hat.

Die diesen Mittheilungen zu Grunde liegenden vergleichenden Untersuchungen aber haben ergeben, daß wir es hier nicht mit selbstständigen thierischen Gebilden, sondern mit längst bekannten Bestandtheilen des Mundschleims, den sogenannten Speichelkörperchen des Mundspeichels zu thun haben, welchen bei der vorbereitenden Thätigkeit der Mundflüssigkeit für die Magenverdauung die Aufgabe der chemischen Umwandelung stärkemehlhaltiger Substanzen in Dextrin und Zucker zugewiesen ist. Oftmals platzt während der Beobachtung eine solche Kugel unter dem Sehfelde und ergießt ihren schwirrenden beweglichen Inhalt zwischen die übrigen Gebilde. Es ist wohl denkbar, daß es sich hier ebenso wie bei dem Zusatze der pilzhaltigen Hefe zum Biere um ein belebtes Ferment einen Gährungskörper handelt.

Schließlich haben wir noch der stäbchenförmigen Cylinderchen, zur Gattung der Spaltpilze oder Schizomyceten gehöriger Pflänzchen, sowie der großen unregelmäßig geformten zackigen Figuren unseres Bildes zu gedenken; letztere sind abstoßende Elemente aus der Mundschleimhaut, sogenannte Pflaster-Epithelzellen, Theile des mikroskopischen Parquetbodens, mit welchem die ganze Mundhöhle ausgepflastert ist.

Wenn wir nun bedenken, daß in der Mundhöhle alle zur Bergung der erwähnten Infusorienwelt sich eignenden Ecken und Winkel belebt sind, so können wir uns einen Begriff der Milliarden von Mundbewohnern machen, die jeder Mensch mit sich herumträgt. Daß reinliche Menschen, welche täglich den Mund mit geeigneten Mundwässern oder Zahnpulvern säubern, bedeutend weniger derartiger Gebilde mit sich herumtragen, als unsaubere Individuen, deren Hauch schon die faule Lebewelt verräth, von der ihr Mund jahraus, jahrein bevölkert wird, braucht wohl nicht besonders betont zu werden. Antiseptische, das heißt Fäulnißorganismen vernichtende Medicamente sind demgemäß auch die geeignetsten Zahnreinigungsmittel. Ein gutes Mundwasser zum Ausspülen wird mit der in bedeutender Verdünnung aufzulösenden Salicylsäure dargestellt, und als bestes und einfachstes Zahnpulver haben wir fein pulverisirte Lindenkohle befunden; zum Mundausspülen und Gurgeln allein hat sich das salicysaure Mundwasser trefflich bewährt, während Zahnpulver, welche Salicylsäure enthalten, nicht zu empfehlen sind; deren Gehalt an Salicylsäure verdirbt allmählich den Schmelz der Zähne, die kohlenpulverhaltigen Zahnreinigungsmittel dagegen reinigen nicht nur in mechanischer Weise den Mund, sondern sie entfalten dabei auch eine antiseptische oder fäulnißwidrige Wirkung.

Das organische Leben in der Natur zählt nach vielen Jahrtausenden. Neue Reihen lebender Geschöpfe haben die Thiergattungen untergegangener Welten ersetzt. In den Gebirgsschichten, welche vornehmlich aus Kalkstein und Kreide bestehen, finden sich bekanntlich die merkwürdigsten Versteinerungen größerer Gebilde; nicht minder bekannt ist die Thatsache, daß manche jener Mineralien Millionen von Infusorienformen einer versteinerten mikroskopischen vorsündfluthlichen Lebewelt erkennen lassen.

Durch allmähliche Niederschläge wurden die in den Gewässern lebenden Infusorien mitgerissen und beispielweise zu jener weißen Masse zusammengekittet, welche wir Kreide nennen. Ganz der gleiche Proceß spielt sich täglich im Munde des Menschen ab. Der gelbe Zahnstein, ein Stoff, der fälschlicher Weise „Weinstein“ genannt wird, besteht einzig und allein aus den versteinerten Niederschlägen der den Mund bevölkernden Infusorien und Pilzbildungen. Ein mineralischer Kitt wird nach und nach aus dem Speichel abgesondert, welcher sich unter Mitführung der den Mund belebenden Infusorienwelt an den Winkeln und Ecken der Zähne niederschlägt. Zerdrückt man eine Spur Zahnstein unter dem Mikroskope, so findet man in demselben alle jene Formenelemente, die wir als Bewohner des Mundes zuvor kennen gelernt haben. Nach den Untersuchungen des auf diesem Gebiete verdienstvollen Zahnarztes Schrott in Mühlhausen im Elsaß besteht der Zahnstein aus 60 Procent Infusorialresten, 10 Procent mikroskopischen Pflanzengebilden und 15 Procent der Körperchen, die wir als Bakterien und Mikrokokken bezeichnet haben, außerdem aus 10 Procent Speiseresten und Zellen der Mundschleimhaut, sowie aus 5 Procent der in dem Speichel löslichen Salze, welche den erwähnen Kitt für die versteinerten Gebilde abgeben. Besonders an den Sammelplätzen der Infusorien verbinden sich deren kalkhaltige Ueberreste mit der Mundfeuchtigkeit und den Speichelausscheidungen zur Bildung des Zahnsteins. Man hat berechnet, daß zur Erzeugung eines Stückchens Zahnstein von der Größe eines Kubikmillimeters (Stecknadelkopfgröße) 10 bis 11 Millionen Zahnthierchen und Zahnpflänzchen nöthig sind. Das Ausfallen der Zähne wird vielfach durch diesen Zahnstein veranlaßt, welcher das Zahnfleisch allmählich bis auf die Zahnwurzel auflockert und herabdrückt. Rechtzeitiges mechanisches Entfernen der Concremente ist daher für die Erhaltung der Zähne ein dringendes Bedürfniß.

Alle erwähnten kleinen Geschöpfe sind, solange noch an den Organen des Mundes, vornehmlich an den Zähnen, kein Defect entstanden ist, abgesehen von ihrer Unappetitlichkeit, dem menschlichen Organismus in den meisten Fällen unschädlich. Ist aber an dem Schmelz eines Zahnes durch irgend einen unglücklichen Zufall, etwa durch ein in den Mund gelangtes Sandkorn, ein Riß oder ein Sprüngchen entstanden, so beginnen sofort die Mundpilze ihr Zerstörungswerk. Sie setzen sich in den feinen Spalt des Zahnschmelzes in Form punktförmiger Kügelchen fest

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 506. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_506.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)